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Breslau, 1. Weihnachtsfeiertag 1944

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Hannelore hatte das Gefühl, als tauchte sich der Himmel in ein immer tieferes, dunkleres Grau. Die Wolken bäumten sich bedrohlich über ihnen auf und schienen die Stadt zu verschlingen. Es war bitterkalt geworden in den letzten Tagen. Der Schnee türmte sich mittlerweile meterhoch in den Straßen der Stadt.

Mit den letzten Resten Kohle und Holz, deren Vorrat erschreckend schnell zu Ende ging, konnten sie wenigstens noch den kleinen Kachelofen im Wohnzimmer heizen, um den sich nun alle in dicke Decken gehüllt drängten.

Tante Margot, die sonst so lebensfrohe und quirlige Schwester ihrer Mutter, saß zusammengekauert in der Ecke und sah Hannelores Mutter mit großen, angsterfüllten Augen an, während sie leise, sodass sie auch ja niemand außerhalb der Wohnungsmauern hören konnte, murmelte: »Angeblich stehen die russischen Truppen nicht einmal mehr zweihundert Kilometer vor Opeln. Der Gustav hat es mir gestern gesagt, und der wiederum hat es bereits von vielen seiner Kollegen gehört.«

Hannelore hörte ihrer Tante leise zu. Sie war in den letzten Tagen oft selbst durch die Stadt gelaufen, hatte überall die Ohren gespitzt, hatte jeden noch so kleinen Informationsfetzen aufgesaugt. Die Wehrmachtsberichte und Durchhalteparolen in den Zeitungen sagten ihnen nicht die Wahrheit, da war sie sich sicher. Die Wahrheit lag irgendwo zwischen den Gerüchten, die unter vorgehaltener Hand ausgetauscht wurden und die langsam wie ein dichtes Spinnennetz die Stadt überzogen.

Hannelore hatte auch gehört, dass man vor wenigen Tagen der Abschreckung wegen einen Mann erschossen hatte, weil er Gerüchte in der Stadt verbreitet hatte. Vor aller Öffentlichkeit, vor Frauen und Kindern.

Kaum einer wagte es mehr, öffentlich den Mund aufzumachen, doch hinter vorgehaltener Hand, in versteckten Ecken und Verschlagen, in Hausfluren und Hinterhöfen, bahnten sich die Geschichten doch ihren Weg, weil sie die Menschen innerlich zu zerfressen drohten.

Unterhielt man sich auf offener Straße für alle mithörbar, so beschränkten sich die Gespräche auf das Wetter oder darüber, was man aus den letzten Vorräten noch kochen könnte. Ahnungslosigkeit heucheln, als würde man sich für dumm verkaufen lassen.

Vor dem Fenster zogen immer wieder Flüchtlinge mit ihren vollbeladenen Bauernwagen vorbei. Angeblich kamen sie aus der Gegend östlich von Ratibor. So sprach es sich zumindest herum.

»Gustav meinte, wir sollen uns möglichst bald überlegen, wohin wir gehen wollen«, flüsterte Tante Margot eindringlich weiter. »Er sagt, wir sind hier nicht mehr lange sicher.«

Hannelores Mutter sah erschrocken auf. »Wohin sollen wir denn gehen? Überall herrscht Krieg.« Sie drückte die kleine Elisabeth noch enger an sich. Das kaum ein paar Monate alte Kind wusste noch gar nicht, in welch schreckliche Welt es geboren worden war und welch schreckliches Schicksal es bereits auf seinen kleinen Schultern trug. »Das hier ist doch alles, was wir haben! Das ist unser Zuhause!«

Elisabeth war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Immer wenn Hannelore in das Gesicht ihrer Tochter sah, wurde sie schmerzlich daran erinnert, dass Elisabeth ihren Vater wahrscheinlich nie kennenlernen würde. Sie würde ohne Vater aufwachsen müssen.

Als sie die Nachricht erhalten hatte, dass Ernst vermisst werde, hatte sie fast ein Jahr lang inständig gehofft, doch noch Nachricht von ihm zu bekommen. Doch alles blieb still, und die Hoffnung, ihn noch einmal zu sehen, starb jeden Tag ein Stück mehr.

Sie hatten nur noch sich. Drei Frauen und ein unschuldiges kleines Kind blickten dem Schrecken vor ihren Fenstern angstvoll entgegen und wussten, dass sie nun noch enger zusammenrücken mussten.

Die Heimat in uns

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