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Wiesbaden | Staatskanzlei | 14 Uhr

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Im Rekordtempo hatte ein Bundeswehrhubschrauber den Innenminister und Dana nach Wiesbaden transportiert. Der Flug war mehr als ungemütlich und die Landung nicht besser. Der Pilot hatte den Hubschrauber nach einigem Hin und Her mit der Flugsicherung auf einer kleinen Wiese, die nur achtzig Meter von der Staatskanzlei entfernt war, abgesetzt. Und bedrängt von Presse und Schaulustigen, die getrieben von Sensationsgier die Staatskanzlei belagerten, hatten der Innenminister und Dana den Schutz des hessischen Regierungssitzes aufgesucht. Deutschlands selbsternannte Demokratiewächter parkten kreuz und quer in den Straßen. Von Carstheims angestrebte Sezession und Schreibers PK hatten einen Medienkrieg um die besten Plätze ausgelöst. Im Sekundentakt trafen Übertragungswagen ein und die Polizei war heillos überfordert.

„Herzlich willkommen. Hatten Sie eine angenehme Reise?“, wurde der Innenminister im Inneren der Staatskanzlei von einem nervösen Referendar des Ministerpräsidenten angesprochen.

„Geht so“, antwortete der Innenminister abweisend – sein unfreundliches Gehabe verunsicherte den Referendar und schweigend geleitete er sie zu Steigers Büro.

„Und jetzt?“ Der Innenminister schüttelte den Kopf. Die Unschlüssigkeit des Referendars brachte ihn noch mehr in Rage. Hilflos hatte der auf Steigers Tür gezeigt.

„Sie können jederzeit eintreten, der Herr Ministerpräsident erwartet Sie.“ Die Stimme des Referendars war zu einem dünnen Plätschern verkommen.

„Danke.“

„Soll ich Sie anmelden?“

„Das Klinkedrücken bekomme ich hin.“

„Wenn das so ist, dann entschuldigen Sie mich“, sagte der Referendar und lief davon. Mitleidig beobachtete Dana den Abgang des überforderten Referendars.

„Frau Engelhard, Sie warten hier. Die ersten Verhandlungen will ich unter vier Augen aufnehmen.“

„Ja natürlich, und viel Glück, oder was sagt man in solch einem Moment?“

„Woher soll ich das wissen, für mich ist es auch eine Premiere, um die deutsche Einheit zu verhandeln.“

„Wie wäre es mit Hals- und Beinbruch?“

„Kommt hin. Es ist eine besondere Bühne, die ich betrete.“ Der Innenminister ergriff die Klinke.

„Werfen Sie einen Blick in Steigers Büro. Es lohnt sich.“ Schwungvoll drückte der Innenminister die Tür auf und neugierig reckte Dana den Hals. Das, was sie zu sehen bekam, war ein Abklatsch der sechziger Jahre. Ein kleiner Beistelltisch, auf dem eine kitschige, mit blauen Veilchen dekorierte Vase stand, hatte einst sogar in Adenauers Büro gestanden. Steiger wurde nicht müde, jedem Besucher zu erzählen, dass Adenauer selbst seinen Fuß auf den Tisch gestellt hatte.

Das Einzige was nicht in die Einrichtung gehörte, war der Flachbildfernseher, der in einer altmodischen Kommode steckte.

„Kaum zu glauben, was da vor sich geht.“ Steiger schaltete den Fernseher auf Stumm.

„Ich wünschte, es wäre ein schlechter Scherz“, sagte der Innenminister und mit seinem Rücken drückte er die Tür zu.

„Durchaus denkbar, dass der gesamte süddeutsche Adel sich der Sezession anschließen wird“, erwiderte Steiger bei dem Anblick, der sich ihm bot. Der Sender zeigte Bilder vom Münchner Marienplatz. Jubelnde Menschen hielten selbst gemalte Schilder hoch. Vorwärts ohne Berlin. Auf geht’s Bayern, konnte er lesen und ein Mann, der die Fahne der Konföderierten schwenkte, mit der die amerikanischen Südstaaten in den Krieg gezogen waren, drängte sich ins Bild. Steiger reichte das Gesehene. Er schob die Schiebewand der Kommode vor den Fernseher. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sich auch den Innenminister mit einer Handbewegung vom Hals geschaffen. Ihm lag es zwar fern, die Sezession zu unterstützen. Sich zu früh gegen sie zu stellen, war aber auch nicht klug. Missmutig hatte er dem kurzfristigen Besuch des Innenministers zugestimmt.

„Robert. Nach den Entwicklungen in Bayern und Baden-Württemberg ist Hessen für Deutschland von enormer Wichtigkeit geworden. Der Kanzler muss wissen, wie du zur Volksabstimmung stehst? Was weißt du darüber und was können wir von dir erwarten? Und überhaupt: Spreche ich mit einem Deutschen oder zu einem Hessen?“

Steiger war, was Aussehen und Charakter betraf, das genaue Gegenteil vom Innenminister. Er glich eher einer deutschen Eiche. Stämmig und solide präsentiert er sich seit jeher dem Wahlvolk und seiner Partei.

„Im Gegensatz zu Bayern und Baden-Württemberg gibt es in Hessen keine breite Zustimmung zur Sezession. Das muss aber nicht so bleiben.“

In Steigers Aussage lag eine Distanz, die der Innenminister auch deutlich in dessen Ausstrahlung wahrnehmen konnte.

„Die zwischen dem wirtschaftspolitischen Flügel des Südens und Berlin entstandenen Diskrepanzen dürfen nicht dafür verantwortlich sein, dass du der Sezession zustimmst“, sagte er.

„Was die wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen anging, hättet ihr mehr auf die Wünsche des Südens eingehen sollen.“ Steiger überlegte, ob er noch ein paar Punkte, wie Energiepolitik, Rentenentwicklung, Subventionsabbau oder Flüchtlingspolitik, ansprechen sollte. Er ersparte dem Minister aber die Belehrungen.

„Jede Entscheidung der Regierung wurde zum Besten der Bundesrepublik getroffen.“ Mehr konnte der Innenminister nicht erwidern. Ihn überkam die Furcht, Steiger über diese Thematik in die Arme der Sezession zu treiben und Steigers Antwort bestärkte ihn umgehend in dieser Befürchtung.

„Ich kann mich an keine politische Wende der Regierung erinnern, die dem Süden Geld gebracht hat. Im Gegenteil, jeder politische Schwenk der Regierung kostete uns Geld. Und im Vorfeld der Bundestagswahl haben die verschiedensten süddeutschen Interessensgruppen Deutschland gewarnt, dass eine linksgerichtete Regierung unter Schindling nicht ohne Widerstand hingenommen wird. Der Süden kommt sich wie euer Finanzminister vor. Der flucht doch bei jeder Gelegenheit darüber, dass Deutschland die Melkkuh der EU ist.“

„Halt“, sagte der Innenminister. Steiger sprach aber einfach weiter.

„Reg dich nicht auf. Natürlich sagt er so was nur hinter verschlossenen Türen. Doch das Wichtigste an der Aussage ist, dass sehr viele Deutsche das genauso sehen. Den Bürgern des Südens geht es ähnlich. Sie haben kein Verständnis mehr dafür, dass die BRD ihr Geld nimmt, aber zukunftsweisende Entscheidungen an ihren Interessen vorbei trifft.“ Demonstrativ stellte Steiger seinen Fuß auf Adenauers Tisch.

„Die Politik ist ein Feld, auf dem man über alles diskutieren kann. Aber die Sezession zu unterstützen, wäre das mit Abstand Blödeste, was du und Hessen machen könntet. Robert, ich muss wissen, ob du und Hessen zu Deutschland stehen.“

Steiger blies die Wangen auf und er nahm den Fuß vom Tisch. Lautstark presste er die Luft aus den Lungen.

„Ich wäre heimatlos, wenn ich zu Deutschland stehe, die Idee der Unabhängigkeit sich aber wider Erwarten durchsetzt. Mir liegt aber auch nichts daran, dich und den Kanzler auf die lange Bank zu schieben.“

Dem Innenminister reichte das Gehörte nicht.

„Der Kanzler muss wissen, ob du bereit bist, eine Entscheidung für Deutschland zu treffen!“, sagte er nach einem kurzen gegenseitigen Belauern.

„Vor morgen kann ich dir keine Antwort geben. Ich muss noch ein Gespräch führen. Um dir das Warten aber zu versüßen, lade ich dich ein, mich auf die Geburtstagsfeier des Frankfurter Oberbürgermeisters zu begleiten.“

„Ich werde mich scheinbar gedulden müssen.“ Der Innenminister tat alles, um seinen aufsteigenden Unmut zu verbergen. Steiger hielt sich alle Optionen offen. Diese Vorgehensweise gehörte seit jeher zu den Spielchen der Macht, die jeder Politiker betrieb, um die eigene Position zu stärken.

Von Carstheim drängte den schwarzen BMW aus der Tiefgarage des Fingers in den fließenden Verkehr.

„Die Presse wird über uns herfallen.“ Kritische beäugte Sara vom Beifahrersitz aus die Versuche ihres Bruders, sich auf Frankfurts Straßen zurechtzufinden.

„Und sie wird nicht zimperlich sein.“ Von Carstheim schaltete einen Gang runter. Heulend meldete sich das Getriebe. „Wer fährt denn noch mit Gangschaltung?“, fluchte er.

„Bislang sind nur negative Stimmen zu hören.“

„Ich habe nie verschwiegen, dass es zu Beginn der Sezession schwierig werden könnte.“ Von Carstheim drückte den Schalthebel in den dritten Gang und diesmal ließ er die Kupplung langsam kommen, das Heulen des Getriebes starb ab.

„Du setzt alles darauf, dass Bayerns und Baden-Württembergs Bürger auf deinen Kurs einschwenken. Was wenn nicht?“ Insgeheim bereute Sara, dass sie Adrian wider besseres Wissen das Steuer überlassen hatte.

„Die beiden Länder haben schon immer Wert auf ihre Unabhängigkeit gelegt. Sie wollten auch nicht unbedingt dem Deutschen Reich beitreten. Es gab starke Kräfte, die dagegen waren. Diese Gegner gibt es auch heute noch. Und mittlerweile sind es mehr denn je. In Wirtschaft, Sicherheit, Bildung und Einwanderung kam kein vernünftiger Kompromiss mehr zustande. Die Menschen und Politiker des Südens haben nur auf diese Gelegenheit gewartet“, sagte von Carstheim mit aus dem Mundwinkel hängender Zunge. Er war voll und ganz mit dem BMW und dessen Schaltung beschäftigt.

„Was geschieht, wenn du auf Steiger und den Innenminister triffst?“

„Kommt drauf an, wie die auf mich reagieren.“

„Du willst dich mit ihnen anlegen?“

„Nur mit dem Innenminister. Steiger werde ich, bis zu einem gewissen Grad, pfleglich behandeln.“

„Steiger ist überaus ehrgeizig. Du wirst dich nie auf ihn verlassen können.“

„Ach nein.“ Von Carstheim schlug das Lenkrad ein und fuhr auf die rechte Spur.

„Pass auf“, schrie Sara.

Von Carstheim korrigierte die Fahrspur und um Haaresbreite verfehlte der BMW einen parkenden Wagen. Der Krankenwagen, der ihn zu dem plötzlichen Spurwechsel bewogen hatte, überholte sie mit eingeschalteter Sirene.

„Warum willst du überhaupt ans Steuer, wo du so ein schlechter Autofahrer bist?“, tobte Sara über das Geheul der Sirene. „Selbst das Ersatzrad hat mehr Fahrpraxis als du.“

„Auf wen kann man sich bei einer Revolution schon verlassen? Der Druck der Bevölkerung wird die Politiker aber in der Spur halten. Die Nächste rechts, oder?“, sagte von Carstheim unberührt von Saras Angriff auf seine Fahrkünste.

„Ja rechts.“

„Und da ist es auch schon.“ Weit ausholend und über zwei Spuren bog von Carstheim ab. Das Hotel, auf das er zufuhr, wurde von einem Presseheer belagert.

„Sieht aus wie bei einer Oscar Verleihung.“ Sara machte ein verstecktes Kreuzzeichen. Sie hatte die Fahrt überlebt.

„Die wollen den Ministerpräsidenten sehen. Die Sezession hat Steiger zum wichtigsten Politiker des Landes gemacht.“ Von Carstheim lenkte den BMW in die Auffahrt, die für die geladenen Gäste vorgesehen war.

Zwei Männer in Neonwesten hoben ihre Leuchtstäbe und er trat auf die Bremse. „Was soll das denn?“

„Sie überprüfen das Nummernschild.“

Einer der Leuchtstäbe deutete nun zum Haupteingang. Von Carstheim fuhr holpernd los und hinter einem blauen Hummer hielt er wieder an.

„Auf, zeigen wir uns.“ Von Carstheim stieg aus und umlief den BMW.

Die Reporter, die eben noch in Bewegung waren, erstarrten. Der Mann, für dessen Interview ein jeder von ihnen bereit war seine Seele zu verkaufen, war auf der Geburtstagsfeier des Frankfurter Oberbürgermeisters erschienen. Der Innenminister und der hessische Ministerpräsident waren ebenfalls anwesend. Das würde Schlagzeilen geben und nicht ein Handy blieb unberührt. Die Leitungen liefen heiß. Frankfurt hatte seine Sensation.

Von Carstheim schritt, während die Presse nun ihrer Phantasie freien Lauf ließ, durch den Ballsaal des Hotels. Überall standen weiß eingedeckte Tische und an den Fenstern hingen Gardinen, die mit Szenen aus der Frankfurter Stadtgeschichte bestickt waren. Rechts von der Tanzfläche war ein großzügiges Buffet aufgebaut. Eine Kapelle sorgte für dezente Hintergrundmusik und ein breiter Durchgang führte von der Tanzfläche auf eine ausladende Terrasse.

Als er ihn und Sara kommen sah, unterbrach der Frankfurter Oberbürgermeister Böttcher seine Unterhaltung und beschwingten Schrittes lief er zu ihnen. Vor 12 Monaten war er zum Oberbürgermeister gewählt worden und mit seinen sechsunddreißig Jahren war er noch sehr jung. Die hochverschuldete Finanzmetropole setzte jedoch große Hoffnungen in seine Kreativität.

„Ich fühle mich geehrt, dass Sie meine Feier durch Ihr Erscheinen verschönern, Frau von Carstheim-Schlüchter und Sie haben noch einen Überraschungsgast mitgebracht, Herr Freiherr.“

Böttcher gab Sara einen Handkuss und im Anschluss reichte er von Carstheim die Hand.

„Herzlichen Glückwunsch! Sie sind doch nicht böse, dass ich kein Geschenk habe.“ Von Carstheim fühlte sich leicht.

„Wie könnte ich?“

Dicht trat Böttcher an ihn ran.

„Sie haben mir doch schon ein Geschenk gemacht. Im Gegenzug bring ich Sie zu Ihrem Bruder, der bereits eingetroffen ist.“

„Friedrich ist hier?“

Sara erntete einen überraschten Blick von ihm.

„Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn die von Carstheims in voller Stärke aufmarschieren.“

„Hier entlang“, sagte Böttcher und belustigt stellte von Carstheim fest, dass die Gäste ihn und Sara anstarrten. Erkennbar tuschelten sie über das adlige Geschwisterpaar. Jedes Augenpaar im Saal begleitete sie.

„Adrian“, dröhnte Friedrich, kaum dass er und Sara ihn erreicht hatten. Wie gewohnt strotzte Friedrich vor Vitalität. Er war ein Bilderbuch-Athlet und und als moderner Fünfkämpfer hatte er an zwei Olympischen Spielen teilgenommen. Er knutschte Sara ab und umarmte ihn.

„Euch geht’s gut.“

„Ja doch“, sagte von Carstheim und durch ein Senken der Schultern befreite er sich aus der stählernen Umarmung.

„Was will ich mehr?“

„Wir sprechen uns bestimmt noch“, verabschiedete Böttcher sich nach dieser Demonstration von Geschwisterliebe. Für ihn war es eh noch zu früh, um sich allzu lange in der Nähe der von Carstheims aufzuhalten.

„Steiger ist vor einer halben Stunde eingetroffen“, raunte Friedrich nach Böttchers Abgang.

„Deswegen bin ich gekommen.“

„Der Innenminister ist bei ihm.“

„Könnte lustig werden.“

„Ein erstes Aufeinandertreffen mit dem Feind, das wird die Presse freuen!“

„Sie werden nicht viel mitbekommen.“ Von Carstheim wich einem torkelnden Mann aus. „Ich bin aber auch an der hessischen Stimmung interessiert.“

Von Carstheim hatte wie Friedrich leise gesprochen und dabei den Saal durchforstet. Er war auf der Suche nach Steiger.

„Sind Sie nicht der Verrückte, der Deutschland spalten will?“ Der torkelnde Mann war zwischen einer Schar von Gästen stehen geblieben. Sein Zustand hinderte ihn aber nicht daran, von Carstheim herablassend anzusehen.

„Hey, Herr Freiherr, was meinen Sie, wird der Ministerpräsident morgen in seiner Rede bekanntgeben?“ Die eben noch versteckten Blicke des Umfeldes verwandelten sich in offene Neugierde.

„Die Landesregierung wird unter Steigers Führung eine vernünftige Entscheidung treffen. Steiger wird einen Weg beschreiten, der gut für Hessen und seine Bürger ist. Sie haben nichts zu befürchten“, erwiderte von Carstheim.

„Ich halte die Idee für bescheuert und jedem, der dabei hilft, ist nicht mehr zu helfen.“ Überheblich lachte der Mann über sein Wortspiel.

„Zwei Promille sind auch keine Lösung“, sagte Friedrich.

„Sie habe ich nicht gefragt. Ist sich der Herr Freiherr etwa zu fein, um sich mit mir zu unterhalten?“

Friedrich reichte das. Er wollte sich den Kerl schnappen.

„Du blamierst meinen Vater. Musst du so viel trinken?“ Eine brünette Frau, die zwischen ihn und den Mann getreten war, hielt Friedrich auf. „Er hat zu viel getrunken, nehmen Sie ihm das Gesagte bitte nicht übel“, sagte sie. Ihre dezent geschminkten schwarzen Augen sahen Friedrich traurig an.

„Weißt du nicht, wer das ist? Das ist von Carstheim, der Kerl will Deutschland spalten und keiner hier sagt was“, nuschelte der junge Mann.

„Sie sollten Ihrem Freund beibringen, dass man sich auf solch einer Party nicht sinnlos betrinkt“, sagte Friedrich mit Grabesstimme.

„Verzeihen Sie ihm. Er hat sein zweites Juraexamen zu sehr gefeiert.“ Die Brünette packte den Arm ihres Freundes.

„Wenn Vater das mitbekommt, kannst du die Anstellung in seiner Kanzlei vergessen.“

Die Erinnerung an seinen zukünftigen Job brachte den Jung-Anwalt schlagartig zur Vernunft. Widerstandslos ließ er sich von seiner Freundin abführen.

„Hübsch die Kleine, und dann solch ein Idiot“, sagte Friedrich in die Menge.

„Ich gehe frische Luft schnappen.“ Von Carstheim hatte Steiger entdeckt.

Auf der Terrasse wehte eine steife Brise. Von Carstheim fröstelte und aus dem toten Winkel näherte er sich dem hessischen Landesvater.

„Sie wollten mich sprechen.“ Steiger musste einen Spinnensinn besitzen.

„Ich wollte nur wissen, ob Sie es sich vorstellen könnten, die Volksabstimmung zu unterstützen oder zumindest zu tolerieren?“

„Sie kommen gleich zur Sache.“

„Ich bin kein Freund von Zeitverschwendung.“

„Da haben wir was gemeinsam.“

„Umso leichter sollte es Ihnen fallen, mir eine Antwort zu geben.“

„Gut machen wir es kurz“, sagte Steiger. „Sie können davon ausgehen, dass der Bundeskanzler mir ein gutes Angebot unterbreiten wird, wenn ich mich Deutschland gegenüber loyal verhalte. Außerdem fällt es mir schwer, mich für eine Sache einzusetzen, über die ich so dürftig informiert bin.“

„Was wollen Sie mir damit sagen?“

„Dass ich Hessens Zukunft im deutschen Verbund sehe.“

„Ist es Ihnen nicht verdächtig vorgekommen, dass Breuer Sie um die Verabredung gebeten hat? Sie haben doch eine gemeinsame turbulente Vergangenheit“, sagte von Carstheim in die Nacht.

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Hat Breuer ihnen nicht in Ansbach einen Koffer übergeben.“

Steiger zuckte zusammen. Dass er auf diesen Koffer angesprochen wurde, ließ ihn Übles ahnen.

„Sie können sich jetzt wahrscheinlich denken, wer der unbekannte Spender war, der Ihnen die zwei Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat. Wir beide wissen, dass Sie das Geld weder angegeben noch versteuert haben. Und ich besitze Beweise, die keinen Zweifel an Ihrer Schuld aufkommen lassen.“

„Das Gespräch dürfte auf eine Erpressung hinauslaufen, oder wie darf ich das verstehen?“ Steigers Zunge war belegt.

„Erpressung ist so ein hässliches Wort. Ich möchte lediglich, dass Sie morgen bekannt geben, dass Sie die Volksabstimmung tolerieren. Ansonsten müsste ich die Presse darüber aufklären, dass Sie nur mithilfe des Ansbacher Geldkoffers die Wahl gewonnen haben und von diesem Skandal wird nur die Sezession profitieren. Ein Ministerpräsident, der sich die Taschen füllt, wird die strapazierte Wählerseele zum Kochen bringen.“ Von Carstheim ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen.

„Die Wahl war schon gewonnen. Ich habe das Geld nur genommen, um mich abzusichern“, presste Steiger hervor.

„In der Politik geschehen solche Fehler öfters als man denkt.“

„Sie sind ein gefährlicher Mann.“ Steiger wandte sich ganz zu von Carstheim.

„Ansichtssache.“ Von Carstheim kratzte sich am Nacken. „War das schon alles.“

„Kommt auf Sie an. Darf ich wissen, wie Sie Schreiber und Heinrichs überzeugt haben?“

„Heinrichs ist mein politischer Ziehsohn. Seine Karriere wurde nur durch meinen Großvater und mich möglich. Ihn musste ich auch nicht unter Druck setzen, und für Schreiber gilt dasselbe.“

„Was bezwecken Sie?“

„Dem Süden eine Chance geben, die Deutschland unter der Führung Berlins nicht mehr hat.“ Von Carstheim rätselte, wie lange Steiger sich noch aus Prinzip wehren würde. Die Volksabstimmung zu erlauben war kein Verbrechen und eine Zustimmung würde ihm die nötige Zeit geben, sich zu sortieren.

„Wir befinden uns nicht in einer Bananenrepublik“, sagte Steiger. „So einfach lasse ich mich nicht erpressen. Ein solcher Rechtsstreit wird auch der Sezession schaden.“

„Sie wollen demnach Ihren politischen Untergang in Kauf nehmen?“, erwiderte von Carstheim, im Wissen, dass er Steiger in der Hand hatte.

„Wenn Sie keine überzeugenderen Argumente haben, ja.“

„Sie sind integrer als ich Sie eingeschätzt habe. Und eben deswegen werden Sie der Sezession auch Ihre Stimme geben.“

„Es gibt nichts, was mich von der Sezession überzeugen könnte.“ Steiger war der Ansicht, dass der richtige Augenblick gekommen war, um dem Gespräch ein Ende zu setzen.

„Leben Sie wohl Herr von Carstheim.“

„Wenn Sie ihren Sohn lieben, sollten Sie bleiben.“ Von Carstheim Stimme hätte Stahl schneiden können. Im selben Tonfall setzte er nach. „Ihr Sohn hat sich im Vorfeld des Ansbacher Koffers persönlich bereichert. Er würde um eine längere Gefängnisstrafe nicht umhinkommen. Seit Zumwinkel und Hoeneß sind die Gerichte alles andere als geduldig, was Steuerhinterziehung angeht. Wollen Sie es ihrem Enkel wirklich zumuten, dass er ohne Vater aufwächst. Zumindest aber seine ersten Schritte ohne ihn macht?“ Von Carstheims Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Sämtliche Härte in Steigers Gesicht wich einem blanken Entsetzen.

„Zunächst verlange ich auch nur, dass Sie die Volksabstimmung tolerieren. Ihr weiteres Mitwirken wird sich von alleine ergeben. Dafür wird der Druck der Bevölkerung sorgen. Unzählige Hessen werden auf Sie zukommen und Ihnen ihre Hilfe anbieten. Und bedenken Sie, dass Ihre Mutter gesundheitlich angeschlagen ist. Es würde ihrer Genesung nicht guttun, wenn Sie lesen müsste, dass ihr Sohn und ihr Enkel vor Gericht stehen.“

„Sie Arschloch, lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel.“

„Oh Ho, Ho.“ Von Carstheim rückte einen Schritt vom Ministerpräsidenten ab. Die Sprache der Gosse beherrschte der Politiker. Schade, dass ihn nur die Sprache der einfachen Menschen und nicht ihre Probleme interessierten.

„Vergreifen Sie sich bitte nicht im Ton. Sie selbst haben doch so viele Menschen fertiggemacht. Besonders Gegner aus den eigenen Reihen haben Sie zuhauf ruiniert. Sie sollten echte Bedenken schätzen.“

Steiger ballte seine Hände. Für den Moment war er geschlagen.

„Ich werde uns ein langes Verhandeln ersparen und meine Rede in Ihrem Sinne umschreiben. In den nächsten Tagen rufe ich Sie an. Aber eins verspreche ich Ihnen.“

„Und das wäre?“

„Dafür werden Sie bezahlen.“

„Aber nicht mehr in Euro.“

Verwirrt starrte Steiger in die Nacht. Drei Sekunden brauchte er, bis der Groschen fiel.

„Mir egal in welcher Währung.“

„Robert da bist du ja.“ Der Innenminister hatte die Geduld verloren und sich auf die Suche nach Steiger begeben und endlich war er fündig geworden.

„Ich bin sofort bei dir.“ Steiger löste sich vom Geländer „Ich höre von Ihnen“, sagte er leise.

„So wird es sein.“

Von Carstheim spürte den feindseligen Blick des Innenministers in seinem Rücken. Er strafte ihn mit Nichtbeachtung und bewegte sich gemächlich in den unter der Terrasse gelegenen Park. Das Gespräch war gut verlaufen und dass der Innenminister sie erwischt hatte, war geradezu perfekt. Unsicherheit und Misstrauen innerhalb der deutschen Politik war das, was die Sezession brauchte. Von Carstheim umrundete die Skulptur eines in Granit gehauenen Löwen. Die Terrasse lag vor ihm und er konnte den Innenminister sehen, wie der auf Steiger einsprach. Steiger antwortete einsilbig, was den Innenminister dazu bewog, einen bösen Blick in den Park zu werfen.

„Ich muss Schluss machen.“

„Was.“ Von Carstheim durchforstete die Nacht, um die Frau zu finden, die zu der Stimme gehörte, die ein kalter Windhauch zu ihm geweht hatte.

Er konnte sie aber nicht finden. „Hallo“, sagte er in die Dunkelheit.

„Ich werde das Hotel weiterempfehlen. Wo begegnet man schon einem Milliardär, dessen Hobby Ländernopoly ist.“

„Würden Sie bitte aus dem Dunkeln hervortreten, damit ich mich vorstellen kann? Ich muss mich meinem Stand entsprechend an die Etikette halten“, sagte von Carstheim mit derselben Ironie wie die Frau.

„Wie unhöflich von mir.“

Von einer Konifere lösten sich nun schulterlange, dunkle, leicht gelockte Haare, die ein schmales Gesicht umgaben. Die Frau trug eine Brille und erweckte einen ehrgeizigen Eindruck. Von Carstheim deutete eine Verbeugung an.

„Gestatten, Freiherr Adrian Benedikt von Carstheim.“

„Dana Engelhard, Bürgerin und Staatssekretärin des Bundes“, stellte Dana sich ihrerseits vor.

„Das könnte bedeuten, dass Sie nicht besonders gut auf mich zu sprechen sind, was ich sehr schade fände. Ich bin es aber gewohnt, dass man mich wegen meiner Herkunft schneidet.“

„Noch kann ich nicht sagen, ob ich Sie nicht leiden mag.“

„Das nenne ich Demokratie.“ Von Carstheim fühlte sich gut unterhalten. Die junge Politikerin war nicht ohne Reiz und er vermutete eine unterdrückte Leidenschaft in ihr.

„Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang, damit ich Ihnen die Regeln des Ländernopoly erklären kann. Ein kompliziertes und vor allem teures Spiel.“

„Können wir machen. Wenn ich aber beschließe, dass ich Sie nicht leiden kann, gehen wir getrennte Wege.“ Auch Dana konnte der außergewöhnlichen Situation nicht widerstehen.

„Nur fair und um es Ihnen leicht zu machen, mich zu mögen, könnte ich damit beginnen ihnen zu erzählen, wie meine Familie an den Adelstitel gekommen ist. Das zieht immer.“

„Fangen Sie an. Geschichte ist mein Steckenpferd.“

Wie von beiden erhofft, ergab in der Folgezeit ein Wort das andere.

Allerdings vermieden von Carstheim und Dana es, das Thema Sezession in den Mund zu nehmen. Die Situation war die zweier Katzen, die um den heißen Brei schlichen. Jede wollte als erste an den Napf, sich aber nicht die Schnauze verbrennen.

„Ich muss zurück zur Party, man vermisst mich sicher schon“, beendete von Carstheim das intellektuelle Versteckspiel. Gleichwohl wollte er in naher Zukunft für eine Fortsetzung des Gesprächs sorgen.

„Darf ich noch eine Frage stellen? Warum die Volksabstimmung?“ Sanft legte Dana ihre Hand auf seinen Arm.

Die Berührung ließ von Carstheim an seinen Vater denken. Dank seines Adelstitels hatte der einen enormen Erfolg bei Frauen und auch während der Ehe hatte er diesen ausgelebt. Die Scheidung war schmutzig und Sara, Friedrich und er hatten zu ihrer Mutter gehalten. Der Kontakt zu seinem Vater war fast gänzlich abgebrochen und aus der kindlichen Bewunderung wurde innerhalb kürzester Zeit tiefe Verachtung. Jahrelang herrschte Funkstille. Bei einem langweiligen Adelstreffen hatten sie sich aber zufällig getroffen. Sein Vater hatte ihn angesprochen und auf eine Frau gedeutet, die zum ältesten Adel Norwegens gehörte.

„Adrian, wenn eine Frau den ersten Körperkontakt mit dir aufnimmt, ist das ein sicheres Zeichen, dass du ihr gefällst. Von da ab musst du deine Karten nur noch ausspielen und du kannst mit ihr machen, was du willst. Denk daran, die Wohlerzogenen sind die Schlimmsten. Sie wollen ausbrechen.“

Schnurstracks war sein Vater zu der Norwegerin gelaufen.

Dana war schon so weit von Carstheim anzustoßen. Doch der Schleier der Vergangenheit löste sich von selbst.

„Wenn wir jetzt nicht eingreifen, ist es bald zu spät“, erklärte von Carstheim. „Wir haben bereits zu lange gewartet. Deutschland kann den nötigen Neuanfang nicht mehr schaffen. In der Bundesrepublik gibt es zu viele Interessengruppen. Die Berliner Politik will aber alle bedienen. Und es ist eine alte Weisheit, dass man nicht jedem Gott dienen kann. Der Druck des Weltmarktes steigt aber unaufhörlich. Die Herausforderungen, die uns im Kampf um den Wohlstand gestellt werden, sind extrem. Nur wer bereit ist, die eigene Trägheit zu überwinden, kann sich den neuen Gegebenheiten erfolgreich anpassen. Für den Süden Deutschlands bedeutet das, den schmalen Pfad der Unabhängigkeit zu betreten. Viele Länder der asiatischen Welt haben Deutschland bereits eingeholt, einige haben uns sogar überholt. Deswegen müssen wir unser Land für die neuen Anforderungen rüsten. Und das kann dem Süden einzig auf diese Weise gelingen.“

„Natürlich, Sie reißen sich schließlich die wirtschaftlich stärksten Bundesländer unter den Nagel“, warf Dana sarkastisch ein. Von Carstheim zauberte ein überlegenes Lächeln.

„Ich bin entzückt, dass es sich bei den drei Bundesländern um die Sahnestücke unseres Staates handelt. Normalerweise denken die Berliner doch, sie wären die Größten.“

Von Carstheim bemerkte, dass Dana sich seinem Charme nicht entziehen konnte.

Nebeneinander liefen sie auf die Terrasse des Hotels. Sara und Friedrich standen in einer Gruppe, zu der auch der Innenminister gehörte.

„Adrian, wir brauchen deine Hilfe. Sara und ich rätseln, wer in Deutschland zuletzt des Hochverrats angeklagt wurde. Der Herr Innenminister hat orakelt, dass es bald wieder so weit sein könnte“, rief Friedrich. Ihm und Sara war nicht entgangen, dass ihr Bruder verschwunden war und jetzt mit einer Frau auftauchte, mit der er sich augenscheinlich gut verstand.

„Spontan fällt mir von Stauffenberg ein. Im Nachhinein erklärte die Geschichte ihn aber zum Helden.“

„Jaja, der Adel unter sich“, erwiderte der Innenminister abfällig. Das spontane Aufeinandertreffen mit von Carstheim war ungewollt. Für ein direktes Duell mit ihm war es noch zu früh.

„Wie ich sehe, haben Sie Herrn von Carstheim bereits kennengelernt. Seien Sie vorsichtig, er könnte Sie arbeitslos machen“, sagte der Innenminister voller Hohn an Dana gerichtet.

„Das ist das Letzte, was ich will“, beeilte sich von Carstheim mit einer Antwort. „Im Gegenteil, ich möchte, dass die Politiker endlich beginnen, fürs Volk zu arbeiten. Sollte ich mich durchsetzen, werden sie nicht mehr in schicken Hotels feiern und Steuergelder verschwenden können. Doch das ist ein anderes Thema und ich muss mich jetzt verabschieden.“

„Reisende soll man nicht aufhalten.“

„Wenigstens komme ich für meine Reisekosten auf.“ Von Carstheim bedachte den Innenminister mit einem herablassenden Blick.

„Sie haben ja genügend Geld.“

„Wo Sie recht haben …“ Von Carstheims nächster Blick galt Dana. „Frau Engelhard. Danke, dass Sie mir Ihr Handy geliehen haben.“ Er reichte Dana ein rotes Mobilfunkgerät und sie nahm es verdutzt entgegen.

Die Anzahl der Journalisten und Fernsehteams, die vor dem Hotel verweilten, hatte sich mindestens verdoppelt. Sämtliche Fotografen drückten auf den Auslöser und gleichzeitig warfen die Reporter von Carstheim ihre Fragen entgegen.

„Für eine habe ich Zeit. Sie hier vorne.“ Von Carstheim zeigte auf eine Reporterin, die andauernd mit den Fingern schnippte.

„Was denken Sie, wird der Ministerpräsident in Bezug auf die Volksabstimmung unternehmen?“

Von Carstheim hätte sein Familienschloss auf diese Frage verwettete.

„Nicht was der Ministerpräsident sagt, sondern das, was die Bürgerinnen und Bürger von der Sezession halten, ist wichtig. Hierzu möchte ich mir eine Anmerkung erlauben: Es wird nicht mehr besser werden! Die Vergangenheit hat bewiesen, dass Europa für die einfachen Arbeiter am Ende ist. Die deutsche Steuer- und Schuldengeschichte spricht eine eindeutige Sprache. Der Süden trägt mittlerweile nicht nur den Länderfinanzausgleich, sondern auch etliche europäische Rettungsschirme. Die seit Jahrzehnten ansteigende Anzahl von Hartz IV Empfängern ist ein Beweis dafür, dass die verarmten Bürger alleingelassenen werden. Zehn bis zwölf Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter stehen in diesem Land ohne Lohn und Brot da. Die Situation in Europa und Deutschland ist dramatisch. Die rechten Populisten breiten sich aus und Erklärungen, warum es so ist, haben alle in Berlin. Aber sie präsentieren keine Lösungen. Wir hingegen sagen ihnen, wie man alles noch zum Guten wenden kann. Lesen Sie unsere Veröffentlichungen zur Zukunft des Südens. Wir werden in den Freistaaten umsetzbare Konzepte vorlegen. Und fallen Sie um Gottes willen nicht auf die populistischen Ablenkungsmanöver der Regierung rein. Die Diskussion um den Euro ist ein gutes Beispiel. Ich bin kein Freund des Euros. Er aber trägt die geringste Schuld. Schuld an der Verarmung hat alleine die versagende Politik. Sie ist konzeptionslos und hält uns nur hin. Die Währung ist hierbei zweitrangig. Den Bürger interessiert es nicht, ob er Schulden in Euro oder D-Mark zurückzahlen muss. Und Europa lebt seit zwei Generationen von Schulden. Anstatt andere Länder oder den Euro für die Misere verantwortlich zu machen, hätten Brüssel und Berlin dafür sorgen sollen, dass die Wirtschaft der Länder auf breiter Basis gesundet.“ Hätte von Carstheim in diesen Sekunden von den Reportern verlangt, dass sie sich ausziehen und vor einen Bus werfen sollten. Sie hätten es getan. Jeden überkam das Gefühl vollkommenen Vertrauens. Von Carstheims Aura und sein Tonfall legten sich wie eine warme Decke, in Winternächten, über sie. Sie fühlten sich emotional geborgen.

„Danke für Ihre Geduld. Doch ich habe es eilig, denn es gibt noch viel zu erledigen. Kommen Sie gut nach Hause.“

Von Carstheim winkte in die Kameras und in Begleitung seiner Geschwister lief er zum bereitgestellten BMW.

„Ich fahre.“ Sara schnellte vor und nahm von Carstheim den Autoschlüssel ab.

„Fahr du nur.“ Von Carstheim drehte um und ging zur Beifahrertür. „Im Gegenzug besorgt ihr mir den Namen des jungen Anwalts.“

„Muss das sein?“ Friedrich blieb am Kofferraum zurück.

„Je früher du einen Feind vernichtest, desto leichter ist es. Heute kostet es mich einen Anruf. Wer weiß, was noch aus ihm wird.“

„Seit wann leidest du unter Verfolgungswahn?“

„Kein von Carstheim lässt sich ungestraft beleidigen.“

„Amen.“ Friedrich stieg in den Fond des BMW.

Der Innenminister feuerte eine wütende Tirade nach der anderen ab. Der hochmütige, verwöhnte Adelsspross, wie er sich ausdrückte, hatte ihn auf die Palme gebracht.

„Er besticht die Menschen, um König von Süddeutschland zu werden. Was halten Sie von ihm?“, fragte er, während Dana und er durch die Hotelhalle schritten.

„Er ist undurchsichtig, scheint aber an das zu glauben, was er sagt.“

„Was nichts daran ändert, dass er ein versnobter Milliardär ist, der sich zum Kaiser krönen will.“

„Eitelkeit ist bestimmt nicht seine Antriebsfeder.“

„Sicher nicht?“, fragte der Innenminister voller Abneigung. Dass Dana für seinen neu gewonnenen Erzfeind eine Kerbe schlug, bewies ihm, dass der einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Nichts worüber er sich freuen konnte. „Von Carstheim hat sich durch einen einzigartigen Egoismus ausgezeichnet. Das Kartellamt überwacht ihn seit Jahren. „Die Gruppe“ hatte keine Skrupel, Nevrotek zu zerschlagen. 5 000 Menschen landeten auf der Straße.“

„Haben die meisten Angestellten nicht einen Job bei der Bühler Firmengruppe erhalten?“

„Nur die halbe Wahrheit“, sagte der Innenminister. Dana hatte aber nicht ganz Unrecht. Die Übernahme von Nevrotek durch die Bühler-Firmengruppe, hatte aber trotzdem für einen Aufschrei in der Geschäftswelt gesorgt. Der Pariser Firmenvorstand hatte von Carstheim vorgeworfen, dass er nur durch illegal erworbenes Insiderwissen die in finanziellen Schwierigkeiten steckende Firma aufkaufen konnte. TGV und Nevrotek hatten an der Entwicklung einer revolutionären Magnetschiene gearbeitet. Und nur ein halbes Jahr nach der Zerschlagung von Nevrotek hatte Bühler Magnet vollmundig bekannt gegeben, dass der Entwicklungsabteilung ein Durchbruch in der Schienentechnologie gelungen sei.

„Es stimmt zwar, dass zwei Drittel der Jobs erhalten wurden. Das Kartellamt bemängelte aber die Monopolstellung, die Bühler-Magnet dadurch einnahm“, sagte der Innenminister. „Und im Übrigen war Nevrotek kerngesund. Von Carstheim soll für die finanzielle Schieflage verantwortlich gewesen sein.“

„Er wollte Le Train um jeden Preis verwirklichen.“

„Frau Engelhard. Seine aggressive Geschäftspolitik hat schon so manchen ruiniert.“

„Zu seiner Ehrenrettung muss aber gesagt werden, dass er fast nur in Deutschland und Europa entwickeln und produzieren lässt. Selbstbewusst kämpft er für den europäischen Wirtschaftsraum. Für die Chinesen ist er eine unerwünschte Person. Sie sind verärgert darüber, dass die Bühler Firmengruppe nichts in China produzieren lässt. Außerdem nehmen sie es ihm übel, dass er in einem Interview gesagt hat, dass die Chinesen mehr Arbeitsplätze im europäischen Mittelstand vernichtet haben, als der Schwarze Freitag. Unterm Strich hat von Carstheim in Deutschland und Europa auch weit mehr Arbeitsplätze geschaffen, als zerstört. Er ist ein Mann, der bereit ist, schwierige unpopuläre Wege zu gehen, um Deutschland und Europa wirtschaftlich in die richtige Position zu bringen.“

Beeindruckt hatte der Innenminister den Ausführungen seiner Staatssekretärin gelauscht.

„Ich bin erfreut darüber, wie schnell und genau Sie sich über Sachlagen und Menschen informieren können. Sie sollten aber wissen“, in großväterlichem Ton sprach der Innenminister auf Dana ein, „dass von Carstheim einige Geschäfte nur zustande gebracht haben soll, weil er Männer und gerade Frauen von sich überzeugen konnte. Beim Nevrotek Deal soll ihm das Kindermädchen eines Vorstandsmitgliedes die nötigen Informationen besorgt haben. Ich kann Sie vor seiner Ausstrahlung nur warnen. Seien Sie auf der Hut.“

Dana fühlte sich ertappt.

„Was meinen Sie?“

„Sagen Sie es mir.“ Der Innenminister hatte den großväterlichen Ton abgelegt.

„Ich kann nur bestätigen, dass er ein zielbewusster Mann ist“, sagte Dana.

„Das kann man wohl sagen. Denken Sie nur an den Ausspruch, der ihn berühmt gemacht hat.“

„Ich denke nicht, dass er das wirklich gesagt hat.“

„Glauben Sie mir. Er hat es. Aber wollen wir das Gespräch nicht bei einem Drink an der Hotelbar fortsetzen?“

In jeder anderen Situation hätte Dana eingewilligt. Sie mochte es, sich gepflegt und auf hohem Niveau mit dem Innenminister zu unterhalten.

„Nein danke, ich bin müde. In den nächsten Tagen wartet noch viel Arbeit auf uns.“ Sie schob die Müdigkeit vor. In Wirklichkeit hatte sie ein schlechtes Gewissen. Ob Zufall oder Absicht, die Anspielungen ihres Chefs hatten sie erkennen lassen, dass von Carstheim sie beeindruckt hatte.

„Ich mit meinen achtundsechzig Jahren habe nach der Pensionierung genügend Zeit, früh ins Bett zu gehen. Ich werde noch den einen oder anderen Drink zu mir nehmen. Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“ Dana lief zur verspiegelten Rezeption und nannte ihre Zimmernummer. Im Spiegel konnte Sie sehen, wie Sie vom Innenminister wachsam beäugt wurde.

„Bitte sehr.“ Eine der Frauen an der Rezeption reichte ihr den mit einem goldenen Anhänger versehenen Zimmerschlüssel.

„Danke.“

Dana ergriff den Schlüssel. Verstohlen sah sie in den Spiegel. Der Innenminister begab sich endlich an die Bar.

Sie steckte den Schlüssel ein und ihre Hand berührte von Carstheims Handy. Ihre Gedanken schlugen Saltos. Warum hatte sie das Handy überhaupt angenommen und was wollte der Freiherr von ihr? Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet. Sein Auftreten verkörperte Macht und Selbstsicherheit in Reinkultur.

Die Freistaaten

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