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6 Die römische Straße
ОглавлениеRom im ersten Jahrhundert nach Christus
Nach einer Nacht, in der er gut geschlafen hatte, stand Lukas erholt schon recht früh auf, sah nach seiner Patientin und ließ dann Panthera wissen, dass er den Tag über nach Ostia gehen würde, um einen Brief für Paulus zu überbringen.
„Warum sendest du ihn nicht mit einem Fuhrwerk mit?“
„Ich habe gehört, dass jetzt nach dem Feuer und den Einschränkungen der Reisemöglichkeiten auf der Straße die Briefbeförderung unzuverlässig ist. Ich werde keine Ruhe haben, bis ich weiß, dass der Brief im Hafen ist.“
„Wie geht es meiner Mutter?“, fragte der Gefängniswächter.
„Sie ist stabil und ich werde deiner Frau Anweisungen geben, wie sie die Wunden am besten versorgen kann. Ich hoffe, dass ich am Abend noch zu Paulus gehen kann, wenn es keine Schwierigkeiten gibt, rechtzeitig zurück zu sein.“
Panthera kniff die Augen zusammen. „Erlaube mir, dir ein Dokument mitzugeben, das dir freie Bahn verschaffen wird.“
Lukas setzte sich an den Tisch in seinem Zimmer, um noch einmal jedes Wort in Paulus’ Brief an Timotheus zu prüfen. War das, was er über seine gegenwärtige Lage schrieb, nicht ein ergreifendes Glaubenszeugnis für seinen jungen Schüler? Die Gemeinde in Rom war während der Verfolgung durch Nero völlig in den Untergrund gegangen und viele hatten sich von Paulus abgewendet. Aber der betonte: „Ich schäme mich nicht, denn ich weiß genau, an wen ich glaube. Ich bin ganz sicher, dass Christus mich und all das, was er mir anvertraut hat, bis zum Tag seines Kommens bewahren wird.“
Paulus sprach gern über den großen und schrecklichen Tag des Herrn, den Tag, an dem er Christus auf dem Thron des Weltenrichters gegenüberstehen würde.
Lukas mühte sich ab, den richtigen Ton für den Schluss des Briefs zu finden, wo der alte Evangelist Timotheus bat, möglichst rasch und noch vor dem Winter nach Rom zu kommen und auch Markus mitzubringen, weil er sich von allen anderen außer Lukas verlassen fühle.
Ja, es stimmte leider. Die Christen in Rom, Judenchristen wie Heidenchristen, waren vom Kaiser bedrängt worden, und nun hatte Nero mit Massenverhaftungen und Proklamationen gegen, wie es hieß, „diese Sekte der Christen“ die Situation weiter angeheizt. Er prahlte sogar damit, endlich sei ihm der dickste Fisch ins Netz gegangen: Paulus. Dann gab es die ersten entsetzlichen Augenzeugenberichte, dass der Kaiser Christen als menschliche Fackeln benutzte, um bei seinen Gelagen die Gärten des Palastes damit zu beleuchten. Es war kaum verwunderlich, dass niemand von seinen früheren verlässlichen Freunden zugab, Paulus auch nur zu kennen, als man ihn nach seiner Verhaftung in Troas auf schnellstem Weg in den römischen Kerker verfrachtet hatte. Der Brief erwähnte Onesiphorus, schwieg aber über die Geldsumme, die Lukas aus der Hand von Paulus entgegengenommen hatte. Gleich zu Anfang des Schreibens an Timotheus und die anderen Christen in Ephesus hatte Paulus diktiert: „Wie du weißt, haben mich alle Christen aus der Provinz Asia im Stich gelassen … Ich bitte den Herrn darum, dass er Onesiphorus und allen in seinem Haus barmherzig ist. Denn Onesiphorus hat mir immer wieder geholfen. Er hielt treu zu mir, obwohl ich im Gefängnis war. Als er nach Rom kam, ließ er nichts unversucht, bis er mich fand. Der Herr möge ihm am Tag des Gerichts sein Erbarmen schenken. Gerade du weißt ja, wie viel er auch in Ephesus für mich getan hat.“
Wie sehr hatte der Besuch von Onesiphorus Paulus gestärkt! Irgendwie hatte der Mann Paulus gefunden und sich mit seiner Wortgewandheit sozusagen bis zu ihm durchgequasselt, und das ein paar Tage hintereinander. Dabei war es eine Hilfe gewesen, dass Onesiphorus Händler war; er handelte mit Holz, Eisenwaren und Marmor und begleitete häufig größere Schiffsladungen von Ephesus in den Hafen von Rom. Und es war nicht das erste Mal gewesen, dass Onesiphorus Paulus seine Verbundenheit durch konkrete Unterstützung hatte spüren lassen. Er gehörte zu den Ältesten der Gemeinde in Ephesus und hatte sich immer, wenn Paulus die Gemeinde besuchte, persönlich um ihn gekümmert. Timotheus hatte Paulus anvertraut, dass ein Großteil der finanziellen Unterstützung, die die Gemeinde ihm angeboten hatte, der Großzügigkeit von Onesiphorus zu verdanken war.
Lukas spürte das Gewicht des Beutels in seiner Tasche. Er enthielt genügend römische Goldmünzen, um Paulus länger davon zu ernähren, als er vermutlich noch zu leben hatte. Lukas hatte selten einen Menschen gesehen, der Paulus so verbunden war wie Onesiphorus. Selbstlos hatte er sich für den Apostel eingesetzt, nicht nur hier in Rom, sondern auch bei dessen Aufenthalten in Ephesus. Und das hatte Paulus viel Kraft gegeben. Lukas sprach ein kurzes Gebet, dass Gott Onesiphorus dafür reich segnen möge.
Schließlich war er zufrieden und überzeugt, der Brief entspräche nun den hohen Ansprüchen von Paulus. Er versiegelte und adressierte ihn und verpackte ihn dann sorgfältig. Um den kleinen Hafen zu erreichen, der etwa sechzehn Meilen vor Rom lag, brauchte er den größten Teil des Vormittags. Er erkundigte sich nach dem Landweg – einer engen, aber befestigten Straße, die ursprünglich für die römischen Legionen gebaut worden war und nun mit schweren Lastkarren überfüllt war. Gegen eine kleine Geldsumme erlaubte man ihm, seine alten Knochen von einem Karren fahren zu lassen, den ein Sklave kutschierte. Der hatte seine schwangere Frau bei sich.
Als sie schließlich gegen Mittag ankamen, sagte Lukas: „Möge die Liebe des auferstandenen Christus euch auf dem Rest eurer Reise begleiten.“
Die Frau sah rasch zur Seite, aber ihr Mann erwiderte aufgebracht: „Was sagst du da?“
„Du hast sicher meinen Segenswunsch gehört.“
„Ja, ich habe ihn gehört. Ich bin nur erstaunt, dass du so etwas laut auszusprechen wagst, wo doch der Kaiser jeden Tag etliche deinesgleichen umbringen lässt.“
„Mein Freund, das möchte ich dir sagen: Ich werde Christus nicht verleugnen. Ich schäme mich nicht für meinen Glauben.“
„Dann bist du ein Narr. Rede besser nicht so in Rom. Und nenn mich nicht Freund. Das Leben ist ohnehin schon schwer genug.“
„Mein Segen gilt trotzdem.“
„Bitte sehr!“ Damit schwang sich der Mann eilig wieder auf den Sitz seines Wagens.
Lukas sprach ein kurzes Gebet für die beiden, während der Wagen langsam hinunter zum Hafen rollte. Vorbei an den großen Lagerhäusern steuerte er durch eine kleine Seitenstraße auf ein langes, schmales eingeschossiges Gebäude zu. Nach vorn zu gab es einen kleinen Geschäftsraum, während an der Rückseite leichte Pferdewagen und zweirädrige Ochsenkarren Zufahrt hatten. Der „Cursus Publicus“ diente Rom als Nachrichtendienst: Offizielle Regierungsdokumente wurden per Pferdewagen, größere Mengen an Briefen und Versandstücken für das allgemeine Volk mit den langsameren Ochsenkarren befördert.
Lukas gab den Brief an Timotheus zum geforderten Preis auf und fragte, ob es irgendwelche Post für ihn gab. „Ich wohne in Rom“, sagte er.
„Dann müsstest du es besser wissen, Mann. Die gesamte Post für die Hauptstadt wird dort sortiert. Gib uns ein paar Tage Zeit.“
„Es wäre wohl nicht möglich, dass ich mit einem eurer Pferdewagen nach Rom zurückfahre?“
„Nicht, wenn ich meinen Posten behalten will. Schließlich fällst du Alterchen mir noch raus und stürzt auf die Straße – und wie soll ich das dann erklären?“
„Dann vielleicht mit einem Ochsenkarren?“
„Wir sind kein Transportunternehmen, Mann. Und außerdem wärst du sogar zu Fuß schneller. Diese Wagen werden bis zum Äußersten vollgepackt. Stell dich einfach an die Straße und schau ein bisschen verloren. Wirst sehen, irgendjemand wird Mitleid haben.“
Am Ende hatte Lukas nicht einmal eine Stunde gewartet, bis eine Kamelkarawane, die in ihrem langsamen Trott Gewürze und Trockenobst transportierte, ihn auflas. Allein der Duft machte die Reise angenehm: Scharfe und bittere Gewürzaromen mischten sich mit dem fruchtigen Obstgeruch. Lukas hatte sich auf einem schwankenden Kamelrücken noch nie wohlgefühlt, schon gar nicht als zweiter Reiter, aber der Kameltreiber teilte seinen Sonnenschutz mit ihm und schlug schließlich vor, er könne auch in einem der Karren mitfahren, in dem bereits eine füllige ältere Frau saß.
Es sah nicht so aus, als freute sie sich über die Gesellschaft, und sie schien auch nicht auf eine Unterhaltung erpicht. Die meiste Zeit döste sie, aber als sie aufwachte, fragte Lukas, ob der angenehme Duft vielleicht von Feigenkuchen käme. Das entlockte ihr ein Lächeln. Eine kräftige Hand an die Wand des ruckelnden Karrens gestützt, kramte sie mit der anderen in ihren Vorräten und brachte schließlich eine Handvoll klebriger Trockenfrüchte zum Vorschein, die sie noch ein paar Minuten in den Händen presste und formte. Als sie schließlich offenbar mit ihrem Werk zufrieden war, bot sie es Lukas an und fand auch gleich noch die Zutaten für eine zweite Portion. Als er nach einer Münze angelte, winkte sie ab und wies stattdessen auf ihren Mund, als wolle sie ihm zureden, ihre Gabe zu probieren.
Lukas dankte Gott im Stillen für die Versorgung mit Nahrung und bat um Schutz vor allem, was sich vielleicht sonst noch auf den schwieligen Händen der Frau angesammelt haben mochte. Die Früchte schienen sich in seinem Mund geradezu in Saft aufzulösen. Lukas schloss die Augen und hoffte, sie würde seinen verzückten Gesichtsausdruck wahrnehmen. Als er die Augen wieder öffnete, strahlte sie ihn an.
Die Karawane setzte ihn etliche Meilen von Pantheras Haus und noch weiter vom Gefängnis entfernt ab. Seine mittägliche Ruhepause war ausgefallen. Da er noch vor Sonnenuntergang bei Paulus sein wollte, machte er sich direkt auf den Weg zum Gefängnis. Der Weg führte zum größten Teil bergauf und Lukas fiel jeder Schritt schwer.
Er kam später im Gefängnis an, als er wünschte, und am Eingang hatte man bereits Fackeln entzündet. Die Luft hatte sich abgekühlt, und während Lukas dastand und seinen Umhang enger um sich zog, kam Primus Panthera eilig zu ihm. Seine bloßen Arme waren anscheinend mit genügend Muskeln bepackt, um ihn vor der Kälte zu schützen.
„Ich hab heute auch etwas für dich, mein Freund“, sagte Lukas und schob dem Mann ein Stück Käse zu.
Primus roch daran. „Den mag ich besonders. Und es ist die perfekte Zugabe zu meinem Abendessen. Welch unverhoffte Ehre!“
„Sehr erfreut!“
Primus beugte sich vor und flüsterte: „Das bist du wirklich, oder?“
„Erfreut? Natürlich. Lass es dir schmecken. Ich bin dankbar …“
„Ja, es hat ganz den Anschein. Kann ich noch irgendetwas für dich tun, Medicus?“
„Vielleicht später einmal, in ein paar Wochen. Dann brauche ich vielleicht noch einmal unauffälligen Zutritt für zwei weitere Freunde. Ich weiß aber noch nicht, ob sie überhaupt kommen können oder auch nur einer von beiden, aber falls doch …“
„Ich versuche mein Bestes, Mann. Gib mir nur rechtzeitig genug Bescheid.“