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4. 22. SEPTEMBER | Kanzleramt Berlin | 16 Uhr

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Kanzleramtsminister Alfred Jonas hielt den Bericht des militärischen Abschirmdienstes fest umklammert. Der Bericht beschrieb bis ins kleinste Detail das, was sich gestern in Afghanistan ereignet hatte. Zwei Selbstmordattentäter hatten sich bei einer Hausdurchsuchung vor eine Bundeswehrpatrouille geworfen und sich mitsamt der Patrouille in die Luft gesprengt. Und auch auf die Gefahr, dass der Bericht Schindlings gute Stimmung trüben würde, duldete das Thema keinen Aufschub. Deutschland konnte sich einfach nicht an die in Zinksärgen heimkommenden Bundeswehrsoldaten gewöhnen. Zusätzlich litten immer mehr Soldaten an den posttraumatischen Auswirkungen ihres Einsatzes. Keiner im Land sprach mehr von einem humanitären Einsatz und die gesamte Bundesrepublik bereute die Rückkehr in das Land am Hindukusch. Von Beginn an hatte Jonas zu den Kritikern der neuerlichen Besetzung gehört. Nach dem endgültigen Abzug der ISAF-Truppen war das Land erneut im Chaos versunken. Die Taliban hatten sich unterstützt vom Islamischen Staat in Afghanistan ausgebreitet. Und der um seine Wiederwahl ringende republikanische Präsident der USA hatte die UNO aufgefordert, Afghanistan ein zweites Mal zu besetzen.

„Der Westen muss die religiösen Fanatiker aufhalten, damit die Revolution nicht auf die Atommacht Pakistan überspringen kann“, hatte der amerikanische Präsident betont. Und unter dem Druck der wirtschaftlich sterbenden Weltmacht, die unbedingt ein Einsatzgebiet für ihre gigantische Armee suchte, hatte die UNO ein neuerliches Mandat über Afghanistan verhängt. Ohne dieses Zugeständnis wäre ein Krieg gegen den Iran unvermeidlich geworden. Deren wiederbelebtes Atomprogramm und die andauernden Drohungen gegen Israel hätten ansonsten zu einem unberechenbaren Krieg in der Golfregion geführt.

Im Gegensatz zum ersten Einsatz wurden die ISAF-Soldaten diesmal aber, von der vom Westen enttäuschten afghanischen Bevölkerung, strikt abgelehnt. Die Truppen hatten von Beginn an einen schweren Stand.

„Neun tote Bundeswehrsoldaten, und das am Wahlabend, du musst endlich für ein Ende sorgen“, sagte Jonas zögerlich.

„Wenigstens habe ich jetzt einen Grund dem ein Ende zu bereiten“, entgegnete Schindling im Wissen, dass ihm das Tagesgeschäft keine Zeit zum Feiern gab. „Zunächst müssen wir aber die Koalitionsverhandlungen hinter uns bringen. Mit einer starken, links orientierten Regierung sollte es uns gelingen, das Mandat zu beenden.“

„Wir sollten Afghanistan auf Platz Eins unserer To-do-Liste setzen. Du könntest den Anschlag auch benutzen, um endlich in Bezug auf Sude aktiv zu werden. Du hast doch weiterhin vor, ihn abzuschießen?“

„Ich werde bestimmt keinen Verteidigungsminister bestätigen, der bei den April-Ausschreitungen den Vorschlag geäußert hat, Bundeswehrsoldaten gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Solche Äußerungen sind nicht tolerierbar.“ Zornesröte stieg Schindling ins Gesicht und obgleich er, bis in die frühen Morgenstunden, auf der SPD-Wahlparty im Willy-Brandt-Haus getanzt hatte, wirkte er taufrisch.

„Das heißt?“

„Die Wahl ist gewonnen. Es gibt keinen günstigeren Zeitpunkt, um ihn abzusetzen. Innerparteilich kann er mir nicht mehr gefährlich werden und rate mal, wer vor der Tür steht.“ Schindling öffnete seine Bürotür. „Herr Sude, bitte treten Sie ein.“

„Schießt du ihn gleich hier und jetzt ab“, fragte Jonas ungläubig.

„Pssst, gönn mir den Spaß.“

„Herr Bundeskanzler, wegen der neun getöteten Soldaten brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es ist nur eine Zahl, die ich den Bürgern verkaufen muss.“ Wichtigtuerisch wuchtete Sude sich in Schindlings Büro. Er war ein kleiner, fettleibiger, grobschlächtiger Mann und sein Bürstenhaarschnitt harmonierte nicht mit seinem Alter.

„Keine Angst. Ich habe Sie nicht wegen der getöteten Soldaten herzitiert.“

„Weswegen dann?“ Sudes Körperhaltung lockerte sich. Er hatte befürchtet, dass Schindling ihn wegen des Anschlags sprechen wollte und ihn zur Rechenschaft ziehen würde.

„Ich wollte Sie nur umgehend darüber informieren, dass Sie in der neuen Regierung keine Berücksichtigung finden werden. Weder als Verteidigungsminister noch in einem anderen Ministerium.“

„Wieso das?“ Sude wurde Blass. „Sie hatten mir doch versprochen, dass ich bei einem Wahlsieg Finanzminister werde.“

„Wir haben es uns eben anders überlegt.“ Im Gegensatz zu Schindling verbarg Jonas seine Genugtuung nicht. Ein breites Lächeln schmückte seinen Mund. Sudes radikale Einstellung und die hinter verschlossenen Türen getätigten hochtrabenden Reden, waren ihm stets ein Gräuel gewesen.

„Wir werden die Umbesetzung des Verteidigungsministeriums aber erst in drei Wochen bekanntgeben. In einer so schwierigen weltpolitischen Lage möchte ich die Soldaten nicht zusätzlich verunsichern.“ Ausdruckslos haftete Schindlings Blick auf Sude und nur die Lachfalten seiner Augen signalisierten, dass er eine diebische Freude empfand.

„Das ist eine Frechheit“, polterte Sude und die Blässe in seinem Gesicht wich einer starken Röte. „Sie sind einfach undankbar nach allem, was ich für Sie getan habe.“

„Beruhigen Sie sich. Sie bekommen sonst noch einen Herzinfarkt“, sagte Jonas.

„Sie können mich mal. So lasse ich nicht mit mir umspringen, das werden Sie noch bereuen“, schimpfte Sude und stampfte hinaus.

„Das ging schnell. Er zieht ab, ohne mir eine Szene zu machen.“ Bestärkt durch Sudes schnellen Abgang machte auch Schindling kein Geheimnis mehr aus seiner Genugtuung.

„Das wird noch kommen. In einer dunklen Gasse hätte er sich auf dich geworfen.“

„Ihm ist alles zuzutrauen. Bei seiner Verabschiedung stellst du dich am besten hinter ihn und mit vorgehaltener Hand flüsterst du ihm zu, dass er seine Pension riskiert, wenn er den Kanzler angreift.“

„Als ob ich nicht genug damit zu tun habe, das Kanzleramt von der CDU zu säubern.“ Jonas tat so, als würde er sich die Stirn trocken wischen.

„Vor zwei Minuten hätte Sude dir noch mit einem Bataillon geholfen, das kannst du jetzt aber vergessen“, antworte Schindling mit dem ihm eigenen Humor auf Jonas' gespielte Anstrengung.

„Das bekomm ich auch so hin. Wen willst du aber zum neuen Verteidigungsminister ernennen?“

„Brandner könnte einen guten Verteidigungsminister abgeben. Er ist intelligent und weniger aggressiv“, antwortete Schindling nach einem kurzen Überlegen.

„Als Fraktionsvorsitzender in einer Doppelfunktion, ist das gut?“

„Zur Not müssen wir einen neuen Fraktionsvorsitzenden finden. Das hat aber noch Zeit. Zuvor muss ich zu Walter. Fröhlich und er wollen mich unbedingt sprechen.“

„Es ist dein Tag“, sagte Jonas. „Viel Spaß noch.“

„Werde ich haben.“

Bei seinem nun folgenden Spaziergang durch das Kanzleramt konnte Schindling sehen, dass in den von der SPD geleiteten Abteilungen eine ausgelassene Stimmung herrschte. Von überall wurde ihm gratuliert und angekommen im sechsten Stock betrat er den kleinen Kabinettsaal des Kanzleramtes, in dem sich Fröhlich und der Innenminister mit ihm verabredet hatten.

„Was gibt es den Wichtiges, dass ihr es unbedingt noch heute mit mir besprechen müsst?“, sagte er von den Dolmetscherkabinen zum Innenminister und Fröhlich.

„Es geht um ein Netzwerk von gemeinnützigen Vereinen, das seit Jahren über Deutschland verteilt wurde. Wir schätzen, dass es mittlerweile um die achthundert sind. Nach außen haben sich die Vereine den Anschein sozialen Engagements gegeben. Doch meine neusten Ermittlungen haben ergeben, dass sie miteinander verflochten sind. Zur obersten Führungsebene gehören Gruber und Grahammer“, sagte Fröhlich emotionslos. Der Innenminister hatte ihn darauf vorbereitet, dass Schindling wenig Zeit im Gepäck mit sich trug.

„Welche Vereine sollen was getan haben?“ Schindling hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit solch einer Bekanntmachung.

„Schönes Bayern, Dein Baden-Württemberg e. V. und weitere gleich gelagerte Vereine sind dabei, gegen Deutschland vorzugehen. Ich kann nur noch nicht sagen wie.“

„Walter, was soll das?“ Entsetzt drehte Schindling sich zum Innenminister.

„Es mag unglaublich klingen, aber hör ihm zu.“

„Du glaubst ihm, oder was?“ Schindling schüttelte ungläubig den Kopf.

„Herr Bundeskanzler, vor zwei Jahren wurden zwei Beamte des Staatsschutzes von Gruber abgemahnt, weil sie entgegen seiner Anweisung weiter recherchierten.“ Fröhlich hatte energisch gesprochen, aber das richtige Maß an Respekt beibehalten.

„Na und?“

„Andreas, gib ihm eine Chance“, sagte der Innenminister ebenso energisch wie Fröhlich. „Vorgestern habe ich auch noch gedacht, dass es überzogen ist, was Herr Fröhlich behauptet. Doch mittlerweile ist das was anderes.“

„Ich bitte dich, wo soll das hinführen?“ Schindling war nahe dran die Unterredung zu beenden. Neun getötet Soldaten waren eine Tatsache. Das hier ging aber zu weit.

„Hör dir an, wer der Verantwortliche ist“, sagte der Innenminister nun dermaßen beschwörend, dass Schindling sich in sein Schicksal fügte.

„Ich höre“, sagte er ergeben.

„Herr Bundeskanzler. Heute Morgen hat der Verfassungsschutz, auf meine Weisung hin, zwei Vereinszentralen durchsucht. Das Ergebnis ist eindeutig. Beim Geldgeber handelt es sich um Adrian Benedikt von Carstheim.“ Fröhlich brauchte nichts mehr zu sagen.

„Wir reden also über die Bühler Firmengruppe, Le Train und Marc Anton Moden.“ Schindlings ablehnende Haltung gegen das Gehörte schwand. Von Carstheim traute er alles zu. Bei den Verhandlungen über Le Train, hatte er die Brutalität des Freiherrn kennengelernt. Von Anfang an hatte von Carstheim seine geschäftliche Ausnahmestellung in die Waagschale geworfen und sogar Brüssel hatte er zu Zugeständnissen bewegt, die er nicht für möglich gehalten hätte. Deutschlands Geschäftsmann Nummer eins hatte zu verstehen gegeben, dass für ihn die Politiker in Europa zu schwach waren, um den Kontinent aus der Krise zu führen.

„Herr Bundeskanzler. Die Aktivitäten der Vereine haben eine Intensität angenommen, die mich befürchten lässt, dass ein großes gemeinsames Projekt unmittelbar bevorsteht“, sagte Fröhlich in Schindlings Nachdenken.

„Und was meinen Sie, worum könnte es ihm gehen?“, erwiderte Schindling abwesend. Sein Gedächtnis war auf der Suche nach Erinnerungen an von Carstheim.

„Kann ich noch nicht sagen. Ich vermute aber, dass nur ein kleiner Teil der Vereinsmitglieder darüber informiert ist. In einem abgehörten Gespräch fiel das Wort Volksabstimmung.“

„Europas reichster Mann gründet gemeinnützige Vereine, die über die gesamte Republik verteilt sind“, sagte der Innenminister. „Dabei schreckt er nicht einmal vor nationalistischen Äußerungen zurück. Gleichzeitig koordinieren die Vereine ihr Vorgehen, halten das aber geheim. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass von Carstheim einen Staatsstreich gegen die Bundesrepublik plant.“

„Du spinnst ja, das ist vollkommener Irrsinn! Von Carstheim hat eben erst die Le Train-Verträge unterschrieben. Sollte er einen Umsturz gegen eine europäische Regierung planen, wäre das sein Ende. Außerdem leben wir in einem demokratischen Staat!“ Stirnrunzelnd sah Schindling seinen Innenminister an.

„Genau das könnte sich als Problem erweisen. Von Carstheim will eine Volksabstimmung! Worum geht es ihm, was möchte er zur Abstimmung bringen?“

Schindling war durch und durch Politiker und deswegen konnte und wollte er die Sorgen des Innenministers nicht übergehen. Und zudem hatte er von Carstheim als unberechenbaren Mann kennengelernt.

„Ihr habt meinen Segen. Macht was ihr wollt, Hauptsache ihr besorgt mir Antworten und das bald. Der Zeitpunkt gibt mir zu denken. Das Parlament ist unmittelbar nach der Wahl mit der Regierungsbildung beschäftigt. In diesen vier Wochen ist Deutschland politisch relativ handlungsunfähig. Gerade nach einer Großen Koalition, die nicht fortgesetzt wird. Ich möchte nicht, dass von Carstheim uns vor vollendete Tatsachen stellt.“

„Noch könnte es sein, dass alles nur ein Sturm im Wasserglas ist“, erwiderte der Innenminister. Er war jedoch weniger zuversichtlich, als er vorgab zu sein.

Die Freistaaten

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