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3. Mai 1945

Langsam fällt die Arbeit auf dem Hof und den Feldern leichter. Man gewöhnt sich daran, zuzupacken und über die Erschöpfung hinaus zu arbeiten. Auch die Artingers scheinen sich so langsam mit uns Frauen zu arrangieren, sind wir doch mittlerweile keine Gäste mehr, die nur kurz bleiben oder ihnen auf der Tasche liegen.

Mutter und Margot bewohnen jetzt ein eigenes kleines Zimmer. Die kleine Elisabeth schläft bei mir. Elisabeth spielt oft mit den Kindern der Artingers, sie ist so aufgeweckt und voller Energie. Sie rennt durch Matsch und Pfützen, hat keine Angst vor den Tieren auf den Feldern und ist ein wahrer Wirbelwind. Für sie ist das nun die Heimat, in der sie aufwachsen darf. Die Heimat, in der sie Wurzeln schlagen darf. Ach, wenn Ernst sie doch nur sehen könnte. Es würde ihn so glücklich machen.

Abends, wenn alle nach dem Essen auf ihrer Stube sind, schleicht I. sich oft zu mir. Bisher hat noch niemand etwas davon mitbekommen, und ich bin froh, nichts erklären zu müssen. Manchmal treffen wir uns auch hinter der Scheune unterhalb des Auerhofes.

Vor allem gestern, als die Sonne die Luft so schön erwärmt hat, konnten wir abends noch eine Weile einfach nebeneinanderliegen und die Arbeit des Tages und alle Sorgen für einen kleinen Augenblick vergessen.

Dieser Platz ist unser Zufluchtsort. In diesen Momenten fühle ich mich leicht, als hätte es den letzten Winter, ja, als hätte es all die vergangenen Jahre nicht gegeben.

Aber ich weiß, dass ich nicht darauf hoffen darf, dass dieses Glück von Dauer sein wird. Das kann es nicht. Im Moment aber will ich dieses Glück so lange festhalten, wie es mir möglich ist.

Greta klappte das Tagebuch, dessen Einband von Jahrzehnten gezeichnet war, zu und durchkämmte erneut mit ihren Blicken die Pinnwand vor sich. Kein Ernst. Niemand, dessen Name mit I begann.

Wer mochte dieser Ernst gewesen sein? Warum würde es ihn glücklich machen, Gretas Mutter zu sehen? War dieser Ernst vielleicht sogar ihr Großvater?

Ein Großvater mütterlicherseits war nie ein Thema gewesen. Sie hatte immer nur einen Großvater gehabt, hatte das nie hinterfragt, wenn andere Kinder von zwei Großvätern erzählten. Großvater Heinz war ihr immer genug gewesen. Sie hatte ihn vergöttert.

Nur einmal hatte ihre Großmutter erzählt, dass sie sich immer allein um Elisabeth gekümmert hatte, dass sie sie allein großgezogen hatte. Sie hatte nie von einem Mann gesprochen, nie darüber, wer eigentlich Elisabeths Vater war.

Und wo mochte er geblieben sein? Ein Soldat, der wie viele nicht mehr nach Hause zurückkehren konnte? War er gefallen?

Ach, es brachte nichts, sich den Kopf zu zermartern. Greta wollte Antworten, keine Spekulationen. Aber dafür musste sie über ihren Schatten springen.

Es gab nur eine Person, die ihr wirklich Auskunft darüber geben konnte. Ihre Mutter, mit der sie zumindest wieder Small Talk betreiben konnte, wenn sie zuhause anrief und ihr Vater dann doch das Telefon weiterreichte.

Greta konnte hören, wie unwillig ihre Mutter nach wie vor mit ihr sprechen wollte, vor allem, nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass Greta tatsächlich von dem Koffer nicht ablassen wollte. Es hatte ihr offensichtlich keine Ruhe gelassen.

Greta war sich dessen bewusst, dass sie aus einer Familie kam, die grundlegend wenig emotional war. Dafür eher realistisch, pragmatisch, klar und direkt. Ihre Eltern hatten selten laut gestritten, eher waren sie sich aus dem Weg gegangen, wenn der eine den anderen einmal nicht – wie sagte Mutter so schön? – ertragen konnte.

Und das war okay. Zeit zum Durchpusten, die Dinge dahingehend einordnen, dass doch alles gar nicht so schlimm war, und vor allem im Anschluss nicht nachtragend sein. Das hatte bisher auch wunderbar funktioniert.

Bisher.

Offenbar hatte ihre Mutter sich diesen Part, das Nachtragendsein, für diesen Moment exklusiv aufgehoben. Für Gretas ungehörige Tat, sich tatsächlich dem Koffer ihrer eigenen Großmutter zu widmen, strafte sie sie nun mit Ablehnung.

Sie saßen im Garten unter der Markise, Kaffee, Kuchen und eine Grapefruitschorle standen für den Nachmittagskaffee bereit, das Wetter war herrlich, die Nachbarn grüßten freundlich über den Zaun, und Strolchi, der mittlerweile äußerst weißbärtige Labrador ihrer Eltern, aalte sich im Schatten.

Nur Gretas Mutter zog ein Gesicht, als wäre all die Schönheit um sie herum eine tonnenschwere Belastung. Ohne Greta anzuschauen, stocherte sie in ihrem Käsekuchen und richtete ein Bröselmassaker an, während Greta selbst versuchte, die Fassung zu bewahren. Noch immer erschloss sich ihr nicht, welches Problem ihre Mutter damit hatte.

»Der Kuchen schmeckt wirklich sehr gut«, sagte Greta anerkennend, doch ein Eisbrecher sollte dieses Kompliment auch nicht werden.

Ihre Mutter stocherte weiter. Beharrlich war sie, das musste man ihr lassen.

»Der ist dir wirklich gut gelungen«, griff nun Gretas Vater unterstützend ein und erhielt als Antwort wenigstens ein »Schön!«

Ich bin ein Schmetterling! Ich bin ganz ruhig, wiederholte Greta immer wieder in Gedanken, um sich dann laut an ihre Mutter zu wenden: »Mama, darf ich dich etwas fragen?«

Ein kaum merkliches Schulterzucken, aber für Greta Antwort genug.

»Wer war Ernst?«

Gretas Mutter hörte prompt auf zu kauen und legte die Kuchengabel auf den Teller zurück. »Wie kommst du denn zu dieser Frage?«

»Na ja, Oma hat in ihrem Tagebuch geschrieben, dass er sicher sehr glücklich gewesen wäre, dich zu sehen.«

In diesem Moment legte Gretas Vater ihrer Mutter unter dem Tisch eine Hand auf den Oberschenkel, ganz leise und sanft, doch Greta entging diese Geste nicht. Sie hatte offensichtlich ein sensibles Thema angesprochen.

Elisabeth räusperte sich, und dann sah sie zum ersten Mal auf. »Ernst war mein Vater. So wurde es mir zumindest von Hannelore erzählt.« Ihre Schale schien ein klein wenig zu bröckeln, als der Satz endlich über ihre Lippen gekommen war.

»Hast du ihn denn nie kennengelernt?«

»Nein«, Elisabeth schüttelte den Kopf. »Er ist wohl im Krieg gefallen. Hannelore hat kaum darüber gesprochen. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.« Ihre Stimme begann leicht zu zittern.

»Hast du irgendetwas von ihm? Ein Foto oder so?«, versuchte Greta weiter ihr Glück.

»Nein, und mir wäre es ganz lieb, wenn wir es bei diesem Gespräch belassen könnten. Er hat nie eine Rolle in meinem Leben gespielt und wird es auch jetzt nicht mehr.«

Für einen kurzen Augenblick überlegte Greta, ob sie ihre Mutter noch nach der ominösen Person in Hannelores Tagebuch fragen sollte. Vielleicht ein neuer Mann in Hannelores Leben, nachdem Ernst nicht nach Hause zurückgekehrt war? Den musste ihre Mutter doch kennengelernt haben.

Doch das Gespräch hatte ihre Mutter mehr mitgenommen, als Greta beabsichtigt hatte. Sie hatte wohl einen wunden Punkt berührt, denn Elisabeth konnte kaum noch ruhig sitzen. Ihr Kuchenstück hatte sie nicht wieder angerührt.

Es war gut so. Ihre Mutter hatte immerhin mit ihr gesprochen, auch sie war also über ihren Schatten gesprungen. Ein kleiner Erfolg.

Greta wollte diesen kleinen Hauch der Annäherung nicht mit weiteren Fragen zur Vergangenheit kaputtmachen. Sie würde es irgendwie selbst herausfinden. Zu einem anderen Zeitpunkt. Und vielleicht konnten sie später noch einmal darüber sprechen. Irgendwann.

»Der Kuchen ist wirklich sehr lecker«, wechselte Greta zu aller Erleichterung das Thema. »Gibst du mir das Rezept?«

Nun sahen sie ihre Eltern gleichermaßen verwirrt an. Immerhin nahm dies ihrer Mutter einen kleinen Teil ihrer Schwere. »Seid wann backst du denn?«, kam es gleichzeitig aus beiden Mündern. »Das sind ja ganz neue Töne!«

»Seit wann streiche ich Wohnungen und richte mich häuslich ein?«, grinste Greta, und auch in ihr breitete sich Erleichterung darüber aus, dass sie sich ihren Eltern ein Stück weit anzunähern schien.

»Du richtest dich häuslich ein? Heißt das, du bleibst?« Gretas Vater zimmerte die Kaffeetasse etwas unsanft auf den Unterteller zurück, und ein breites Lächeln zeichnete sich auf sein Gesicht. »Ich glaub’s ja nicht! Elisabeth, hast du das gehört?«

»Ich bin ja nicht taub, Johann«, echauffierte sie sich umgehend.

»Na ja, die Zwischenmiete läuft ein Jahr. Ich denke, so lange habt ihr mich zumindest an der Backe. Und danach kann ich immer noch schauen, wie es weitergeht.«

Nun lächelte auch Elisabeth. »Dann kann ich wenigstens wieder ruhig schlafen, weil ich weiß, dass du nicht weit weg sein wirst.«

Greta griff über den Tisch nach Elisabeths Hand und berührte sie sanft. »Ich stelle auch Tausende Kilometer entfernt keinen Unfug an.«

»Ich weiß«, lächelte Elisabeth, und ihre Augen schienen feucht zu werden, doch sie hatte sich schnell im Griff. Pragmatisch und realistisch denken! »Willst du dir dann hier auch einen Job suchen?«

»Ich habe keine Eile. Noch habe ich einige Ersparnisse, aber vielleicht zieht es mich über kurz oder lang doch wieder in eine Küche, wer weiß. Aber backen werde ich nur zu Hause, das kann ich keinem antun.«

Und endlich hallte fröhliches Gelächter durch den Garten. Gretas verbrannter Eierlikörkuchen, den sie mit dreizehn Jahren ihrer Mutter zum Geburtstag backen wollte, war allen bis heute in guter Erinnerung geblieben.

Die Heimat in uns

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