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Breslau, 30. Dezember 1944

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Gustav hatte die wenigen Habseligkeiten der Frauen auf seinen alten Karren gepackt, dem die Frauen nun schweigend hinterhereilten. Keine von ihnen wagte einen letzten Blick zurück. Zu schmerzhaft wäre der Blick auf ihr verlorenes Zuhause gewesen. Ein Blick zurück hätte sie vielleicht doch noch einmal zweifeln lassen.

Ihnen hatten sich zwei weitere Familien angeschlossen, die nun mit Gustavs Hilfe den Abschiedsmarsch zum nächsten Bahnhof antraten, von wo aus sie ein Zug über Prag ins sichere, aber unbekannte Bayern bringen sollte.

Die Angst war übermächtig, doch sie hatten keine andere Wahl. Sie glaubten Gustav, der in der Stadt gut vernetzt war, dass dies eine der letzten wenigen Chancen war, sich in Sicherheit zu bringen.

Während sie ihr Zuhause und die so vertraute Umgebung verließen, erstickte Angst und Kummer jegliches Wort. Nur das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen und das Quietschen der Wagenräder durchbrachen die Stille.

Trauermusik.

Erst als sie völlig erschöpft nach stundenlangem Marsch durch die Eiseskälte den rettenden Bahnsteig erreichten, wagte Hannelore, sich das erste Mal umzublicken. Elisabeth hatte sie dick eingewickelt eng an sich gedrückt, damit sie nicht fror.

Der Wind heulte über den Bahnsteig, auf dem sich vermummte Gestalten gegen das dichte Schneetreiben zu schützen versuchten. Gesichter waren kaum zu erkennen. Die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Mantelkrägen nach oben geschlagen.

In den vergangenen Stunden hatte sie lediglich funktioniert. Wie eine Maschine war sie stur nach vorn geschritten, hatte weder nach links noch rechts geblickt, und schon gar nicht hatte sie den anderen Menschen, die sich ihrem kleinen Tross angeschlossen hatten, Aufmerksamkeit geschenkt. Nur das Ziel zählte.

Sie wollte nicht daran denken, was sie zurückließ. Sie wollte nicht den kleinsten Gedanken daran verschwenden, dass sie ihre Heimat, so wie sie sie kannte, womöglich nie wiedersehen würde. Ihre einzigen Gedanken galten dem kleinen Geschöpf auf ihrem Arm, das es zu beschützen galt.

Nein, Hannelore hatte sich kein einziges Mal umgesehen.

Bis jetzt.

Die Gruppe, die sich ihrem Tross angeschlossen hatte, stand dichtgedrängt zusammen. Sie verschwammen zu einem schneebedeckten, zitternden Häufchen.

Doch plötzlich löste sich aus dem Gedränge eine kleine, zierliche Gestalt. Wirre blonde Locken umspielten das zarte, von der Kälte gerötete Gesicht.

Die Stimmen der Wartenden um Hannelore herum verschwammen. Und mit einem Mal war es still. Nur ihr wummernder Herzschlag pulsierte in ihren Ohren.

Genau wie damals.

Damals, als sie diese gleichzeitig zarte und wilde Frau auf einer Feier eines ehemaligen Schulkameraden das erste Mal gesehen hatte, wie sie auf den Holztreppen im Treppenhaus sitzend lässig an ihrer Zigarette gezogen und den Rauch in die flackernde Dämmerung geblasen hatte, während im Stockwerk über ihr hitzige Tanzmusik nach draußen dröhnte.

Damals, als sich ihr Herzschlag in einem Sekundenbruchteil mit dem Wummern der Musik vereint und sie dieses Gefühl, das sie noch nie zuvor verspürt hatte, verwirrt in die tanzende Menge getrieben hatte.

Die tanzende, aufgeheizte Menge hatte sie verschlungen. Aufforderungen zum Tanz ließ sie links liegen, klammerte sich an das Glas, das ihr ein attraktiver junger Mann in die Hand gedrückt hatte, während ihr Blick an der Eingangstür verweilte, durch die die schöne Unbekannte nun das Geschehen betrat.

Sie erweckte den Eindruck, zugleich unerreichbar und doch erreichbar zu sein. Die jungen Männer bedachte sie mit einem bezaubernden Lächeln, doch ihre Avancen, die ihr von allen Seiten zuteil wurden, erwiderte sie nicht weiter.

Dennoch schien sie die Aufmerksamkeit zu lieben, ließ sich geradezu von ihr tragen und lachte dabei das schönste Lachen, das Hannelore jemals zuvor gesehen hatte.

Sie konnte ihren Blick nicht von dieser wunderschönen Frau abwenden.

Und dann, als sich ihre Blicke trafen und verweilten, verlor Hannelore jegliches Gefühl für Zeit und Raum.

Wie dieser Abend hätte verlaufen können, diese Frage hatte sie sich nicht nur einmal gestellt. Denn in jenem Moment, übermannt von einem Rausch an Gefühlen, der ihr vor allem Angst einflößte, hatte sie in Windeseile und kopflos den Ort des Geschehens verlassen und war allein in die laue Sommernacht verschwunden.

Weg von ihr.

Doch sie hatte sie eingeholt.

Die Heimat in uns

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