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Berlin | Schloss Bellevue | 11 Uhr

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Ferdinand von Preußen, der jüngere Bruder von Friedrich dem Großen, hatte das 1786 fertiggestellte Schloss Bellevue, vom ersten Tag an, für sich in Beschlag genommen. Jahrelang diente es ihm als Lustschloss. Bestehend aus drei Flügeln, war es im frühklassizistischen Stil erbaut worden. 1994 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker seinen Amtssitz in das Schloss verlegt. Die Umbauarbeiten hatten sich schwierig gestaltet und bis in die Amtsperiode von Roman Herzog hinein gedauert.

Brigitte Weihmar, die derzeitige Bundespräsidentin, trug ihr langsam ergrauendes braunes Haar offen. Ihr ebenmäßiges Gesicht strahlte stets Optimismus aus. Seit Jahren führte sie die Rangliste der beliebtesten deutschen Politiker an. Sie hatte die Bürger von sich überzeugt, weil sie nie ein Blatt vor den Mund genommen hatte. Ihre Zugehörigkeit zur CDU war im Laufe ihrer Amtszeit mehr und mehr in den Hintergrund gerutscht. Deutlich hatte sie zu verstehen gegeben, dass sie sich keinen parteipolitischen Zielen unterordnen wollte. Am Ende seines Wahlkampfs hatte Seidel, Schindlings Vorgänger, Vertrauten gegenüber geäußert, dass es ein Fehler war, sie zur ersten Bundespräsidentin ernannt zu haben. Ihre Neutralität war mit dafür verantwortlich, dass er abgewählt wurde. Schindling hatte sie als geerbtes Übel akzeptiert. Er war der streitbaren Frau so gut es ging aus dem Weg gegangen. Noch am Abend seiner Wiederwahl hatte er sich vorgenommen, ihre erneute Kandidatur zu verhindern. Die Sezession hatte diesem Vorhaben jedoch einen Riegel vorgeschoben. Ihre Beliebtheit machte sie vorerst unangreifbar.

„Es fällt mir schwer, zu realisieren, dass wir uns über den Erhalt der Deutschen Einheit Sorgen machen müssen“, sagte die Bundespräsidentin. Auf Schindlings Drängen hin hatte sie eine Verabredung mit dem Litauischen Botschafter abgesagt.

„Wer konnte auch damit rechnen, dass Steiger, Heinrichs und Schreiber politischen Selbstmord begehen“, sagte Schindling.

„Ob sie etwas wissen.“ Die Bundespräsidentin kannte jeden der drei südlichen Ministerpräsidenten persönlich. Sie hatte die drei als konservative Speersitze der CDU wahrgenommen. Dass sie aber Anführer einer solchen Bewegung sein würden, hatte sie ihnen nicht zugetraut.

„Was sollte das sein?“ Ein Verdacht überkam Schindling. „Wir haben zu lange weggeschaut. Ich hätte das Sezessionsgeschwätz der Vereine nicht als albern abtun sollen. So hat keiner mitbekommen, was für eine Bewegung im Untergrund entstanden ist.“

„Wie auch?“, erwiderte die Bundespräsidentin. „Nichts deutete darauf hin, dass die Idee auf eine breite Zustimmung stoßen könnte.“

„Ein fataler Irrtum.“

„Noch ist es nicht zu spät, was erwarten Sie von mir?“

Die Offenheit der Bundespräsidentin erleichterte Schindling eine Antwort.

„Die neue Regierung braucht Ihre Unterstützung. Sie müssen uneingeschränkt zu ihr halten.“

Dass die Bundespräsidentin politisch keine Entscheidungsmacht besaß, war für Schindling zweitrangig. Ihm ging es darum, dass sie Deutschlands moralisch höchste Instanz war.

Vor ihm begab sich die Bundespräsidentin jetzt ins Innere von Schloss Bellevue. „Was denken Sie, kommt auf uns zu?“, sagte sie.

„Zunächst werden die Ministerpräsidenten und ihre Anhänger von uns unter Druck gesetzt.“ Von der Treppe aus folgte Schindling der Bundespräsidentin. „Dasselbe gilt für die Firmen und Medienanstalten, die von Carstheim und die Separatisten unterstützen.“

„Ist es vorstellbar, dass die Ministerpräsidenten von den jeweiligen Landtagen abgesetzt werden?“ Das Schloss war leergefegt. Die Bundespräsidentin hatte dem Personal die Anweisung gegeben, sie alleine zu lassen.

„Nein. Die Landtagsabgeordneten der CDU und der FDP halten fürs Erste zu ihren Landeschefs. Sie, wie auch die Menschen des Südens, warten ab, wie sich die Sezession entwickelt.“

„Unfassbar.“ Die Bundespräsidentin neigte den Kopf und lächelte sanft.

Schindling fühlte sich geborgen, was ihn zur Ehrlichkeit bewog.

„Noch hoffe ich, dass die verantwortlichen Politiker durch schlechte Umfragewerte einknicken. In den kommenden vierundzwanzig Stunden haben die Meinungsforschungsinstitute die Zukunft des Landes in der Hand. Morgen werden die ersten verlässlichen Umfrageergebnisse bekanntgegeben. Alles, was Sie bisher gehört haben, ist an den Haaren herbeigezogen.“

Die Bundespräsidentin begradigte den Kopf.

„Sollten die Umfrageergebnisse im Süden Pro-Volksabstimmung ausfallen …“

„… werden die Separatisten ordentlichen Rückenwind erhalten und was dann geschieht, weiß Gott alleine“, ergänzte Schindling.

„Im Süden gibt es starke Kräfte, die für einen Verbleib in der BRD plädieren. Können die drei Bundesländer überhaupt ohne die Bundesrepublik bestehen?“

Seit achtundvierzig Stunden beschäftigte sich Schindling mit dieser Frage. Er entschied sich für die Wahrheit.

„Offiziell vertrete ich einen anderen Standpunkt. Aber wenn ich ehrlich bin, sind sie weder wirtschaftlich noch geographisch von Deutschland abhängig. Ja, sie könnten ohne die BRD bestehen. Ich weiß aber nicht, ob das umgekehrt der Fall ist.“

Schindlings Ehrlichkeit löste eine tiefe Bestürzung bei der Bundespräsidentin aus. Sie lief zu einem kleinen Tisch, der in einer bedeutungslosen Nische des Schlosses stand, und setzte sich. Es fiel ihr nicht leicht, den letzten Satz des Kanzlers zu verarbeiten.

„Die Verschuldung ist jetzt schon unerträglich hoch, ohne die drei wirtschaftlich stärksten Länder kann Deutschland seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Die Rating-Agenturen würden uns auf das italienisch-griechische Niveau herabstufen.“

„Für den Nord-Osten geht es also ums Ganze.“

„So ist es.“ Schindling setzte sich ermüdet zur Bundespräsidentin.

Dass die ihn seit seinem Eintreffen pragmatisch ausfragte, gefiel ihm aber. Er revidierte seine Meinung über sie. Sie suchte nicht nach Ausreden oder Schuldigen.

„Die Kampagne, die er losgetreten hat, ist mit normalen Maßstäben nicht zu bewerten. Selbst auf Kinokarten macht er Werbung für den 26. Oktober. Wo auch immer Sie im Süden spazieren gehen, treffen Sie auf Propaganda, die Ihnen sagt, warum ein Verbleib in der Bundesrepublik falsch ist.“

„Werden die Menschen ihm folgen?“

„Deutschland und Europa geht es so schlecht wie noch nie, das nutzen die Männer um von Carstheim gnadenlos aus. Und demnächst werden die neusten Arbeitslosenzahlen bekanntgegeben. Sie werden alles noch verschlimmern.“

„Nicht zu vergessen, die Rekordzahl von 7,6 Millionen Hartz IV Empfängern.“ Der Bundespräsidentin waren die neusten Zahlen genauso bekannt. Die waren aber nur ein Teil ihres Problems. Eine von der Regierung erstellte Prognose war zu dem Ergebnis gekommen, dass in absehbarer Zeit keine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt stattfinden würde.

„19 Prozent der erwerbsfähigen Deutschen stehen ohne Arbeit da“, sagte Schindling „Und das bedeutet, dass 49 % der Deutschen von Transferleistungen des Staates abhängig sind.“

„Eine gesunde Volkswirtschaft kann sich nicht mehr als dreißig Prozent erlauben.“ Der Verlauf des Gespräches hatte die Befürchtungen der Bundespräsidentin bekräftigt. Die Sezession war keine Momentaufnahme. „Es kommt alles zusammen. Linksrutsch, hohe Arbeitslosigkeit und EU-Verdrossenheit, von der Wut auf den Euro ganz zu schweigen“, sagte sie.

„Besonders der nach dem Austritt einiger Länder unkontrollierbar gewordene Euro schwächt Deutschland und die EU“, erklärte Schindling schweren Herzens.

„Dazu noch die Kürzungen im Sozialwesen. Die Separatisten um von Carstheim geben natürlich der Berliner Politik die Schuld.“

„Und all das zusammen ergibt einen Revolutionscocktail, der die Unzufriedenen und Ängstlichen betrunken macht. Benebelt von diesem Cocktail werden sie Dinge tun, die wir jetzt noch nicht für möglich halten.“

„Sie müssen schnell wieder nüchtern werden.“

„Eben das ist schwierig. Schlagworte wie verfehlte Bildungs-, Arbeits-, Wirtschafts- und Einwanderungspolitik kommen bei den Süddeutschen gut an.“ Schindling konnte nicht mehr sitzen bleiben.

„Ist es vorstellbar, dass genügend Menschen des Südens das alles dauerhaft glauben und die BRD auf den Scheiterhaufen der Geschichte werfen?“, fragte die Bundespräsidentin.

„Die Geschichte hat oft genug gezeigt, dass die Menschen schnell bereit sind, einen Schuldigen zu suchen und wenn er ihnen präsentiert wird, denken sie nicht nach.“

„Vor vielen Jahren hat ein Vorgänger von Ihnen gesagt, dass die Politik, geschwächt durch die Käuflichkeit der Politiker, keine Gesetze mehr für die Wirtschaftlichkeit des Landes erlässt. Sondern nur noch für die Zukunft der großen Firmen und Banken. Leider hat er Recht behalten. Die Politik hat zu viele Gesetze erlassen, die den Globalplayern alle Freiheiten ließen.“

„Dafür erhielten sie ja auch gute Jobs in der freien Wirtschaft“, entfuhr es Schindling.

„Das macht es nicht besser.“

Von ihrem Sitz aus lief die Bundespräsidentin auf die Bilderreihe der Bundespräsidenten zu. Ihre nächsten Worte flüsterte sie nur, doch der Vorwurf war deutlich herauszuhören.

„Haben Sie nicht das Versprechen eines Ölmultis in der Tasche? Dort, wann immer Sie wollen, als Berater einsteigen zu können? Und diese Zusage haben Sie vor der Wahl erhalten.“

Schindling stutzte.

„Sie haben recht, das System macht es einem, ob man will oder nicht, zu leicht. Wollen Sie aber diejenige sein, die die Gesetze ändert, um solche Käuflichkeit im Keim zu ersticken? Sie wären schneller weg vom Fenster, als Sie Abwahl aussprechen könnten.“

„Und was haben wir jetzt von der Passivität? Die Sezession verspricht den Menschen einen Neuanfang und die Arbeitslosenzahlen geben ihnen recht.“

Die Bundespräsidentin schritt zum ersten Bild in der Reihe.

„In der Tat wäre es nicht das erste Mal in der Geschichte dieses Landes, dass solche Arbeitslosenzahlen, Proteste gegen die bestehende Regierungsform heraufbeschwören“, sagte Schindling. „Und auch der Glaubensäquator spaltet den Süden ab. Es ist denkbar, dass die katholische Kirche die Sezession unterstützen wird. Die von Natur aus konservativen Katholiken fühlen sich seit Langem als Verlierer der Globalisierung. Themen, wie der Islam und liberaler Umgang mit anderen nicht-christlichen Religionen, könnten die Katholiken in Scharen in die Arme der Separatisten treiben. Von der Kanzel aus könnten von Carstheims Worte gepredigt werden.“

„Geht es ihm um persönliche Macht?“ Die Bundespräsidentin musste die Frage stellen. Ihr Wissen über von Carstheim beruhte auf Berichte aus den Medien.

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen darauf antworten.“ Resignierend senkte Schindling die Schultern.

„Er war der Erste.“ Die Augen der Bundespräsidentin suchten das Porträt von Theodor Heuss. „Hoffentlich werde ich nicht die letzte deutsche Bundespräsidentin sein.“

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