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»Was liest du denn da?« Klara lies sich mit hochrotem Kopf auf den Stuhl gegenüber von Greta fallen.

Im Café herrschte reger Betrieb, den Greta offenbar völlig ausgeblendet hatte. Der Lärm prasselte mit einem Mal unvermittelt auf sie ein wie eine einstürzende Mauer, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Blitzschnell ließ sie das Tagebuch in ihrem Rucksack verschwinden.

»Bei was genau habe ich dich denn jetzt gestört?«, lachte Klara, während sie sich mit der Getränkekarte eifrig Luft zufächerte.

»Ähm . . . ich . . . war nur gerade so vertieft«, stammelte Greta und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Die Worte ihrer Großmutter hallten nach, tanzten vor ihren Augen, verhallten dann langsam in dem Trubel um sie herum.

Klara sah sie prüfend an, ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen. »Das Buch muss ja besonders aufwühlend sein, so verwirrt, wie du mich gerade ansiehst.«

Greta griff nach ihrem Wasserglas und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. »Nein, ach . . . nein, überhaupt nicht«, wehrte sie ab. »Irgendein Krimi aus der Bücherei. Nichts Besonderes. Ich war nur einfach so vertieft, es wurde gerade richtig spannend.«

Klara sah sie immer noch prüfend an, doch dann gab sie auf. »Du musst mal wieder unter Leute. Spaß haben. Du wirst schon ganz seltsam, meine Liebe!«

»Ich bin doch hier unter Leuten.« Das Café war bis auf den letzten Platz besetzt.

»Nein, ich meinte, du solltest mal wieder ausgehen. Wir beide und ein paar Freundinnen von mir. Du musst mal wieder tanzen!«

Greta verdrehte die Augen. »Ehrlich, Klara? Mir ist wirklich nicht nach tanzen. Mir reichen die Menschen hier schon völlig aus.«

»Das ist doch nicht dasselbe! Komm schon, einfach mal den Kopf freitanzen, nicht so viel nachdenken, nur die Musik spüren.«

»Arbeitest du neuerdings als Werbefuzzi für einen Club?«

Klara zog einen Schmollmund. »Wenn ich dich dadurch dazu bringe, mich heute Abend zu begleiten, dann würde ich auch das machen. Oder hast du schon etwas anderes vor?«

Greta suchte fieberhaft nach einer Ausrede, die ihr diesen Abend ersparen könnte. Doch sie fand keinen Grund, der Klara auch nur im Geringsten zufriedenstellen würde.

Eigentlich sprach auch gar nichts dagegen. Sie konnte es ja versuchen und wenn nötig immer noch die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen.

Wahrscheinlich war es wirklich an der Zeit, ihre Höhle, in die sie sich seit Tagen verkrochen hatte, den dumpfen Schmerz aushaltend, den mancher wohl Liebeskummer nennen würde, zu verlassen und nach vorn zu blicken. Immerhin war es heute nur noch ein leise pochender Schmerz, der hin und wieder zudrückte.

Sie hatte sich immer wieder mit dem Gedanken herumgeschlagen, ob es nicht vielleicht weniger Katherine war, die sie in diesem Augenblick vermisste, sondern das Gefühl von Geborgenheit, von Leichtigkeit, das sie bei ihr gehabt hatte.

Sie hatte sich in das Gefühl verliebt, sich fallenzulassen und vielleicht auch in das Verliebtsein an sich. Doch zur Liebe hatte es nicht gereicht.

Und es war okay.

Katherine hatte ihr mehr gegeben als jede Frau zuvor und ihr gezeigt, dass sie anscheinend doch keine verschrobene Einsiedlerin war, für die sie sich selbst immer gehalten hatte.

Und war das nicht auch etwas Gutes?

•••

»Und du bist jetzt die, die jahrelang durch die Weltgeschichte getingelt ist?«, schnorrte es Greta etwas undeutlich entgegen.

Eine leicht wankende Gestalt hatte sich an den Barhocker neben sie geklammert und versuchte nun, hin- und herwehend, Greta in ein Gespräch zu verwickeln.

Den ganzen Abend zuvor hatte eben diese Dame sehr schweigsam der Frauengruppe beigewohnt, lieber zugehört als geredet. Doch Alkohol hatte noch so manchen redselig gemacht.

Während Klara sich mit Anna, die mehr als offensichtlich ein Auge auf sie geworfen hatte und das nicht erst seit vorgestern, auf der Tanzfläche die Seele aus dem Leib tanzte, hatte sich Greta eher an den Rand zurückgezogen und betrachtete das Treiben aus der Ferne.

Sie konnte gerade noch sehen, dass Klara ihren Fokus von Anna abgewandt und Greta zugewandt hatte, da klammerte sich die wenig standhafte Frau etwas unsanft an Greta und riss sie halb mit sich vom Barhocker. Ihr Getränk ergoss sie dabei in voller Fülle über Gretas Bluse. Greta hatte keine Zeit zu reagieren oder das Unglück zu verhindern.

Bevor sie anfangen konnte, Entschuldigungen murmelnd zu versuchen, Greta mit Servietten trockenzutupfen, und zwar wenig galant und zurückhaltend, beförderte Greta sie mit Schwung auf den Barhocker neben sich, vertraute sie Tina, einer der anderen Freundinnen von Klara, an, die ihr zur Hilfe geeilt war, und entschwand entnervt Richtung Toilette. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Das schummrige Licht der Toilettenleuchte ließ die Bescherung noch viel schlimmer erscheinen. Greta stützte sich genervt auf den Rand des Waschbeckens und sah ihr Spiegelbild eindringlich an. »Du hast auch schon einmal besser ausgesehen«, komplimentierte sie sich selbst, und dann musste sie doch schmunzeln. Wie sinnbildlich dieser Abend doch war.

Immer wieder drängten Frauen in den viel zu kleinen Raum, schoben sich mit mächtig Körperkontakt an ihr vorbei, und Greta gab ihr Rettungsmanöver auf. Zeit für den endgültigen Rückzug.

Als sie sich wieder Richtung Tanzfläche schieben wollte, um sich zu verabschieden, wurde sie auf dem Weg unvermittelt am Arm gepackt und sacht, aber bestimmt in eine kleine Nische gedrückt.

»Da hat sie aber einen Volltreffer gelandet.« Klara betrachtete die Bescherung auf Gretas Bluse. »Das hatte sich Betti bestimmt auch anders vorgestellt. Sei ihr nicht böse, sie verträgt einfach nichts.«

»Ich glaube, dass sie sich gar nicht mehr viel vorgestellt noch gedacht hatte«, konterte Greta. »Was das Thema Tuchfühlung betrifft, bin ich für heute bedient. Es ist ein guter Zeitpunkt zu gehen.«

Klara machte einen kleinen Schritt auf Greta zu, sodass sie Schulter an Schulter eng beieinander standen. »Ich würde gern noch mit dir tanzen.«

»Ich denke, dass ich heute nicht die richtige Wahl bin. Aber Anna wartet auf dich, sie verfolgt dich ja regelrecht mit ihren Blicken«, erwiderte Greta und deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Tanzfläche. »Kann es sein, dass sie völlig verrückt nach dir ist?«, grinste Greta, doch Klaras Blick versteinerte sich innerhalb weniger Sekunden.

»Man kann wirklich Spaß mit ihr haben. Ich hatte einen netten Abend, aber an mehr habe ich kein Interesse.«

»Du siehst aus, als wäre es dir unangenehm, von ihr angehimmelt zu werden.«

»Ich will ihr einfach keine falschen Hoffnungen machen, das ist alles.«

»Ach Klara, so ein bisschen Spaß hat noch niemandem geschadet«, versuchte Greta, ihre Freundin aus der Reserve zu locken.

»Vielleicht bist du eher der Typ für Spaß, ich nicht. Und das müsstest du eigentlich wissen.«

Die Luft zwischen ihnen schien zu vibrieren. Greta musste irgendetwas entgangen sein. Klaras ausgelassene Stimmung, mit der sie an diesem Abend alle mitgerissen hatte, war wie ausradiert. Etwas diffus Unangenehmes lag stattdessen zwischen ihnen. Greta konnte nicht greifen, weshalb sich Klaras immerwährende Fröhlichkeit mit einem Mal derart verhärtete, dass Greta die Kälte, die sie ihr entgegenstrahlte, förmlich spüren konnte.

»Klara, ich wollte dir sicher nichts unterstellen«, versuchte sie eine Entschuldigung für das, was eigentlich nur gutgemeint, aber offensichtlich falsch umgesetzt war.

Klaras Blick war weiter streng und unbeirrt auf die Tanzfläche gerichtet. »Schon gut, Greta, woher solltest du es auch wissen.«

»Was wissen?« Greta strich sich verwirrt eine wilde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Dann schien Klara wieder aufzutauen, ihr Körper befreite sich aus der Starre, und während sie wortlos, die Hand zum Abschied kurz gehoben, mit kaltem Ausdruck im Gesicht, zurück in die wabernde Menge verschwand, blieb Greta restlos verwirrt zurück.

•••

Scharf sog sie die Luft ein.

Ein – aus. Ein – aus.

Ruhiger! Beruhige dich!

Ein – aus. Ein – aus.

Ihre Lungen japsten förmlich nach Luft.

Ein – aus. Ein – aus.

Ihr Herz flog im Takt einer Blechtrommel.

Ein – aus. Ein – aus.

Greta hatte sich aufgerichtet, wischte sich fahrig Haarsträhnen aus dem Gesicht, die wild in alle Richtungen abstanden oder zum Teil schweißnass an ihr klebten. Sie fixierte den Schlitz zwischen den Vorhängen, der einen kleinen Lichtstrahl ins Zimmer ließ.

Was war das bitte für ein Traum? In grässlichsten Farben und Formen hatten sich die vergangenen Tage immer und immer wiederholt. Ihre keifende Mutter und das verblassende Gesicht ihrer Großmutter hallten dumpf nach und ließen sich ihr Herz verkrampfen.

Trockener, ekliger Geschmack lag in ihrem Mund. Unangenehmes Pochen in den Schläfen ließ sie zusammenzucken.

Ihr Shirt klebte an ihr.

Sie war viel zu müde für Krawall in Gedanken und in ihrem Unterbewusstsein. Hastig griff sie nach der Wasserflasche neben ihrem Bett und stürzte das kühle Nass hinunter. Es wirkte wie Löschwasser für ihre aufgewühlten Nerven.

Greta schob die Decke zur Seite. Die ganze Wohnung fühlte sich fremd an. Die kahlen Wände umzingelten sie. Ein Wohlfühlort wie aus dem Bilderbuch.

Nur langsam beruhigte sich ihr Atem wieder. Sie hatte kaum vier Stunden geschlafen und das auch nur unruhig und mit Unterbrechungen. Sie fühlte sich, als hätte sie die Nacht durchgesoffen, und dabei hatte sie außer zwei Bier im Club nichts getrunken.

In der Dämmerung tastend hangelte sie nach einem neuen T-Shirt, schälte sich aus dem schweißnassen und streifte sich das neue über. Dann rappelte sich auf.

Sie hatte das dringende Bedürfnis, die letzte Nacht so schnell wie möglich im Duschwasser zu ertränken.

Sie hatte ewig nur dagestanden und das warme Wasser über ihren Körper laufen lassen, der sich nur allmählich beruhigte. Den Kopf gegen die Fliesen gelehnt, versuchte sie, halbwegs aufrecht zu stehen. Das Prasseln des Wassers hatte irgendwann die Stimme ihrer Mutter verdrängt. Sie hatte versucht, sich allein darauf zu konzentrieren.

»Es war nur ein Traum. Nur ein Traum«, murmelte sie immer wieder vor sich hin. Und erst als sich ihr Pulsschlag wieder in normalen Takten zu bewegen schien, stellte sie das Wasser, das mittlerweile das ganze Badezimmer in eine Dampfwolke getaucht hatte, ab, schlüpfte in ihren Bademantel und ging anschließend in die kleine Küche, die mehr Nische als Raum war.

Mit einer Tasse Koffein bewaffnet – und ja, sie wusste, dass dies alles andere als beruhigend war, doch die Müdigkeit wollte vertrieben werden – setzte sie sich an den kleinen Esstisch, den sie wenige Tage zuvor samt Stühlen am Flohmarkt um die Ecke erstanden hatte, schloss die Augen und ließ Kaffeeduft in ihre Nase steigen.

Als sie die erste Tasse geleert hatte, hatte sie das Gefühl, langsam zu sich zu kommen. Aber es gab keine Eile, schließlich war Sonntag.

Tag der Ruhe.

Doch dann fiel ihr Blick auf den kleinen Holzkoffer in der Nähe und sie wusste, dass Ruhe sicher nicht das war, was sie heute empfinden würde.

Die Heimat in uns

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