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Greta stand vor einer großen Pinnwand, die sie tags zuvor unter Aufbringung aller Kraft, unzähligen Schweißtropfen und ihrem gesamten Fluchrepertoire vom Baumarkt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln irgendwie nach Hause geschleppt hatte und die nun provisorisch an der leeren Wand lehnte.

So wie alles in diesem Zimmer irgendwie provisorisch war. Zweckmäßig, aber wenig liebevoll. Äußerst karg und für manchen wohl bedrückend. Der Raum strahlte bisher alles andere als Gemütlichkeit aus, Greta hatte auch wenig dazu beigetragen, ihn in eine bessere Version zu verwandeln. Bisher war sie der Meinung, dass der Aufwand sich für ein Jahr Bleibe wenig lohnen würde.

Bis dato hatte Greta dieses karge Leben nichts ausgemacht, doch als sie im Baumarkt durch die Gänge und Flure getigert war, wurde sie von einer gestalterischen Euphorie gepackt, sodass ihr Rucksack bald das Gewicht dreier Bowlingkugeln aufwies und sie zu einem äußerst aufrechten Gang verdonnert wurde.

Schweißnass von oben bis unten, aber irgendwie glücklich und zurecht stolz, hatte sie ihre Errungenschaften schließlich nach Hause gebracht, ohne wie zunächst befürchtet, im letzten Bus vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Wobei der Bus so heillos überfüllt war, dass das Zusammenbrechen in stehender Form vollzogen worden wäre. Grandiose Haltungsnoten wären ihr garantiert gewesen.

Während sie das Streichen der Wände zunächst noch etwas beiseiteschob, machte sie sich daran, die bisherigen Schätze aus Großmutters Koffer feinsäuberlich und geordnet an der Pinnwand anzubringen. Angefangen von dem kleinen Zettel mit dem Verweis auf den Auerhof, über alte Essensmarken bis hin zu einem Bild eines kleinen Mädchens, auf dessen Rückseite mit schöner Handschrift der Name ihrer Mutter geschrieben war.

Neben diesem Bild fand ein weiteres seinen Platz, das ihre Großmutter sowie zwei ältere Damen, ihre Urgroßmutter und deren Schwester, wie Greta herausgefunden hatte, mit Elisabeth auf dem Arm auf dem Feld neben zwei Kühen zeigte. Seltene Zeugnisse aus dem ersten Nachkriegsjahr. Wie schön, dass ihre Großmutter sie aufbewahrt hatte.

Hannelore hatte wahrlich nichts dem Zufall überlassen. Alle Dokumente und Gegenstände des Koffers hatte sie doch tatsächlich mit kleinen Aufklebern und Zahlen versehen und sie so in eine ganz bestimmte Reihenfolge gebracht. Rätsellösen nach Zahlen sozusagen.

Nicht nur einmal hatte Greta das Bedürfnis gehabt, alles wahllos durchzublättern, um so vielleicht schneller ans Ziel oder eine bestimmte Erkenntnis zu gelangen, wer hätte sie schon daran hindern sollen? Aber dann besann sie sich stets schnell wieder.

Wenn ihre Großmutter sich so viel Mühe damit gegeben hatte, musste diese Reihenfolge irgendeinen Zweck erfüllen, und so hieß es für Greta, sich am Riemen zu reißen und dieser Art ›Schnitzeljagd‹ zu folgen. Leider war Geduld nicht ihre allergrößte Stärke, aber vielleicht war auch das eine Lektion ihrer Großmutter. So genau wusste man bei ihr nie.

Das Schellen der Türklingel unterbrach Gretas Handeln, als sie gerade nach dem Tagebuch greifen wollte, welches das nächste Puzzleteil sein sollte. Greta hielt kurz inne, überlegte, ob sie die Klingel nicht einfach ignorieren konnte, doch als es zum zweiten Mal schellte, legte sie das Buch doch zur Seite.

Mit einer federleichten Abgründigkeit in ihrem Blick stand sie wenig später vor ihr. Die Augen klein, müde und unausgeschlafen wirkend, melancholiegetränkt, versuchte sie ein Lächeln, das nicht einmal beim größten Optimisten unserer Zeit gewonnen hätte.

Kurz gesagt, ein Häufchen Elend hatte sich vor Gretas Tür in Stellung gebracht und hielt ihr nun eine weiße Papiertüte entgegen. »Deine Lieblingsdonuts.«

»Ist das so etwas wie ein geheimer Eintrittscode?«, versuchte Greta scherzend die angespannte Stimmung zwischen ihnen zu lösen.

Seit neulich Abend hatten sie weder voneinander gehört noch gelesen. Geschweige denn sich gesehen. Greta war in ihrem Biberbau untergetaucht, und Klara hatte nach ihrem wütenden Abgang auf Funkstille gesetzt.

Bis jetzt.

»Ich würde dich ja reinbitten, aber bei mir ist das absolute Chaos ausgebrochen.«

Klara beugte sich nach vorn, um einen Blick in das Innere der Höhle zu erhaschen. Und dann ruhte ihr Blick etwas länger auf dem Koffer und dem ausgebreiteten Inhalt, als Greta lieb war. »Was genau machst du denn da?«

Schnell schob Greta sich zwischen Klara und dem Objekt ihrer Neugierde. »Ich sortiere nur Großmutters alte Sachen. Du, wollen wir nicht nach draußen ans Wasser? Ich habe genug von stickigen Räumen. Ich könnte etwas frische Luft vertragen.«

Klara bedachte Greta mit einem skeptischen Blick, ließ aber zum Glück von weiteren Fragen ab und zuckte nur mit den Schultern. »Wie du willst. Mein Wagen steht vor der Tür, lass uns an den See fahren.«

Während die Sonnenstrahlen auf dem Wasser glitzerten, auf dem Enten, groß und klein, in Reih und Glied ihre Bahnen zogen, saßen sie beide nebeneinander auf der Decke, die Münder voll mit herrlich fettigem Teig der Donuts, die nackten Füße ausgestreckt, während auf der anderen Seite des Sees Kinderlachen zu ihnen herüberschallte.

Das Wetter, das Vogelgezwitscher, der Duft von Sonnencreme in der Luft suggerierten Leichtigkeit. Nur um sie beide, vielleicht in einem Kasten, der über sie gestülpt worden war und unter dem sie nun saßen wie in einem Vakuum, lagerte Schwere.

Ganz so, als gehörten sie hier nicht her. Als würden sie der Unbeschwertheit des Spätsommertages schaden, an ihm kratzen und in einzelne Fetzen zerlegen. Ein Störfaktor in der Idylle.

»Was ist letztes Mal denn in dich gefahren?«, schoss es schließlich scharf und ohne Wattebauschverpackung aus Greta heraus.

Das Gewabere und Balancieren auf dem heißen Brei gehörte nicht zu ihren Kernkompetenzen. Direkt raus, Problem benennen, Problem erörtern, eine Lösung finden. Sie wusste selbst, wie hart sie in diesem Moment klang. Aber mussten sie noch Stunden hier sitzen, angespannt, dass die Nackenmuskeln langsam verrücktspielten, nur um ja nichts Falsches zu sagen? Die Stimmung war ohnehin schon beschissen genug.

Gretas Worte schienen Klara wie die flache Hand zu treffen. Sie schreckte aus ihrer Starre auf, ließ die Hand mit dem Donut sinken. »Ich bin nicht wie du. Hier ein bisschen Spaß, da ein bisschen Spaß. Nur nichts Festes, nur an nichts binden, lieber schnell weiterziehen, bevor es zu eng werden kann. So bin ich nicht.«

»Das habe ich dir doch auch nie unterstellt«, konterte Greta, und sie merkte den Groll in ihr aufsteigen. »Nichts davon habe ich dir angedichtet.«

»Doch, irgendwie schon. Ich bin niemand, der einfach irgendeine Frau für eine Nacht mit nach Hause nimmt. War ich noch nie und im Moment erst recht nicht.«

»Ich wollte einfach nur, dass du Spaß hast und es dir gutgeht. Du hast doch einen tollen Abend mit Anna verbracht. Aber offensichtlich ist es ein Verbrechen, unverbindlichen Spaß zu haben.«

Mit einem Ruck drehte sich Klara auf der Decke zu Greta, um ihr nun direkt in die Augen sehen zu können. »Wenn du mit so etwas glücklich bist, okay, aber mir reicht so etwas nicht.«

»Und das ist doch völlig okay. Wir müssen nicht einer Meinung darüber sein. Jeder definiert sein Glück anders. Warum müssen wir deswegen streiten?«

»Was genau ist so schlimm daran, die eine Frau finden zu wollen, die nicht nur für kurze Zeit eine Rolle in deinem Leben spielt?« Klara wurde immer aufgebrachter, als mussten nun all die schlechten Gedanken, die sich seit neulich Abend angestaut hatten, heraus.

»Gar nichts. Natürlich nicht. So etwas habe ich aber auch nie behauptet. Leg mir nicht einfach Wörter in den Mund, die ich so nie gesagt habe.«

»Aber für dich scheint es trotzdem so zu sein. Du scheinst ja förmlich Panik vor engeren Bindungen und zu viel Nähe zu haben.«

»Klara, hör auf. So gut kennst du mich nun auch nicht. Klar, du weißt, dass ich durch die Welt getingelt bin, dass ich gern weiterziehe und ja, auch gern meinen Spaß habe. Dass mir das Leben hier irgendwann zu eng geworden ist, weil das nun einmal zu diesem Zeitpunkt so war. Aber mir Panik vor Beziehungen zu unterstellen, ist unfair.«

»Ach ja? Klar, wir kennen uns noch nicht so lange. Du bist bald nach unserem Kennenlernen in den nächsten Flieger gestiegen. Aber in all der Zeit haben wir dennoch über so vieles gesprochen, du hast mir vieles erzählt. Wir haben beinahe täglich voneinander gehört.«

»Das heißt noch lange nicht, dass du wirklich weißt, was in mir vorgeht. Und warum würde es dich eigentlich so stören, wenn ich lieber ungebunden sein möchte?« Ein dicker Kloß bildete sich in Gretas Hals, der ihre Stimme belegt klingen ließ, als sie sprach. Sie dachte an Katherine und schob die Gedanken sogleich vehement von sich, wie eine große, meterhohe schwere Bleikugel.

Und plötzlich Stille.

Gretas Frage hatte Klara mit einem Mal verstummen lassen.

Ihre Wangen gerötet saß sie nun wieder starr neben Greta und blickte aufs Wasser. »Ja, vielleicht weiß ich wirklich kaum etwas von dir«, sagte sie dann leise, ohne den Blick noch einmal zu wenden.

»Klara, ich . . .«, versuchte Greta eine Antwort, doch Klara unterbrach sie umgehend.

»Du bist mir auch gar keine Rechenschaft schuldig. Ich war einfach wütend an dem Abend und auch heute, wenn ich darüber spreche, aber du kennst ja jetzt meinen Standpunkt, und damit ist alles gesagt.«

»Ich wollte dir sicher nichts unterstellen oder dich verletzten. Du bist mir wirklich wichtig geworden, auch aus der Ferne. Auch wenn Tausende Kilometer zwischen uns lagen. Aber natürlich lernt man die andere erst besser kennen, wenn man auch wirklich Zeit mit ihr verbringen kann. Denkst du nicht? Vielleicht müssen wir uns erst an die Nähe gewöhnen«, versuchte Greta ein Lächeln, um die Spannung zwischen ihnen zu mildern.

Sie wollte nicht mit Klara streiten. Es gab doch eigentlich keinen Grund dafür.

»Ja, vielleicht. Vielleicht müssen wir das. Keine Ahnung«, erwiderte Klara und schob sich irgendwie trotzig das letzte große Stück Donut in den Mund. »Vielleicht musst du meine Nähe erst einmal aushalten«, schmatzte sie dann weiter und zerknüllte die Tüte zu einem kleinen Ball.

»Ich bin mir sicher, dass ich das schaffe, und wenn ich das bei jemandem möchte, dann sicherlich und absolut bei dir«, lächelte Greta nun ehrlich und knuffte Klara in die Schulter. »Und jetzt lass uns den Sommerabend genießen, wie er genossen werden sollte. In himmlischem Frieden, zuckergesättigt und mit Grillduft in der Nase.«

Die Heimat in uns

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