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5 Enthüllungen

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Texas

In ihrem spätabendlichen Online-Austausch vor Jahren hatte Sofia so geklungen, als wollte sie wirklich alles darüber wissen, wie es nach Augustins jugendlicher Rebellion weitergegangen war. Also hatte er es ihr erzählt.

„In diesem Sommer sollte ich in einem großen Baseballturnier in Missouri spielen. Ich hatte mich schon ein ganzes Jahr darauf gefreut. Mom und Dad setzten sich mit mir an den Tisch und erklärten, das sei jetzt gestrichen. Ich protestierte, bis meine Mutter mich daran erinnerte, dass ich zugestimmt hatte, jede Strafe zu akzeptieren.

Ich sank in mich zusammen und vergrub den Kopf in den Armen. Wie sollte ich das meinen Mannschaftskollegen und dem Coach beibringen? Ich war der Star und sie rechneten mit mir. Und ich würde nicht mal im Lande sein. Schon seit Jahren war ich im Sommer immer bei Verwandten gewesen, während meine Eltern Reisegruppen im Heiligen Land begleiteten. Nach allem, was ich davon verstanden hatte, war Dad der Bibelfachmann, Mom die Reiseleiterin, und für bestimmte Ziele engagierten sie Fremdenführer vor Ort. Mich mitzunehmen konnten sie sich nie leisten und es wäre auch das Letzte gewesen, was ich gewollt hätte.“

„Aber in diesem Jahr solltest du mitfahren.“

„Meine Mutter, diese ewige Optimistin, glaubte wirklich, das wäre eine großartige Gelegenheit für meinen Vater und mich, uns etwas näherzukommen. Also, wirklich! Mein Vater würde noch weniger Zeit für mich haben, als er je zu Hause hatte, und ich würde gegen meinen Willen dort sein, zornig und mürrisch.“

„Ich versuche mir so eine Reise vorzustellen, die dich nicht sofort begeistert hätte“, schrieb Sofia. „Jetzt ist das doch dein Ein und Alles.“

„Also, ich hortete meinen Groll, sozusagen, und nahm mir fest vor, noch nicht einmal so zu tun, als würde ich auch nur eine Sekunde dieser Reise genießen. Ich war in diesem superchristlichen, superkirchlichen Zuhause aufgewachsen, mit einer Mutter, die in ihrem Glauben echte Freude ausstrahlte, und einem Vater – einem be- und geachteten akademischen Lehrer und Wissenschaftler –, der nicht wusste, was Freude war.

Außer dass ich ‚bekehrt wurde‘, als ich noch ziemlich jung war, war ich eben ein Kirchgänger. Wir flogen also nach Tel Aviv und meine Mutter bestand darauf, dass ich im Flugzeug neben meinem Vater saß. Wenn er überhaupt etwas zu mir sagte, dann war es vermutlich: ‚Blamier mich bloß nicht.‘“

„Das muss furchtbar gewesen sein.“

„Die reinste Folter. Aber kurz nach der Landung erschienen die ersten anderen Mitglieder der Reisegruppe am Flughafen und ich erlebte meine Mutter in Aktion. Dad stand meist ein wenig abseits und schüttelte steif alten Bekannten wie Tour-Neulingen die Hand, aber Mom … Meine Güte, Mom war so etwas wie die Mutter der Nation. Jeder schien Marie zu kennen, fiel ihr um den Hals, zeigte Fotos, redete, lachte, weinte. Neulinge erkannten sie sofort aus dem Flyer und schlossen sie wegen ihrer liebevollen und begeisterten Art ins Herz. Und so würde es für die ganzen anderthalb Wochen bleiben – Mom drehte ihre Runden, begrüßte jeden Einzelnen persönlich und sorgte dafür, dass alle gut versorgt waren. Es schien fast so, als würden die Leute meinen Vater in Kauf nehmen, weil meine Mutter es mehr als wettmachte. Er tat nichts anderes, als an jedem historischen Ort die entsprechende Bibelstelle zu lesen und ein wenig zu erläutern. Wenn es Roger nicht gegeben hätte, hätte ich nie gelernt, dass jemand über dreißig auch cool sein kann.“

„Dort hast du ihn kennengelernt?“

„Meine Mutter machte uns bekannt und ich konnte es kaum glauben, dass diese mächtige, klangvolle Stimme von diesem schmächtigen Mann kommen konnte. Damals war er erst dreißig, aber seine Lockenpracht und sein buschiger Bart waren schon grau. Er war gut einen Kopf kleiner als ich und er bellte: ‚Dich hätte ich überall erkannt! Deine Mutter zeigt mir jedes Jahr die neuesten Fotos. Schau dich bloß mal an!‘

Er schwang meine Hand wie einen Pumpenschwengel und sagte: ‚Ich beneide dich.‘

‚Sie beneiden mich? Warum das denn?‘

‚Warum? Na, weil dies dein erster Besuch in Israel ist, hab ich recht?‘ Ich nickte. ‚Oh, wenn ich doch dieses Land noch einmal wie zum ersten Mal sehen könnte! Junge, du kannst dich auf die Erfahrung deines Lebens freuen! Vermutlich hast du jetzt eher Hitze und Staub und todlangweilige Geschichte vor Augen, stimmt’s?‘ Er hätte es nicht besser treffen können. Ich war wild entschlossen, diese Reise zu hassen. Er sagte: ‚Wir sprechen uns am Ende noch mal und dann erzählst du mir, was du denkst.‘“

Es war dem jungen Augustin keinesfalls leichtgefallen, seine Protesthaltung durchzuhalten. Da war seine Mutter, die so lebendig wurde, indem sie sich um alle anderen kümmerte, und da war der begeisterte Roger Michaels, mit dem jede historische Stätte zum Abenteuer wurde. Er schien es sich zum Prinzip gemacht zu haben, bei den Mahlzeiten neben Augustin zu sitzen und ihn immer wieder einmal für kleinere Spaziergänge wegzulotsen.

„Weißt du“, sagte er, „ich glaube ja nicht an Gott.“

Augustin hob die Augenbrauen. „Nein, hab ich nicht gewusst.“

„Ich respektiere alle Religionen. Im Grunde bin ich ein Zionist aus Südafrika, der in Rom lebt und Geschichte liebt, vor allem sogenannte heilige Stätten. Jeder, der mit mir eine Reise macht, nimmt seine eigenen Erfahrungen davon mit. Aber natürlich wollt ihr frommen Amerikaner mich immer bekehren. Das macht mir nichts aus. Aber ich wette, ich weiß mehr über euren Glauben und eure Bibel als ihr selbst. Außer deinem Dad, natürlich. Niemand kennt das Neue Testament so wie er. Warum siehst du mich so an?“

Augustin zuckte die Achseln.

„Kein Jugendlicher mag seine Eltern. Das geht vorbei.“

„Ich liebe meine Mom.“

„Wer täte das nicht? Wie könntest du anders?“

„Über meinen Vater kann man das nicht sagen.“

Jetzt war es an Roger, die Achseln zu zucken. „Na gut, er ist nicht gerade Mr Charisma. Aber er kennt sein Metier. Sogar die Ämter für Altertumskunde in meiner Wahlheimat respektieren ihn.“

„Wirklich?“

Roger nickte. „Was auch immer da zwischen euch steht – lass dich dadurch bloß nicht davon abhalten zu lernen, was du nur kannst.“

Das war nicht leicht. Augustin hatte nicht vorgehabt, auch nur irgendetwas von dieser Reise mitzunehmen. Während sein Vater die Schriftstellen über die Orte las, die sie besichtigten, starrte Augustin zu Boden und manchmal tat er sogar so, als schliefe er, während sein Vater weitertönte. Aber wenn Roger dann wieder die Führung übernahm, bewirkten die Kraft seiner Persönlichkeit und diese außerordentliche Stimmgewalt, dass der ganze Platz plötzlich zum Leben erwachte. Einmal stellte Marie sich leise neben Augustin und sagte: „Stell dir bloß mal vor, dass genau hier, wo wir jetzt stehen, Jesus vorbeigegangen ist.“

Augustin ließ diese Vorstellung einsinken. Von klein auf hatte er die Berichte über die Wunder und die Botschaft von Jesus gehört, aber hier wurden sie plötzlich lebendig. Das Gewicht dieser Erfahrung überwältigte ihn schließlich in einer jahrhundertealten steinernen Kapelle in Tiberius, die als Gedenkstätte errichtet worden war. Paradoxerweise war es der ungläubige Reiseführer, der den Weg bereitete. Roger rief sie alle dicht zusammen, bevor sie die Kapelle betraten, und flüsterte: „Wir haben den heiligen Ort ganz für uns. Ich schlage vor, wir schweigen, während wir drinnen sind.“

Die Gruppe schlenderte hinein, Augustin als Letzter. In einer Ehrfurcht gebietenden Stille betrachteten die Touristen die Architektur, die kunstvolle Steinkanzel, die Glasmalerei. Viele neigten den Kopf. Nach wenigen Minuten empfand Augustin plötzlich eine tiefe Ergriffenheit, das Bedürfnis zu beten, den Wunsch, mit Gott in Verbindung zu treten, etwas, was er noch nie wirklich getan hatte. Seine Mutter betete unendlich viel mehr als er. Er konnte die vielen Male nicht zählen, die er sie auf den Knien gesehen hatte, wenn er an ihrem Schlafzimmer vorbeiging.

Augustin glaubte schon irgendwie. Er wusste, was man wissen musste: Er war ein Sünder, für den Jesus gestorben war. Er hatte sogar darum gebetet, dass Christus in sein Leben träte. Aber die Wahrheit war – er hatte die ganze Sache mit dem Glauben niemals aus vollem Herzen betrieben. Wenn es wahr war, wenn Gott seinen einzigen Sohn gesandt hatte, damit er für Augustin Aquinas Knox stürbe, dann, wünschte sich Augustin jetzt, dann sollte es für sein Leben auch etwas bedeuten.

Und in genau diesem Moment begann Roger in der tiefen Stille der alten Kapelle mit seinem sonoren Bass zu summen: „Amazing Grace …“ Bald summte die ganze Gruppe. Dann fing Roger an zu singen und die anderen begleiteten ihn harmonisch mit Summen und Gesang.

O Gnade Gottes, wunderbar …

Augustin öffnete den Mund, um einzustimmen, aber er war so überwältigt, dass er nur zuhören konnte. Als die Wahrheit der nächsten Zeilen ihn traf, sank er auf die Knie und die Tränen standen ihm in den Augen.

… hast du errettet mich!

Ich war verloren ganz und gar,

war blind, jetzt sehe ich.

Es war, als sähe er wirklich zum allerersten Mal, und die Wahrheit dessen, was er sein Leben lang gehört hatte – vor allem von seiner Mutter –, überflutete ihn geradezu. Er schlug die Hände vors Gesicht und konnte nicht aufhören zu weinen. Irgendwie war ihm bewusst, dass er nie wieder derselbe sein würde. Er hatte keine Vorstellung davon, was aus seinem Leben werden würde, aber er wusste: Er liebte diesen Ort mitsamt seiner ganzen Geschichte, mitsamt dem Mann, der auf diesen Wegen gewandert war und hier seine Wunder vollbracht hatte.

Die Gnade hat mich Furcht gelehrt

und auch von Furcht befreit,

seitdem ich mich zu Gott bekehrt

bis hin zur Herrlichkeit.

Wenn wir zehntausend Jahre sind

in seiner Herrlichkeit,

mein Herz noch von der Gnade singt

wie in der ersten Zeit.

Für den Rest der Reise verließ dieses Gefühl Augustin nicht mehr. Er saugte jedes Detail in sich auf, lieh sich die Bibel seiner Mutter aus und hörte jetzt zu, wenn sein Vater redete oder Roger erklärte. Obwohl er jeden Abend rechtschaffen müde war, blieb er noch lange wach und las schon im Voraus die entsprechenden Stellen, begierig, jedes Detail über jeden einzelnen Ort, den sie besuchten, ausfindig zu machen.

Sein Fehler lag darin, dass er seine Freude mit seinem Vater teilen wollte. „Dad, ich hab’s kapiert! Ich hab’s endlich begriffen.“

„Was hast du begriffen?“, fragte Dr. Knox.

„Was du an diesem Ort so liebst.“

„Was ich an diesem Ort so liebe? Ehrlich gesagt, wenn es nach mir ginge, wäre ich lieber in Rom oder zu Hause. Und du solltest deine persönlichen Empfindungen besser für dich behalten.“

„Für mich behalten? Ich dachte, man solle anderen erzählen, was man mit Christus erlebt!“

„Ich sage nur, du brauchst nicht theatralisch zu werden. Wir kommen nicht aus einer Tradition, wo das üblich wäre, und es gehört sich nicht.“

Aber Augustin konnte nicht anders. Der Nächste, dem er von seiner inneren Wandlung erzählte, war Roger.

„Es war das Singen in der Kapelle, stimmt’s?“, fragte Roger. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich das beobachte.“

„Mr Michaels, hören Sie mir zu. Ja, ich weiß, Sie haben mir erzählt, dass wir Christen immer versuchen, Sie zu bekehren. Aber wie kann es sein, dass Sie so viel über Jesus und über das Neue Testament und das ganze Drumherum wissen und trotzdem nicht glauben?“

Roger gab Augustin einen Klaps auf die Schulter. „Ich hab’s dir doch schon gesagt. Ich bewundere eure Ernsthaftigkeit. Aber du musst wissen: Es gibt eine Reihe von Fragen, inwieweit eure heiligen Schriften zuverlässig sind. Aber das Letzte, was ich wollte, wäre, auch nur den kleinsten Funken Begeisterung für deinen eigenen Glauben in dir zu löschen. Ich freu mich für dich, ehrlich.“

Das hatte Augustin in Rage gebracht. Er wünschte sich so sehr, dass dieser großartige Mann auch erfuhr, was ihm selbst begegnet war. Mit brüchiger Stimme bat er Roger fast unter Tränen, mit ihm darüber zu reden, welchen Anspruch Christus in den Evangelien oder Paulus in seiner berühmten, nur vier Verse umfassenden Zusammenfassung des Evangeliums erhob.

„1. Korinther 15,1 bis 4“, unterbrach Roger ihn. „Du siehst, es geht nicht darum, dass ich die Dinge nicht kenne. Ich bin nur einfach kein Anhänger dieser Botschaft.“

„Ja“, sagte Augustin und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Roger hatte tief geseufzt. „Das will ich dir noch sagen, Augustin. Ich glaube nicht, dass schon jemals zuvor meinetwegen jemand Tränen vergossen hat. Sie appellieren an mich, beten für mich, schicken mir Schriften, die ich lesen soll, ja. Aber Tränen … das ist neu.“

„Das ist kein Trick, Sir. Ich möchte wirklich …“

„Oh, glaub mir, ich habe nicht die leiseste Spur von Zweifel daran, dass es dir ernst ist. Und das rührt mich.“

An diesem Tag wurden sie Freunde. Sie hielten Kontakt und trafen sich bei jeder Reise, an der Augustin teilnehmen konnte. Für seine Eltern war es nicht erschwinglich, ihn jedes Mal mitzunehmen, also suchte er sich Jobs und zahlte selbst für die Fahrt. Er wurde ein eifriger Bibelleser und war entschlossen, selbst einmal Menschen durch das Heilige Land zu führen.

Roger war dabei gewesen, als Augustin Sofia zum ersten Mal begegnet war, und auch Jahre später, als sie sich ineinander verliebt hatten. Roger hatte immer die Haltung eines Experten bewahrt, er war souverän, ohne anmaßend zu sein, und betrieb sein Lebenswerk mit Leidenschaft.

Und jetzt war er in Schwierigkeiten, hatte vor irgendetwas panische Angst und bat Augustin verzweifelt um Hilfe.

Ich, Saulus

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