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Frankfurt am Main | Bühler Hochhaus | 20 Uhr

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Sein unangemeldetes Erscheinen hatte Frau Malz nicht im Geringsten aus der Ruhe gebracht. Von Carstheim glaubte aber in ihrem strengen Gesicht erkannt zu haben, dass die ehemalige Chefsekretärin seines Großvaters sich über seinen Besuch freute. Sie hatte die Zähne gezeigt und für ihre Verhältnisse war das ein bedeutender Gefühlsausbruch. Er schätzte Frau Malz über alle Maßen. Sie hatte maßgeblichen Anteil daran gehabt, die Firma durch drei Wirtschaftskrisen zu bringen. Es war die große Bankenkrise 2008, die seinem Großvater den ersten großen Durchbruch verschafft hatte. Der Kapitalismus der westlichen Welt stand vor dem Abgrund. Die Aktivitäten der Bühler Gruppe hatten jedoch bewiesen, dass ein sorgsamer Umgang mit Geld den vernünftigeren Weg darstellte.

Die Presse allerdings hatte die Bühler Firmengruppe von diesen Tagen an als Kriegsgewinnler abgestempelt. Die Formulierung „Die Gruppe“ war als Anspielung auf „Die Familie“, also die Mafia, gemünzt.

Gegen Ende der letzten Krise hatte sich das Bild jedoch gewandelte. Mehrere EU Staaten hatten ihren Bankrott und den Austritt aus dem Euro gemeldet. Die europäischen Rettungsschirme waren zusammengebrochen. Deutschlands Bürgschaften in Höhe von 320 Milliarden Euro waren fällig geworden. Dadurch und durch die Zahlungsunfähigkeit der EU waren die Deutschen Exportzahlen auf dramatische Weise zurückgegangen und die Arbeitslosenzahlen explodierten. „Die Gruppe“ hatte aber, entgegen dem Trend, Arbeiter eingestellt.

Etliche Male hatte er Frau Malz das Du angeboten. Sie hatte stets abgelehnt. Wenn sie gewollt hätte, wäre sie längst im Vorstand. Sie zog es jedoch vor, seine Schwester zu unterstützen, die den Hauptteil des operativen Geschäftes von Frankfurt aus leitete.

„Meine Schwester ist im Büro?“, sagte er.

„Sie telefoniert mit Fürth.“

„Ich werde ihr meine Aufwartung bereiten und wir werden uns die Tage noch bei einem Kaffee unterhalten.“

„Peruanischer.“

„Gebrüht bei 97,4 Grad. Der beste der Welt.“

Begleitet von Frau Malz' billigendem Blick betrat von Carstheim das Büro seiner Schwester.

„Entweder Sie besorgen uns die Hochgeschwindigkeitsgenehmigung für über sechshundert km/h oder wir ziehen sämtliche Test- und Entwicklungszentren aus Fürth ab. Uns kostet das, kurzfristig, Geld. Ihnen dauerhaft sechshundert bis tausend Arbeitsplätze. Was das für ihre strukturschwache Gegend bedeutet, ist leicht auszurechnen.“

Verärgert zog Sara die Augenbrauen nach oben.

„Einverstanden, Sie haben eine Woche Zeit.“ Sara legte die linke Hand auf die Sprechmuschel.

„Wolltest du nicht erst morgen vorbeischauen?“

„Ich musste einen Termin auf heute verlegen.“

„Ja, Ihnen auch noch einen schönen Tag.“ Sara senkte den Hörer und gab ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange.

„Was ist mit Fürth?“ Von Carstheim erwiderte den Kuss.

„Die haben vergessen, uns eine Genehmigung für über sechshundert km/h auszustellen. Lächerlich, als ob wir mit einem ICE vorfahren würden. Eine gute Neuigkeit habe ich aber. Die erste Klasse des Le Train ist in ein paar Tagen fertig.“

„Was will ich mehr?“

Die Bestätigung, dass der Le Train sich im Zeitplan befand, hielt von Carstheim den Rücken frei für das, was morgen beginnen würde.

„Bei passender Gelegenheit werde ich Fürth einen Besuch abstatten. Davor habe ich noch eine Kleinigkeit zu erledigen.“

„Von hier aus willst du es also beginnen lassen?“, sagte Sara nachdenklich.

„Nur über Frankfurt und Steiger kann es gelingen.“ Von Carstheim konnte sich denken, worüber Sara nachdachte. Hessen war jedoch unverzichtbar. Hier konnte alles scheitern. Hessen war die Unbekannte in seiner Rechnung, deswegen musste er von Frankfurt aus die ersten Einsätze leiten.

„Schindling wird schnell herausfinden, wer für die Kampagne verantwortlich ist“, sagte Sara. „Bist du sicher, dass alles wie geplant abläuft?“

„Ganz sicher!“

Saras Blick folgte jetzt seinem, der zum Panoramafenster des Büros gewandert war. Vom zweiundachtzigsten Stock des Bühler Hochhauses sahen sie gemeinsam auf das Treiben, das sich in Frankfurt abspielte. Eine Unmenge von Geld wurde in dieser Stadt bewegt, aber auch Goethe und wunderbare Parks waren hier beheimatet. Dieses reiche Kulturangebot strafte den Ruf der herzlosen Finanzmetropole der Lüge. Beinahe wäre Frankfurt sogar Hauptstadt geworden. In einer Stichwahl hatte sich jedoch Bonn durchgesetzt. Die verstaubte Provinzstadt war so, anstelle der pulsierenden Großstadt, zum Regierungssitz ernannt worden. Dass Konrad Adenauer die Abstimmung gekauft hatte, war im Kaffeesatz der Geschichte untergegangen.

Deswegen mochte von Carstheim Frankfurt. Eine durch Betrug verhinderte Hauptstadt besaß ihren eigenen Reiz.

„Der Verfassungsschutz und der BND werden uns schwer zusetzen. Wenn es schiefgeht, müssen wir das Land verlassen.“ Saras Skepsis, was die Volksabstimmung betraf, war nicht verflogen.

„Die meisten Menschen werden unsere Ziele unterstützenswert finden. Wir bringen den Stein lediglich ins Rollen. Über kurz oder lang wird sich die Idee durchsetzen.“

„Wenn überhaupt, wird es die lange Variante werden.“

„Höre ich da einen leisen Zweifel?“

„Ich habe immer davor gewarnt, dass es sein könnte, dass kaum ein Bürger auf die Volksabstimmung einsteigt.“

„Das wird schon.“

Ein Blick auf die Uhr erinnerte von Carstheim an seine Verabredung.

„Aber wie eingangs erwähnt, habe ich noch ein wichtiges Gespräch. Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich im Penthouse übernachte.“

Von Carstheim bestieg den Expressaufzug, mit dem üblichen Unbehagen. In seiner Kindheit hatte er vier Stunden in einem überfüllten Fahrstuhl zugebracht.

Zu Beginn wurde noch gealbert und die Männer hatten ihren Spaß. Miss Germany war nämlich mit steckengeblieben. Jeder spendete Trost und machte sich wichtig. Mit der Zeit war es aber ungemütlich geworden. Die Kabine war so voll, dass niemand sich setzen konnte und Miss Germany flippte nach zwei Stunden aus. Ihr Heulen und Schreien hatte noch den ganzen Tag in seinen Ohren geklungen und das galt auch für den Geruch aus Schweiß und Urin. Zwei Männer hatten sich in die Hose gemacht und von Krämpfen geplagt wurden sie nach vier Stunden endlich befreit. Die Wartungsfirma hatte erklärt, dass die Elektronik gesponnen hätte und sein Vater bemerkte mitleidslos, dass jeder dritte Deutsche schon im Fahrstuhl festgesteckt hatte. Er solle sich nicht so anstellen.

Diese Erfahrung hatte eine minimale Phobie ausgelöst. Er hatte stets mit Dan Browns Romanheld Robert Langdon mitgelitten, der Panik vor Fahrstühlen hatte und er atmete auf, als der Aufzug im dritten Stock anhielt. Vom Fahrstuhl aus durchlief er die aus Glas und Metall gefertigte Kuppel, die im dritten Stock des Fingers ihren Anfang nahm. Sein Großvater hatte das Hochhaus ungewollt auf den Namen Finger getauft, als er am Tag der Grundsteinlegung mit ausgestrecktem Finger in den Himmel gezeigt hatte.

„In Deutschland müssen wir investieren. Daran soll das Gebäude erinnern. Es ist mein Vermächtnis.“ Sein Großvater war damals schon gezeichnet von seiner schweren Krebserkrankung.

Über fünf Stockwerke erstreckte sich die Kuppel mit ihrem hauseigenen Einkaufszentrum. Die Läden und Dienstleister standen den Angestellten 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Der Finger war eine autarke Mini-Stadt. Im dritten Stock waren ein Nobelrestaurant und ein Nachtclub eingezogen und quer durch die Kuppel verlief ein Gewirr von Treppen, das die Stockwerke miteinander verband. Nur wer sich auskannte, fand auf Anhieb sein Ziel.

Die Lounges des Nachtclubs, die von Carstheim nun aufsuchte, waren nach vorne offene kleine Räume. Jede Lounge trug den Namen eines Hollywoodstars. Das Bild von Dean Martin hing über jener, für die er sich entschied. Er setzte sich in einen der roten Sessel. Von hier aus hatte er eine gute Sicht auf den Eingangsbereich des Fünf vor Zwölf.

„Herr von Carstheim. Sehr angenehm, Sie im Fünf vor Zwölf begrüßen zu dürfen.“ Der Chefkellner war noch ehe von Carstheim sich richtig gesetzt hatte, an seinen Tisch getreten. „Was kann ich für Sie tun?“

„Bringen Sie mir einen Rum Cola und kümmern Sie sich um zwei junge Asiatinnen, die ich in den Club bestellt habe. Sobald die Damen von Nöten sind, gebe ich Ihnen ein Zeichen. Die Frauen sind eine Überraschung für meinen Gast, der jeden Augenblick eintreffen müsste. Eine Flasche Champagner könnte auch nicht schaden.“

„Kommt sofort.“

Von Carstheim reckte die Beine unter den Tisch und breitete seine Arme aus. So konnte er sehen wie Christiano Langellan, der Club Betreiber, zu ihm kam. Langellan war knabenhaft gebaut. Das Auffälligste an seiner Erscheinung waren seine hellgrünen Augen, die ihm sein irischer Vater vererbt hatte. Die Augen bildeten einen faszinierenden Kontrast zum Kakaoteint, der ein Erbteil seiner portugiesischen Mutter war.

Langellan war es gewesen, der ihn überredet hatte, einen Club im Bühler Finger zu eröffnen. In der örtlichen Presse hatte der den Bau des Fingers mitverfolgt und bei einem Arbeitsessen hatte er Jeremy kennengelernt. Jeremy hatte die Werbung für die Restaurantkette übernommen, bei der Langellan damals beschäftigt war und gegen Ende des Meetings hatte er ihn auf sein Konzept angesprochen.

„Sie haben Schneid“, hatte Jeremy beeindruckt geantwortet und ihm versprochen, sich in den nächsten Tagen bei ihm zu melden.

Drei Tage hatte Langellan an seiner Chance gezweifelt. Am vierten Tag hatte Jeremy ihn aber in den Finger geladen.

„Adrian, das ist Christiano. Er hat die Idee, von der ich dir erzählt habe“, hatte Jeremy ihn vorgestellt.

„Sie haben drei Minuten“, hatte er geantwortet, ohne Langellan richtig anzusehen.

„Sie könnten den Bekanntheitsgrad des Fingers noch steigern, indem Sie ein Luxusrestaurant und einen Nachtclub von einzigartiger Exklusivität im Gebäude platzieren. Wir umgeben den Nachtclub mit einem geheimnisvollen Ruf und machen ihn zu einem Wallfahrtsort der Reichen und Schönen.“ Langellan hatte schneller als jeder Sportreporter gesprochen.

„Wichtige Politiker und Geschäftsmänner, die im Finger feiern, das hat was“, hatte Jeremy eingeworfen. “Seit dem Dorian Gray gibt es das nicht mehr in Frankfurt und der Name des Nachtclubs ist einfach klasse. Fünf vor Zwölf, das hat was.“

„Sie bekommen den dritten Stock. Die Pacht wird fair sein.“ Für ihn war mit diesem Satz alles gesagt und er hatte sich wieder mit seinen Planungen beschäftigt.

Durch das Wegfallen des Bühler-Auftrags und der Neuregelung der Subventionen fehlen Nevrotek 250 Millionen. Der Apfel ist reif gepflückt zu werden.

„Welcher Anlass verschafft mir die Ehre ihrer Anwesenheit?“, fragte Langellan, als er in die VIP-Lounge kam.

„Ich muss ein wichtiges Gespräch führen und wo kann man das besser als hier?“ Von Carstheim drückte sich in die Polsterung.

„Sie sind natürlich mein Gast. Moment ich mach das.“ Langellan nahm dem Chefkellner, der sich hinter ihm in die Lounge wurschtelte, das Tablett aus der Hand. In Windeseile verteilte er Gläser und Champagnerkübel auf dem Tisch.

„Zu liebenswürdig. Ich nehme aber nur einen Drink. Die Getränke meines Gastes gehen allerdings auf mich und da ist er auch schon.“ Von Carstheim lehnte sich zur Seite, damit Breuer ihn sehen konnte.

„Es gehört sowieso alles Ihnen und dann möchte ich auch nicht stören. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“

„Ihnen auch einen angenehmen Abend“, sagte von Carstheim und im Wechsel mit Langellan trat Breuer in die Lounge. Breuer trug einen schlecht sitzenden Anzug und schwitzte aus jeder Pore. Das war von Carstheim aber gewohnt.

„Setzen Sie sich“, sagte er.

„Nirgendwohin, Herr Freiherr, setze ich mich lieber, als zu Ihnen. Denn jedes Mal, wenn wir uns verabreden, verdiene ich eine Menge von dem bedruckten Papier, das man nicht in die Toilette hängt.“ Noch im Stehen schenkte Breuer sich wie selbstverständlich ein Glas Champagner ein.

„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, sagte er dabei hochmütig.

Von Carstheim kannte Breuers unangenehmes Wesen. Das und seine Skrupellosigkeit, hatten ihn aber unersetzlich gemacht.

„Ich möchte, dass Steiger am Mittwochabend auf der Party des Oberbürgermeisters erscheint.“

Breuers schwulstige Stirn formte sich zu einem Fragezeichen.

„Ist das alles? Für diese Kleinigkeit haben Sie mich herbestellt?“ Breuers Stirn verstärkte das Fragezeichen.

„Sie sorgen dafür, dass Steiger am Mittwoch auf der Feier erscheint. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Von Carstheim beugte sich vor.

Breuer setzte das Glas ab, das er zum Mund gehoben hatte.

„Steiger wird erscheinen“, sagte er nun grimmig.

„Das wollte ich hören“, erwiderte von Carstheim und winkte dem Chefkellner. Der reagierte augenblicklich, indem er die zwei bestellten Asiatinnen ansprach und auf seine Lounge deutete.

„Ihre Schwäche für asiatische Frauen ist mir zu Ohren gekommen. Daher habe ich mir erlaubt eine Suite für Sie im benachbarten Hotel zu buchen. Die Damen werden alles Erdenkliche unternehmen und Ihnen einen angenehmen Abend bereiten. Sehen Sie es als Extra-Vergütung für all Ihre Mühen an.“

Von Carstheim konnte die Gier in Breuers feistem Gesicht erkennen und abschätzend schweiften dessen Augen über die Körper der Frauen, die, angeführt vom Chefkellner, in die Lounge stiegen.

„Sie sind ein guter Mensch, Herr Freiherr“, gluckste Breuer. „Wollen Sie nicht bleiben? Ich denke, es ist genug für uns beide da.“

„Nein, danke. Aber ich wünsche Ihnen viel Spaß. Die Damen wissen ja, worum es geht.“

„Mit Ihnen würde es uns aber mehr Spaß machen“, sagte eine der Asiatinnen mit zuckersüßer Stimme und fuhr sich aufreizend durch die Haare.

„Ein andermal.“

„Sie verzichten auf einiges, sag ich Ihnen.“ Besitzergreifend fielen Breuers Hände auf die Schenkel der Frauen.

„Sie würden es wirklich nicht bereuen“, hauchte die zweite Asiatin und spreizte ihre Schenkel bis der Minirock nach oben rutschte und ihr pinkfarbener Slip zu sehen war.

„Ein anderes Mal vielleicht.“ Von Carstheim lächelte arrogant. Er hatte jedes erotische Versprechen erlebt oder erfüllt. Er stellte sein Glas ab und in derselben Bewegung schob er eine Kreditkarte auf den Tisch.

„Bedienen Sie sich.“

Ungläubig sahen die Callgirls die Karte an.

„Der Herr Freiherr ist die Großzügigkeit in Person.“ Breuers Hände umschlossen die Knie der Frauen und er drückte sie an seine.

„Von Zeit zu Zeit“, wisperte von Carstheim. Er hatte Wichtigeres vor, als sich zu amüsieren. Der Countdown lief und die Uhr tickte rückwärts. Die von ihm gegründeten Vereine würden für ein alptraumhaftes Erwachen in Deutschland sorgen.

Die Freistaaten

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