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»Margot Vogl. Heidi Führmann. Hannelore Führmann. Und Elisabeth Führmann«, schallte eine tiefe Männerstimme durch den Raum. »Bitte kommen Sie mit.« Er verwies die Frauen an einen weiteren Mann und fuhr damit fort, weitere Namen aus einer Liste vorzulesen, die er anschließend einem anderen Kollegen zuwies.

Die Frauen ergriffen ihr weniges Hab und Gut und folgten dem Mann ins Freie.

»Sie kommen auf dem Bauernhof der Familie Artinger unter. Sie können dort wohnen, bekommen Essen, müssen aber auf dem Hof mithelfen«, erklärte er, und sein Schnurrbart tanzte dabei auf seiner Oberlippe, als er die Frauen durch das Dorf führte, in das sie letzten Endes mit einigen weiteren Familien nach einem langen, abschließenden Fußmarsch vom weiter entfernten Bahnhof gelandet waren.

Ihre Klamotten fühlten sich klamm an. Der Winter hatte sich bis auf ihre Haut gefressen. Wie sehr sehnten sie sich nach einem warmen Ort, trockener Kleidung, nach einer warmen Suppe und so etwas wie Sicherheit. Doch alles um sie herum war beängstigend. Der bayerische Dialekt machte ihnen zu schaffen. Sie verstanden nur die Hälfte des Gesagten, wenn überhaupt. Es klang wie ein undeutliches Nuscheln und Gebelle.

Am Hoftor empfing sie eine kleine, verhärmte Gestalt, die sich knapp als Josefa, Magd des Hofes, vorstellte und dann mit eiligen kleinen Schritten vor den Frauen über den Hof tippelte, eine Außentreppe nach oben stieg, dort eine kleine Tür aufstieß und nach innen zeigte. »Dieses Zimmer können Sie haben. Waschzuber und so weiter steht unten im Stall. Stellen Sie Ihre Sachen ab und kommen Sie runter in die Stube. Die Hofbesitzer wollen Sie kurz kennenlernen.«

Und dann drückte sie sich an den Frauen, die scheu und überfordert auf der Treppe stehengeblieben waren, vorbei und tippelte die Stufen wieder nach unten. Dann war sie verschwunden.

Hannelore steckte als Erstes den Kopf in das kleine Zimmer. Es war eng, durch ein kleines Fenster fiel nur spärlich Licht hinein. Doch es standen tatsächlich kleine Betten darin. Und darauf, Hannelore konnte ihr Glück kaum fassen, lagen dicke Bettdecken, die endlich etwas Wärme für die anstehende Nacht versprachen.

Weder Hannelore noch ihre Mutter oder Tante hatten jemals zuvor auf einem Hof gearbeitet. Die schwere körperliche Arbeit machte ihnen besonders in den ersten Tagen zu schaffen.

Während die kleine Elisabeth bei den Kindern der Artingers gut aufgehoben war, malochten die Frauen im Stall, schleppten Holz für das Kaminfeuer oder nähten, stickten und stopften Kleidung und Decken. Immerhin konnten sie Letzteres im Warmen ausführen.

Viele der Tätigkeiten musste Hannelore erst lernen, noch nie hatte sie nähen oder sticken müssen, all das hatte zu Hause ihre Mutter übernommen, während sie jeden Tag mit dem Vater zur Arbeit aufgebrochen war.

Die Artingers schienen zunächst wenig begeistert davon, Flüchtlinge auf ihrem Hof aufzunehmen, doch als sie sahen, dass die Frauen bereit waren anzupacken, änderte sich langsam ihre Haltung und hin und wieder wurde auch ein persönliches Wort gewechselt.

Die Angst, die Hannelore vor allem in den ersten Tagen und Wochen jede einzelne Sekunde begleitet hatte, verglimmte nun langsam. Doch der Verlust ihres Zuhauses, ihrer Heimat, brannte in ihr weiter wie Feuer.

Sie lebten wie in einer Blase.

Schlafen, arbeiten.

Schlafen, arbeiten.

Schlafen, arbeiten.

Tag für Tag.

Bis zu jenem Tag, der die neugewonnene Sicherheit erneut gefährlich ins Wanken brachte.

•••

In der einsetzenden Dämmerung näherte sich eine zierliche Gestalt schnellen Schrittes den langen Weg hinab zum Hoftor. Die Hand war schützend über die Augen gelegt, Februarschneeflocken zeigten noch einmal ihr ganzes Repertoire.

Hannelore unterbrach ihr Tun, kniff die Augen zusammen und versuchte, den späten Besuch zu erkennen. Sie stand allein im Hof, suchte nun Schutz an der Mauer und spähte weiter in die Dämmerung.

Das spärliche Hoflicht flackerte im Wind. Als die Gestalt schließlich das Hoftor öffnete, flink hindurchschlüpfte, sich kurz umsah und dann zielsicher auf Hannelore zueilte, hatte Hannelore das Gefühl, alles um sie herum beginne sich zu drehen.

Ilse zitterte am ganzen Körper, als sie sich neben Hannelore an die Mauer drückte, die sie trotzdem nicht vor der Kälte schützte. Ohne nachzudenken griff Hannelore nach Ilses Hand und zog sie mit sich Richtung Stall, in dem sich um diese Zeit keine Menschenseele mehr aufhielt. Die Arbeit war verrichtet, das Leben spielte sich um diese Zeit im Haus ab.

Ilses blonde Locken waren übersät mit Schneeflocken, Nase und Wangen von der Kälte gerötet. Ihre Stimme zitterte, als sie zu sprechen begann. Sie wirkte völlig nervös und es war ein leichtes, Hannelore damit anzustecken. »Als ich gehört habe, dass ihr hier auf diesem Hof untergekommen seid, bin ich sofort losgelaufen.«

»Du bist ja völlig durchgefroren! Wie lange bist du denn unterwegs gewesen?«

»Wir sind zwei Dörfer weiter auf einem Hof. Alles gut, ich taue schon wieder auf«, lächelte Ilse. »Das war es mir wert. Ich habe es nicht ausgehalten und konnte nicht länger warten. Geht es euch gut?«

Hannelore nickte und konnte Ilses Blick kaum standhalten. Sie hatte sie eiskalt erwischt. Wie oft hatte sie sich in letzter Zeit dabei ertappt, an Ilse zu denken, und wie oft hatte sie es sich selbst verboten.

Es verzweifelt versucht.

»Tut mir leid, wenn ich hier einfach so auftauche, ich scheine dich ganz schön überrascht zu haben.«

Hannelore versuchte abzuwehren, doch ihre Stimme klang dünn. »Ich habe nicht damit gerechnet, dich so schnell wiederzusehen.«

»Ich musste mich auch eine Weile durchfragen, bis ich herausgefunden habe, wo ihr untergekommen seid. Das war gar nicht so einfach. Ich kenne ja nur deinen Vornamen.«

»Du hast also wirklich nach mir gesucht?«

»Ich musste dich wiedersehen.« Nun war es Ilses Stimme, die zerbrechlich klang, aber ihr Blick, mit dem sie Hannelore festhielt, blieb fest.

Und dann wurde ihr Körper von heißen Wogen durchströmt. Ilses Lippen auf ihren, warmer Atem, der ihr Gesicht streichelte, und ihre Körper, die sich in eine innige Umarmung zogen, ließen Hannelore taumeln.

Sanft drückte Ilse sie gegen die Holzwand, ihren Körper noch enger an ihren, fordernde Küsse, die kaum Luft zum Atmen ließen.

Minuten fühlten sich wie Sekunden an.

Erst ein lautes Knarren im Hof ließ die beiden Frauen auseinanderfahren.

Eilig fischte Ilse in ihrem Mantel nach einem Stück Papier, das sie flink in Hannelores Manteltasche verschwinden ließ. »Lass mich nicht zu lange warten«, raunte sie Hannelore ins Ohr, und sofort stieg erneut Hitze in Hannelore auf.

Im Schutze der Nacht und auf leisen Sohlen verschwand Ilse kurz darauf, ohne dass Hannelore sie davon abhalten hätte können.

Wie ein schwarzer Panther entschwand sie in der Dunkelheit.

•••

Greta drehte das kleine Stück Papier vorsichtig zwischen ihren Fingern.

Auerhof

Von da aus Richtung Süden

Alte Scheune

Sonntagabend

Ich warte auf dich

Auerhof. Auerhof?

Greta dachte angestrengt nach. Der Name sagte ihr irgendetwas, doch es mochte ihr nicht einfallen. Wie sie ihre Gedanken auch drehte und wendete, sich zu fokussieren versuchte, sie kam allein nicht weiter.

Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, wählte sie die Nummer ihrer Eltern.

Nach langem Läuten hätte sie beinahe schon aufgelegt, als sich doch noch zur Gretas Freude die sonore Stimme ihres Vaters meldete.

Telefonate mit ihrem Vater waren immer sehr unaufgeregt. Meist sehr kurz, die wichtigsten Informationen wurden ausgetauscht, und sobald man sich gegenseitig versichert hatte, dass es dem jeweils anderen gutginge, legte man mit gutem Gewissen wieder auf.

Doch ehe ihr Vater auch heute ihrer eingeschliffenen Tradition nachgehen konnte, schob Greta flink ihr eigentliches Anliegen ein. »Sagt dir ein Auerhof etwas?«, fragte sie mit bemüht ruhiger Stimme. Innerlich kämpfte sie mit ihrer Unruhe, die sie niederzuringen versuchte.

Kurzes Schweigen. Ein kurzes Schnaufen. »Willst du nicht lieber deine Mutter fragen?«

»Ich glaube, dass das momentan keine gute Idee ist, Papa. Weißt du nicht irgendetwas.«

Greta merkte, wie ihr Vater zu zögern schien. »Das ist der alte Hof drüben in Pfingstin. Aber da kümmert sich keiner mehr darum. Ist den Nachkommen wohl nicht fein genug.«

Ihr Vater fragte nicht nach, warum Greta sich für diesen Hof interessierte. So war er. Sie würde schon ihre Gründe haben, warum sie das wissen wollte. Er war nur da, um Antworten zu geben.

»Weißt du mehr über den Hof?«

»Nur, dass er momentan leersteht. Sprich mit deiner Mutter, wenn du uns das nächste Mal besuchst. Ich kann dir nicht mehr dazu sagen. Vielleicht weiß sie mehr.«

»Danke«, erwiderte Greta. In ihr widerstrebte sich alles, im Moment mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Schließlich hatte es etwas mit ihrer Großmutter zu tun, und das schien ein rotes Tuch für ihre Mutter zu sein. Greta wollte sich nicht erneut auf Diskussionen oder Predigten einlassen.

Pfingstin also. Nach ihrem Laptop fischend spann sie bereits Pläne für den vor ihr liegenden Sonntagnachmittag. Schädelbrummen hin oder her. Was soll’s?

Zwei Stunden später stand Greta, mehr oder weniger aufgeräumt, tatsächlich vor einer alten, halb verfallenen Scheune südlich des Hofes.

Dachschindeln hatten sich gelöst und lagen nun verstreut um die Scheune, deren Holzverkleidung auch bessere Tage gesehen haben musste.

Unschlüssig betrachtete Greta das marode Bild vor sich. In sicherem Abstand, man wusste ja nie, ob ein weiteres Geschenk vom Dach rasseln würde, schritt Greta durch das hohe Gras schließlich um die Scheune herum. Durch die großen Spalten der Holzverkleidung sah sie, dass die Scheune nichts mehr beherbergte außer vielleicht das ein oder andere Tier, das hier Unterschlupf suchte und dem Greta nicht unbedingt begegnen wollte.

Angestrengt sah sie sich um. Suchend, obwohl sie nicht wusste, wonach sie Ausschau hielt.

Was hatte sie auch gehofft zu finden?

Die Sonne brannte vom Himmel, was ihren Kopfschmerzen nicht gerade zuträglich war. Greta wischte sich den Schweiß von der Stirn und stemmte die Hände in die Hüften.

Sie hätte jetzt genauso gut im Liegestuhl im Hof liegen können, im Schatten.

Hinter der Scheune stand ein prächtiger Kastanienbaum, der zumindest etwas Schatten spendete. Greta flüchtete sich eilig in die kleine Oase.

Wer wohl hier gelebt haben mochte? Und was hatte Großmutter damit zu tun? grübelte Greta.

Die Scheune allein schien keine großen Erkenntnisse mit sich zu bringen, also entschloss Greta sich, noch einmal zum Hof zurückzugehen und sich dort ein wenig genauer umzusehen.

So schnell es ihr bei der Hitze möglich war, marschierte sie den Kiesweg entlang einen kleinen Hügel hoch, bis der Hof erneut vor ihr auftauchte.

Wäre nicht helllichter Tag, ihr wäre wohl unwohl gewesen, so allein und verlassen wie das alte Bauernhaus unweit des nächsten Dorfes vor ihr lag.

Langsam fragte sie sich ernsthaft, was sie hier eigentlich zu finden glaubte. Alle Türen und Fenster waren verriegelt, der Garten um das Haus herum wucherte, wie es ihm gefiel, und das Namensschild an der Haustür hing verrostet auf halbmast.

Greta spähte durch ein Fenster ins Innere. Wie ein Stillleben lag das Esszimmer vor ihr, aufgeräumt, als hätte kurz zuvor jemand den Tisch abgeräumt. Nur eine dicke Staubschicht konservierte den Inhalt des Hauses. An der Wand erblickte Greta alte Fotografien, doch sie waren viel zu weit weg, um irgendetwas zu erkennen.

Mist.

Das war doch alles vergebene Mühe.

Zumindest für heute wurde sie aus all dem hier nicht schlauer.

Resigniert gab Greta auf, wischte sich die Hände, mit denen sie sich eben noch auf der verschmutzten Fensterbank abgestützt hatte, an der Hose ab und trat den Rückzug an.

Die Heimat in uns

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