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3. 21. SEPTEMBER | Stuttgart Wahlabend | 19 Uhr

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„Laut dieser Hochrechnung kommen die Grünen auf 14,9 Prozent.“

Jeremy Weinhabers Daumen senkte sich auf den Lautstärkeregler des Radios. Die Moderation verkam zu einem Hintergrundflüstern, das sich mit der Lüftung seines Mercedes vermischte. Er war unterwegs zum Bühler Stammhaus. Bühler war der Geburtsname von Adrian von Carstheims Mutter. Fünfzehnjährig hatte Adrians Urgroßvater die Bühler Firmengruppe 1919 gegründet und begünstigt durch die Nachkriegszeit hatte sich die ehemals kleine Nagel- und Schraubenfabrik zu einem weltumspannenden Unternehmen entwickelt. Vor vier Jahren hatte Adrian die Firmenspitze von seinem Großvater übernommen und in dieser kurzen Zeitspanne gelang es ihm, die Firmengruppe zu Europas mächtigstem Privatunternehmen auszubauen. Geholfen hatte ihm hierbei die letzte Weltwirtschaftskrise. Der Stabilitätspack, den Deutschland mit einem Großteil seines Geldes abgesichert hatte, war zusammengebrochen. Europa und Amerika waren so gut wie Bankrott. Dank der Weitsicht seines Großvaters verfügte die Bühler Firmengruppe aber über enorme Bargeldreserven. Ausgestattet mit dieser Kaufkraft hatte Adrian eine Firma nach der anderen übernommen und jede einzelne hatte sich ausgezahlt.

Doch all diese geschäftlichen Erfolge waren seit einer Stunde hinfällig. Das heutige Wahlergebnis würde die deutschen und europäischen Weichen neu stellen. Adrian plante ein Unternehmen, das selbst jede noch so komplizierte Firmenübernahme so leicht wie das Umwerfen eines schlecht aufgestellten Weihnachtsbaumes erscheinen ließ. Der von ihnen ersehnte Linksrutsch hatte stattgefunden.

Wollen wir mal hoffen dass Adrian weiß was er macht, dachte Jeremy. Etliche Trompetenbäume säumten die Auffahrt, in die er fuhr. Die Bäume vermittelten den Besuchern einen mediterranen Eindruck. Parallel zum letzten Baum hielt er den Mercedes an. Vor ihm erhob sich das völlig in Weiß gehaltene Haus; durch den Anstrich glich es entfernt dem amerikanischen Präsidentensitz. Adrian hasste es, wenn er auf diese Ähnlichkeit angesprochen wurde. Nichts lag ihm ferner, als Dinge zu kopieren. Er wollte neue Wege gehen, was ihm bisher auch gelungen war. Kein deutscher Geschäftsmann hatte in der Vergangenheit so viel riskiert und gewonnen wie er.

Jeremy tippte aufs Gaspedal und im Schritttempo rollte der Mercedes über den Parkplatz. Neben einem rothaarigen Mann hielt er an und stieg aus.

„Herzlich willkommen“, sagte der Parkwächter und im Gegenzug für die Wagenschlüssel erhielt er eine nummerierte Plakette.

„Hast du die Hochrechnungen mitbekommen?“, wand Jeremy sich an Eva, die an der Treppe stand, die zum Haus führte. Sie musste direkt vor ihm eingetroffen sein.

„Bin auf dem neusten Stand“, antwortete Eva.

Jeremy steckte die Plakette ein und begab sich zu ihr.

„Ich weiß nicht, wie er es hinbekommen hat, aber das Ergebnis ist geradezu perfekt“, sagte er.

„Adrian ist und bleibt ein Meister der Manipulation.“

„Oh ja. Seine Voraussicht ist beinahe gespenstisch.“

Die Stufen hinauf, starrte Jeremy zum Haus, von dem aus Europas Schicksal neu bestimmt werden sollte.

„Wird trotzdem nicht einfach was er vorhat“, flüsterte er im Wissen auf das, was auf sie zukam.

„Die AfD hat 5,8 % erhalten, gerade genug aber nicht zu viel. Das rundet den Wahlabend ab.“

Vier Säulen flankierten das Haus durch sie und die Eingangstür gelangten Jeremy und Eva ins Atrium. Mehrere hochrangige baden-württembergische Politiker standen um den Brunnen, an dem sie sich gestern siegessicher von Adrian verabschiedet hatten. An den Gesichtern der Politiker war zu erkennen, dass die Wahl nicht in ihrem Sinne verlaufen war. Jeremy hätte ein Vermögen darauf gesetzt, dass die meisten mit dem Gedanken spielten, sich in die mannshohen Nägel und Schrauben zu werfen, die aus dem Brunnen herauswuchsen. Aus unzähligen Düsen versorgten die Nägel und Schrauben den Brunnen mit Wasserfontänen.

„War ein ordentliches Gemetzel, das an der Wahlurne stattgefunden hat.“ Zähfließend löste Jeremy sich von dem, was sich am Brunnen abspielte.

„War so gedacht“, sagte Eva.

„Kann man sagen.“

Jeremy lief vom Brunnen zu einem aus rotem Granit gehauenen Türbogen. Von diesem aus konnte er in den Saal sehen.

„Deprimierte CDU/CSU- und FDP-Wähler so weit das Auge reicht.“ Hämisch sah Jeremy sich im Saal um, der dem Wiener Opernball einen geeigneten Rahmen geboten hätte.

„Wir sollten uns beeilen“, sagte Eva. „Die anderen warten bereits.“

„Ja doch, ja doch.“

Jeremy ging jetzt voran in den Saal. Eva konnte so feststellen, welchen Kontrast er zu den schlecht gelaunten Wahlverlierern bildete. Jeremy trug Jeans und ein blaues Hemd. Gelocktes braunes Haar ruhte auf seinen Schultern. Er verkörperte den Rebellen in Reinkultur und hinter ihm schlängelte sie sich durch die Menschen auf die breitgeschwungene Marmortreppe zu. Vom Ende des Saals führte diese in den ersten Stock.

„Komm“, sagte Eva Maria und schubste Jeremy die Treppe aufwärts. Von der ersten Stufe aus hatte der erneut das Treiben im Saal beobachtet.

„Du gönnst mir auch keinen Spaß.“ Widerspenstig schritt Jeremy die Treppe aufwärts.

„Du kannst dich noch stundenlang an ihnen ergötzen.“

„Wahlniederlagen sind das Salz in der Suppe der Demokratie.“ Auf der obersten Stufe angekommen stemmte Jeremy sich gegen Evas Druck und er hielt sich am Geländer fest. „Was gibt es Geileres, als die Menschen verlieren zu sehen, die ihr Gehalt selbst bestimmen. Das kann der geschröpfte Bürger nur alle vier Jahre miterleben.“

„Ich kenne deinen Standpunkt zur Genüge.“ Eva löste Jeremys Hand vom Geländer und bugsierte ihn unnachgiebig ins Billardzimmer. Das vollkommen in Holz gehaltene Zimmer strömte eine freundliche Wärme aus.

„Wo wir endlich vollständig sind, kann ich beginnen.“ Auffordernd wurden sie von Adrian, der an der kleinen Bar stand, angesehen und sie gesellten sich grußlos zu der kleinen Versammlung, die aus Adrians engsten Vertrauten bestand, an den Snookertisch.

„Deutschland hat in unserem Sinne gewählt. Ich erinnere noch einmal an das Risiko. Wir können alles verlieren, wenn wir nicht hart und direkt zuschlagen“, sagte von Carstheim und schob sich in die Mitte des Billardzimmers.

„Was machen wir mit den Vereinen und Clubs, die zur Tarnung gegründet wurden?“, fragte Nicolas. Dessen Aussehen war das eines unscheinbaren Buchhalters. Doch das täuschte. Nicolas war ein knallharter Pragmatiker, der über Leichen gehen konnte.

„Stell die Zahlungen ein. Wir brauchen sie nicht mehr.“

„Im Normalfall werden sie sich selbst auflösen, schließlich können sie die Volksabstimmung nicht unterstützen. Sie würden sich ja den Boden unter den Füßen wegziehen“, sagte Sara. Sie war von Carstheims ältere Schwester und auch wenn sie kein unbedingter Freund von den Plänen ihres Bruders war, stand sie zu ihm.

„Ab jetzt hängt alles davon ab, dass die Politiker und Industriellen, die uns ihre Unterstützung zugesagt haben, bei der Stange bleiben“, sagte Kai-Uwe Fransson. Der Vorzeige-Schwede war Jurist und Verhandlungsführer der Bühler-Firmengruppe, wenn es um Firmenübernahmen ging.

„Die Meisten stecken schon zu tief drinnen. Zum hundertsten Mal, sie werden auf unserer Seite sein“, erwiderte von Carstheim unnachgiebig.

„Die Wenigsten wissen, wie weit unsere Forderungen gehen. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie immer noch zu uns halten, sobald sie über die gesamte Tragweite der Kampagne aufgeklärt worden sind“, gab Kai-Uwe noch zu bedenken.

„Im Gegenteil, sie werden uns sogar vorwerfen, dass sie zu spät informiert wurden“, sagte von Carstheim gereizt. Zwar beherbergte die Volksabstimmung verschiedene unkalkulierbare Risiken, er hatte aber keine Zeit mehr für Zweifel oder gar Angst.

„Viel wichtiger ist, dass es uns zügig gelingt, einen Teil der Bevölkerung zu überzeugen.“

„Schindling wird mit aller Macht gegen uns vorgehen. Was, wenn er uns festnehmen lässt?“, erwiderte Tim Martin. Er war von Carstheims Mann fürs Grobe.

„Vergiss Schindling. Er muss eine neue Regierung bilden. Das wird dauern, vorerst kann er uns nicht gefährlich werden.“

Von Carstheims markantes Gesicht zeigte nun ein selten gewordenes Lächeln, das seine Grübchen hervorhob.

„Nicolas, bekommst du die Volksabstimmung rechtzeitig hin? Ihr habt nur viereinhalb Wochen Zeit“, sagte Sara. Ihre Besorgnis galt besonders den technischen Schwierigkeiten.

„Wird klappen. Wir können auf genügend Freiwillige zurückgreifen.“

„Was geschieht, wenn es wirklich schiefgeht? Wandern wir aus oder lassen wir uns wegen Hochverrats vor Gericht stellen?“ Jeremy grinste Sara breit an.

„Wäre von Vorteil, wenn Adrian sämtliche Gefängnisse des Landes kauft. Man verbringt seine Zeit doch lieber in den eigenen vier Wänden.“ Nicolas grinste ebenfalls.

„Es kann nicht schiefgehen.“

„Wieso?“, fragte Jeremy für die Gruppe.

„Deutschland ist am Ende. 4,4 Millionen Arbeitslose und die höchste Steuerlast der Welt sprechen für sich. Das Übrige erledigt die Verschuldung, sie lässt der Regierung keinen Handlungsspielraum. Im europäischen Vergleich wächst die Armut in Deutschland am drittschnellsten. Nur Bulgarien und Rumänien liegen in dieser Statistik noch vor uns und das seit Merkel. Glaubt mir, die Menschen werden uns folgen. Die Zahl der Armen und Mittellosen ist explodiert. Deutschland ist zerstritten. Reich gegen Arm, Links gegen Rechts und die Mitte gegen Alle. Wären Deutschland und Europa in gutem Zustand, hätten wir keine Chance. So aber können wir es schaffen. Sollte es uns also gelingen, die Entscheidung in die Hände der Bürger zu legen, ist der Erfolg garantiert. Doch genug davon. Ich muss zurück auf die Party. Schreiber trifft jeden Moment ein und der Stuttgarter Oberbürgermeister will mich sprechen. Eva.“ Von Carstheims Blick suchte sie. „Für dich habe ich allerdings noch eine heikle Aufgabe.“

„Uns bleibt scheinbar nichts anderes übrig, als einen politischen Krieg zu beginnen, egal was es kostet“, sagte Nicolas und zusammen mit Kai Uwe, Tim und Sara machte er sich auf.

„Und das mir, wo ich die deutsche Politik auf den Tod nicht ausstehen kann. Sie ist zu vaginal. Man steckt gerne drinnen, weil es sich lohnt. Von Außen betrachtet ist sie aber kein schöner Anblick. Eva mach uns bitte keine Schande. Adrian ist in letzter Zeit anspruchsvoll.“ Jeremy hatte sich Nicolas angeschlossen, hielt aber kurz am Snookertisch und mit dem Handrücken gab er der schwarzen Kugel einen leichten Schubs. „Bis gleich.“

„Ja bis gleich.“

Eva machte sich lang und mit einem Fingerstoß beförderte sie die schwarze Kugel in die linke Seitentasche.

„Du hast das Loch doch angepeilt“, sagte von Carstheim. „In der Situation, in der wir uns befinden, könnte schon der kleinste Fehler eine Kettenreaktion auslösen.“

„Sie wünschen, Herr Freiherr?“, erwiderte Eva. Für sie war weder die Zeit des Aberglaubens noch die der Witze angebrochen.

„Warum so zynisch?“ Von Carstheim nahm die rosa Kugel und zwei rote vom Tisch.

„Aber egal machen wir es kurz. Seit geraumer Zeit beschäftigen sich verschiedene Gelehrte im Auftrag der Bühler Firmengruppe damit, ein neues Steuermodell zu entwickeln. Sie haben drei Vorschläge ausgearbeitet. Ich will, dass du morgen früh nach Karlsruhe aufbrichst. Ich brauche jemanden mit gesundem Menschenverstand unter all den Gelehrten.“ Von Carstheim hatte angefangen mit den roten Kugeln zu Jonglieren, als er die rosa Kugel ins Spiel brachte, kollidierte sie mit einer roten. Sein Versuch, die Kugeln einzufangen, misslang. Er griff ins Leere und die Kugeln fielen auf den Tisch. Die roten blieben an der kurzen Bande liegen und die rosafarbene rollte an die lange Bande. Ärgerlich packte von Carstheim die roten Kugeln und steckte sie in eine Ecktasche.

„Politisch war das mehr als ein schlechtes Omen.“ Eva hatte nicht widerstehen können, Adrian zu reizen.

„Und das bedeutet?“

„Dass du die SPD in die Tasche gesteckt hast. Die Linke ist dir jedoch entglitten.“

„Daran ist nur der grüne Filz schuld.“

„Machst du es dir nicht zu leicht?“ Eva stellte ihren Zeigefinger auf die gelbe Kugel. „Die FDP und die Braune sind auch noch im Spiel.“

„Wenigstens hat der Wahlausgang dafür gesorgt, dass die Schwarze vom Tisch ist.“ Von Carstheim stülpte seine Hand über die Tasche, in der die schwarze Kugel ruhte.

„Werden die farbigen Kugeln nicht so lange zurück auf den Tisch gelegt, bis die letzte Rote versenkt wurde?“ Eva stupste die gelbe Kugel an und über den Tisch rollte sie gegen die braune. „Glaubst du wirklich, dass du voraussagen kannst, wie das Spiel ausgeht? Nicht immer prallen die Kugeln in die vorberechnete Richtung.“

„Ach ja.“ Von Carstheim fing die gelbe Kugel ab und demonstrativ stellte er sie auf den Spot, auf dem normalerweise die schwarze lag.

„Farben haben noch nie den Ausgang eines politischen Spieles entschieden. Es kommt nur darauf an, wer den Queue in der Hand hält und das bin ich.“

Und gerade weil Snooker eine nette Metapher für die deutsche Politik darstellte, nahm von Carstheim sich vor, die Roten so oft wie nötig zu versenken. Eva hatte mit ihrer Anspielung recht, nur noch Schindling konnte ihm gefährlich werden.

Aufgelöst atmete der Stuttgarter Oberbürgermeister ein und aus. Seine Krawatte hing schief. Auf der Suche nach von Carstheim hatte er nervös an ihr gezerrt. Entschlossen stellte er sich dem Freiherrn in den Weg.

„Herr von Carstheim ich wurde gerade aufgefordert, sie bei etwas zu unterstützen, was einem Hochverrat gleichkommt“, sagte er gehetzt.

„Nur wenn die Menschen mit unserem Vorschlag nicht einverstanden sind, kann man über Hochverrat reden. Sollten die Bürger aber einsteigen, sprechen wir über eine historische Begebenheit. Und zu solch einem geschichtsträchtigen Ereignis will doch jeder sein Scherflein beitragen?“

Von Carstheim redete wie ein Mann, der einen Ortsunkundigen, zum fünften Mal den Weg erklärte und dessen Geduld unerschöpflich war.

„Sie können aber nicht von mir verlangen, dass ich mich zu dieser Volksabstimmung bekenne. Das wäre mein Ende.“ Die Augen des Oberbürgermeisters huschten nervös hin und her.

„Warten Sie in Ruhe ab und entscheiden Sie in ein paar Tagen, wie Sie sich in Bezug auf die Volksabstimmung verhalten wollen. Sie werden zu nichts gezwungen. Sie sollten aber wissen, dass der eine oder andere, auch hochrangige Politiker aus Ihrer Partei, von der Idee begeistert ist. Unterhalten Sie sich mit ihnen. Es könnte zu Ihrer Entscheidung beitragen.“ Von Carstheim tätschelte die Hand des Oberbürgermeisters.

„Gut ich werde abwarten.“

„Mehr verlange ich auch nicht. Und Sie haben mein Wort, dass es nicht Ihr Schaden sein wird. Doch jetzt verzeihen Sie uns, wir wollen tanzen.“

Von Carstheim ergriff Evas Hand und ungerührt von der Aufregung des Oberbürgermeisters schritt er auf die Tanzfläche. Eva ließ es geschehen. Sie legte ihren schlanken Körper in seine Arme. Ihre blonde Kurzhaarfrisur passte zu ihr und das schwarze Cocktailkleid, das sie trug, hatte Marc Anton Moden nur für sie angefertigt. Es war ein Geburtstagsgeschenk seines Bruders.

„Die Geheimhaltung ist dir offenbar gelungen“, sagte Sie.

„Ja. Keiner hat bemerkt, dass ein koordiniertes Vorgehen stattfand. Und der heftige Wahlkampf war ein Geschenk Gottes. In seinem Schatten sind die enormen Vorbereitungen untergegangen.“ Von Carstheim legte seine Hand fest um Evas Taille.

„Ich habe Angst, dass es schiefgehen könnte.“

„Ich bin Fechter, kein Tänzer“, antwortete von Carstheim durch die Zähne. Eva hatte sich angeschmiegt und das hatte ihn aus dem Takt gebracht.

„Hab ich gemerkt.“ Eva machte einen Zwischenschritt und bei den nächsten drei Schritten übernahm sie die Führung, und bis das Orchester eine Pause machte, tanzten sie schweigend.

Von Carstheim verbeugte sich formvollendet als die letzten Töne verklungen waren. Eva mochte diese klassische Höflichkeit. Daneben benehmen konnte sich jeder. Wertschätzung war jedoch ein Privileg, das nicht viele Menschen beherrschten. Ein lautes Rufen, das teilweise in Kreischen überging, drang jetzt vom Brunnen in den Saal und ein Blitzlichtgewitter bewegte sich von dort auf sie zu.

„Schreiber ist eingetroffen und hat die Presse mitgebracht“, sagte von Carstheim. Vom Rande der Tanzfläche aus konnten er und Eva sehen, wie der Baden-Württembergische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der CDU unter journalistischen Beschuss genommen wurde.

„Herr Schreiber, 26,8 Prozent bedeuten fünf Prozent weniger als bei der vorangegangenen Bundestagswahl. Wie erklären Sie sich das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten. Glauben Sie, dass Ihre Partei ein Opfer der Großen Koalition geworden ist?“, sagte der Reporter, der sich an der Spitze der Meute befand.

„An diesem Tag gab es lediglich ein Opfer und das war die Bundesrepublik Deutschland.“ Schreiber gab seinen Fluchtversuch auf und blieb stehen. Die Kameras fingen sein zerfurchtes faltenreiches Gesicht ein. Die tiefen Falten vermittelten einen weisen, erfahrenen Eindruck. Sein Erscheinungsbild galt seit jeher als sympathisch und selbst in dieser prekären Lage vermittelte er nicht den Eindruck, dass er verantwortlich für ein historisches Wahldebakel der CDU war.

„Bevor Sie jetzt denken, dass dies das Geschwätz eines schlechten Verlierers ist, muss ich in aller Deutlichkeit sagen, dass dies nur die Stimme eines besorgten Mannes ist. Schindling und seine Partei sind nicht in der Lage, die durch die wirtschaftliche Situation entstandenen Probleme des Landes zu lösen. Von seinen etwaigen Koalitionspartnern ganz abgesehen.“

„War Ihr Wahlkampf vielleicht zu ehrlich?“ Der Reporter drückte Schreiber das Mikro fast ins Gesicht.

„Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass Deutschland Schwierigkeiten mit der Wahrheit hat. Vielmehr befürchte ich, dass die Bürger auf die Wahlversprechungen der linksgerichteten Parteien reingefallen sind. Aber selbstverständlich übernehme ich die volle Verantwortung für die Wahlniederlage.“ Schreiber schob das Mikro aus seinem Gesicht und souverän lächelnd begab er sich in den Saal, dort war keine Presse erlaubt.

Der verhaltene Applaus, der ihn im Saal empfing, war eine Mischung aus Mitleid und guter Erziehung. Für die meisten Anwesenden war er seit einer Stunde politisch tot.

Äußerlich gab er sich deswegen zerknirscht. In seinem Inneren brannte aber ein Feuerwerk. Sie hatten es geschafft. Schindling, die Regierung und Deutschland waren in ihre Falle getappt.

Die Freistaaten

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