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August 2019

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»Einen Espresso, bitte. Extra stark. Doppelt und tiefschwarz.«

Ein sanfter Windstoß trug herrlich warmen Sommerduft in die kleine Küche. Raschelnde Blätter des Ahornbaums vor dem Fenster sangen eine leise Melodie. Das geöffnete Fenster mit seinem schönen alten Holzrahmen schaukelte von der Melodie getragen leicht auf und zu.

Greta hatte ihren Kopf seitlich auf die kühle Tischplatte gelegt, sie betrachtete die Welt in Schieflage. Und endlich passte das reale Bild zu ihrem inneren Bild des aktuellen Weltgeschehens.

Ein Stuhl wurde zurückgezogen, und Klara setzte sich zu ihr an den Tisch, den Kopf ebenfalls auf die Tischplatte legend, um ihrer Freundin in die Augen sehen zu können.

Sie mochten ein komisches Bild abgeben in diesem Moment, aber wen sollte es stören?

Greta forschte in ihren Erinnerungen nach Momenten, in denen sie sich genauso haltlos und schwermütig gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Doch sie konnte sich an keinen vergleichbaren Moment erinnern. Noch nie hatte etwas ihre Welt so aus den Angeln gehoben.

Sie hatte tagelang geweint, bis die Tränen versiegt und eine Leere die Trauer verdrängt hatte. Sie fühlte sich wie ausgekotzt.

»Deine Großmutter hat immer so von ihrer Enkelin geschwärmt, die hinaus in die Welt gezogen war und sich den Abenteuern des Lebens gestellt hatte. Sie war so stolz auf deinen Tatendrang und deine Neugierde. Durch deine Geschichten und Erzählungen hatte sie das Gefühl, selbst all die wunderbaren Orte bereist zu haben. Dich so zu sehen, würde ihr das Herz brechen.«

»Aber sie sieht mich nicht mehr. Es gibt kein Herz mehr, das ich brechen könnte.«

Ein harter Boxhieb traf Gretas Schulter, und sie zuckte zusammen.

»Glaubst du wirklich, Hannelore möchte, dass du dich so hängenlässt? Dass du deinen Tatendrang verlierst? Sie war es doch immer, die dich ermutigt hat, deinen Sehnsüchten nachzugehen. Nichts zu versäumen.«

Greta rieb sich die Schulter und richtete sich leise vor sich hingrummelnd auf. »In mir ist kein Tatendrang. Ich spüre keine Kraft, mich aufzuraffen. Ich will mich auch gar nicht aufraffen. Das bringt doch alles sowieso nichts.«

Klara richtete sich ebenfalls auf und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Das ist völlig in Ordnung. Für jetzt. Für heute. Für die nächsten Tage. Aber dann musst du aufstehen, dich schütteln, nach vorn sehen. Dein Leben geht weiter, Greta!«

»Alles ist aus den Fugen geraten. Ich hatte ein Leben, in dem ich glücklich war. Ich habe mich endlich nach langer Zeit wohlgefühlt, hatte mir vorstellen können, an einem Ort endlich länger zu bleiben. Und jetzt? Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Ich bin hier und habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich habe überhaupt keinen Plan.«

Klaras Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich finde es sehr schön, dich nach der langen Zeit wieder hierzuhaben. Auch wenn ich weiß, dass das nicht von Dauer sein wird.«

»Meine Eltern haben mich auch schon gefragt, ob ich nicht länger bleiben will.«

Klara schob die noch volle Tasse Kaffee von sich. »Und was hast du ihnen gesagt?«

Greta zuckte die Schultern. »Das gleiche wie dir. Ich weiß es nicht. Es ist, als hätte ich den Faden verloren. Egal ob ich daran denke, hierzubleiben oder nach Kanada zurückzugehen, nichts scheint in diesem Moment plausibel. Ich kann gerade keine Entscheidung treffen.«

»Du kannst die Wohnung mindestens ein Jahr lang zur Untermiete haben, das weißt du. Vorher wird Helena nicht aus Australien zurückkehren. Was das angeht, musst du dir also keinen Druck machen.«

Greta nickte und versuchte ein Lächeln, als sie Klara ansah. »Fürs Erste bleibe ich hier. Ich versuche, nichts zu überstürzen und schaue einfach, wie sich die nächsten Wochen entwickeln.« Dann griff sie über den Tisch nach Klaras Hand. Sie lag warm und weich in ihrer, als sie sagte: »Ich freue mich doch auch, dich endlich wiederzusehen. Und ich bin sehr dankbar, dass du an meiner Seite bist. Dass du es die ganze Zeit warst und jetzt noch umso mehr.«

•••

Greta hielt den kleinen alten Holzkoffer fest an sich gedrückt, als sie im Wartezimmer des Notars auf ihre Eltern wartete. In ihr drehte sich alles. So sachlich der Notar auch aus dem Testament ihrer Großmutter zitiert hatte, so aufwühlend war jedes einzelne Wort für Greta gewesen.

Ein unangenehmer Termin.

Nachdem Greta im letzten Willen ihrer Großmutter bedacht worden war, wurde sie gebeten, im Wartezimmer Platz zu nehmen, bis alles Weitere, das lediglich ihre Eltern betraf, geregelt worden war.

Mit weichen Knien hatte sie den Raum zögernd verlassen.

Ihre Gedanken fuhren Karussell und überschlugen sich ein ums andere Mal. Hannelore hatte dem Notar kurz vor ihrem Tod einen kleinen Koffer anvertraut, der ihn nun an Greta übergeben hatte. Dazu hatte er ein paar Worte ihrer Großmutter verlesen, die ihr bedeuteten, dass sie den Inhalt des Koffers vertraulich und allein öffnen sollte. Mehrmals hatte Hannelore dies in der Nachricht an sie betont, sodass keine Zweifel an ihrem Willen aufkommen konnten.

Ihre Mutter schien bei jedem Wort ein Stückchen mehr in ihrem Stuhl zusammenzusinken. Die Farbe war langsam aus ihrem Gesicht gewichen.

Greta hatte das den vergangenen anstrengenden Tagen zugeschrieben. Zudem hatte der August zu einer erneuten Hitzewelle ausgeholt, die die Luft in den Räumen wie eine Wand stehen ließ. Hitze hatte ihre Mutter noch nie allzu gut vertragen.

Nach wenigen Minuten schien es ihrer Mutter auch wieder besser zu gehen, doch immer wieder warf sie einen prüfenden Blick auf den Koffer, den Greta auf ihrem Schoß abgelegt hatte. Ihre Hände lagen oben auf, um ihren Schatz, das letzte Geschenk ihrer Großmutter, zu hüten.

Als Greta schließlich das Zimmer verließ, folgte ihre Mutter ihr mit einem durchdringenden Blick, der Greta unweigerlich innerlich zusammenzucken ließ.

Nervös rutschte sie nun auf dem Stuhl hin und her. Sie saß allein in dem kleinen Wartebereich. Nur das Ticken der Wanduhr erfüllte den Raum.

Greta war kurz davor, ihrem Drang nachzugeben und aufzuspringen, als sich die Tür öffnete und ihre Eltern erschienen, die sie mit mattem Gesichtsausdruck ansahen.

Doch in Elisabeths Blick funkelte noch etwas anderes, das Greta nicht sofort greifen konnte. »Was ist los?«, fragte sie ihre Mutter umgehend, als ihre Eltern auf sie zu kamen. »Geht es dir wieder besser?«

»Lass uns jetzt einfach gehen«, entgegnete ihre Mutter kurzangebunden, schüttelte dem Notar ein letztes Mal mit versteinerter Miene die Hand und verschwand schnurstracks ins Treppenhaus.

Greta und ihr Vater folgten ihr wortlos.

Draußen angekommen hatte sich ihre Mutter auf die Bank vor dem Haus gesetzt und schien nach Luft zu japsen.

Schnell waren Johann und Greta bei ihr.

Greta kniete vor ihr nieder und sah sie sorgenvoll an. »Mama, was ist denn los? Brauchst du etwas?«

Elisabeth atmete schwer ein und aus, dann blieb ihr Blick erneut auf dem Koffer haften, den Greta neben sich auf dem Kopfsteinpflaster abgestellt hatte. »Willst du ihn wirklich allein aufmachen?«

»Es war Omas ausdrücklicher Wille«, entgegnete Greta. »Sie wird ihre Gründe gehabt haben.«

Elisabeth sah hoch in den blau-weißen Sommerhimmel. Dann verdunkelte sich ihre Miene schlagartig. »Das war sicher wieder eine ihrer Schnapsideen«, fauchte sie. »Nicht einmal jetzt kann sie Frieden geben.«

Johann und Greta sahen sie erschrocken an.

»Warum willst du denn in der Vergangenheit kramen?«, fügte Elisabeth noch hinzu, dann rappelte sie sich schwerfällig auf. »Hannelore ist tot, kann die Vergangenheit nicht endlich ruhen?« Mit jedem Wort wurde ihr Ton schärfer.

Greta schluckte schwer. Sie wusste nicht, was in ihre Mutter gefahren war.

»Komm, Johann, wir fahren, ich muss mich hinlegen.« Ohne eine Antwort abzuwarten stand Elisabeth auf und zog Johann am Oberarm mit sich.

Er schenkte seiner Tochter einen letzten entschuldigenden Blick, ehe sie ohne ein Wort des Abschiedes um die Ecke zum Parkplatz verschwanden und Greta allein und ratlos zurückließen.

Erst jetzt bemerkte Greta, dass sie anscheinend die Luft angehalten hatte. Sie atmete aus, um sogleich wieder nach Luft zu schnappen. Was sollte das eben? Warum war ihre Mutter so aufgebracht?

Und gleichzeitig regte sich neben dem Unverständnis auch Wut in ihr. Wut auf etwas, von dem sie anscheinend keine Ahnung zu haben schien. Etwas, das zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter geschehen sein mochte, als Greta nicht hier war.

Aber sie würde es herausfinden, ob ihre Mutter es wollte oder nicht. Nun war ihre Neugierde auf das im Koffer Verborgene erst recht geweckt.

Entschlossen griff sie nach dem Henkel, machte kehrt und marschierte in Richtung der nächsten Bushaltestelle, ohne sich noch einmal umzusehen.

Die Heimat in uns

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