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3 Wahrheit

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Texas

Während noch zwei weiterer Examensklausuren saß Augustin so dicht er konnte bei der altertümlichen, im Fenster angebrachten Klimaanlage, die ratterte und summte, und versuchte, mit der gleißenden Sonne Schritt zu halten. Die Studenten erwiesen sich als kreativ, füllten immer wieder ihre Wasserflaschen am Wasserspender auf, gossen sich dann Wasser in die Hände und strichen damit über das Gesicht. Manche fuhren sich auch mit nassen Händen durchs Haar.

Augustin hatte es seinen Studenten schon früh im Semester abgewöhnt, sich zu beklagen, und sie wussten, dass es gar keinen Zweck hatte, auch nur anzufangen. „Nirgendwo ist das Leben chaotischer als im kirchlichen Dienst“, hatte er gesagt. „Jammerer haben keine Chance.“ Zum Glück waren jetzt alle nur noch darauf aus, dieses Examen hinter sich zu bringen und dann entweder das Seminar mit ihrem Abschluss zu verlassen oder nach Hause zu fahren, um sich auf das nächste Semester vorzubereiten.

Bis weit in den Nachmittag hinein hatte Augustin sich über Roger Michaels sorgenvoll den Kopf zerbrochen. Was konnte so dringend sein? Schließlich war er wieder in seinem Büro und wollte beginnen, die Klausuren zu bewerten, falls er das Land tatsächlich plötzlich verlassen müsste. Aber zuerst suchte er online nach Flügen von Dallas-Fort Worth nach Rom Fiumicino. Der nächste, bei dem es noch freie Plätze gab, ging in zwei Tagen, Freitag, den 9., um zehn Uhr dreißig, mit Zwischenstopp in Chicago und mit Ankunft in Rom kurz vor acht Uhr am Samstag.

Leider gab es aber nur noch Plätze in der ersten Klasse zum Preis von fast viertausend Dollar. Und da er keine Ahnung hatte, was ihn in Rom erwarten würde, würde er den Rückflug offenlassen müssen – was noch einmal exorbitant teuer werden konnte. Und selbst wenn er das Geld auftreiben könnte – was, wenn er nicht rechtzeitig zurück wäre, um seinen Sommerkurs zu beginnen? Was sollte er Les Moore sagen?

Die Klausuren konnten nicht warten. Das war er seinen Studenten schuldig. Augustin betrachtete den Stapel von Klausurbögen und fragte sich, ob es ihm gelingen würde, seine Sorge um Roger und die Aussicht auf eine Reise, die sein Leben ungemein kompliziert machen würde, beiseitezulegen.

Er würde später jeder einzelnen Klausur die nötige Aufmerksamkeit schenken, aber jetzt sah er sie nur flüchtig durch, um die herauszufischen, die das Thema des Stachels im Fleisch des Paulus gewählt hatten. Viele spekulierten über verschiedenste Krankheiten oder auch Depressionen, eine Scheidung, eine verlorene Liebe, Zweifel, selbst einen geheimen Kampf mit Homosexualität. Augustin nahm sich diese Klausur vor, gespannt darauf, ob der Student eine überzeugende Begründung liefern konnte.

Augustin achtete vor allem darauf, ob ein Student darauf einging, dass – wie Paulus selbst schrieb – dieser Stachel nicht von Gott, sondern vom Satan kam („ein Engel des Satans, der mich mit Fäusten schlägt“). Denn wenn Gott ihm diesen Stachel zugemutet hätte, warum sollte Paulus dreimal darum beten, dass er davon frei würde?

Als eine Schweißperle von Augustins Stirn auf das Papier tropfte, stand er auf, um die Jalousien herunterzulassen. Dabei fiel sein Blick auf einen seiner Griechischstudenten, der auf dem Parkplatz stand.

Rajiv Patel, ein brillanter Student von fünfundzwanzig Jahren aus Ahmadabad in Indien, schien mehr mit sich herumzuschleppen als seinen Rucksack, während er in der sengenden Hitze zu seinem klapprigen Toyota trottete. Er schloss den Wagen auf und stand dann eine Weile davor, den Blick zu Boden gerichtet.

Augustin war schon lange angetan von der liebenswerten Art dieses Studenten mit der leisen Stimme. Rajiv hatte Bilder von der Aufgabe gezeigt, die er in Indien zurückgelassen hatte, um seine Ausbildung fortzusetzen. Er hatte in einem Elendsviertel gearbeitet und den Kastenlosen das Evangelium gebracht. Und anders als viele andere ausländische Studenten, denen die Augen dafür aufgegangen waren, welche Vorteile es bot, nach dem Abschluss in den USA zu bleiben, hatte Rajiv keine derartigen Absichten. Auch hier setzte er freie Zeit ein, um den Armen zu helfen, und war entschlossen, nach einem weiteren Studienjahr nach Hause zurückzukehren.

Schließlich öffnete Rajiv die Wagentür und zog hastig die Hand vom Griff zurück. Der musste glühend heiß sein. Aus dem Auto entwich die Hitze in flirrenden Wellen. Rajiv warf den Rucksack auf den Rücksitz und entfernte den Sonnenschutz von der Windschutzscheibe. Er lehnte sich vor und startete den Motor, schloss dann die Tür wieder, damit das Auto etwas abkühlte, wobei er das Fenster an der Fahrertür einen Schlitz breit offen ließ. Augustin schätzte, die Klimaanlage des alten Wagens würde die Temperatur um kaum mehr als ein paar Grad senken.

Rajiv beschattete seine Augen mit der Hand und sah, wie er dort stand, so aus, als sei er von mehr als der Hitze geschlagen. Schließlich schlüpfte der junge Mann in den Wagen, aber statt wegzufahren, legte er den Kopf aufs Steuer. Dann sah es so aus, als schlage er auf das Steuer ein, bevor er schließlich seinen Kopf in den Händen verbarg.

Augustin eilte nach draußen; Haar und Hemd klebten ihm am Leib. Als er Rajivs Auto erreichte und ans Fenster klopfte, war der junge Inder sichtlich überrascht.

„Alles okay?“, fragte Augustin.

Rajiv nickte mit Tränen in den Augen.

„Darf ich mich kurz reinsetzen?“

Rajiv entriegelte die Beifahrertür und wischte sich die Tränen vom Gesicht, als Augustin ins Auto glitt. Er richtete eine Düse der Klimaanlage auf sein Gesicht, aber das fühlte sich immer noch an, als säße er in einem Backofen. „Sollen wir uns lieber in meinem Büro unterhalten?“

„Nein, danke, Doktor“, sagte Rajiv mit seinem leichten Akzent. „Ich muss gleich los.“

„Was ist, Rajiv?“

„Ich … ich versuche, Vertrauen zu haben. Aber meine Mittel sind erschöpft. Nur noch ein Jahr – und mein Land braucht es doch so dringend. Aber ich kann mich für den Herbst nicht mehr einschreiben.“

Augustin fragte nach, welche Möglichkeiten für finanzielle Unterstützung er schon ausgeschöpft hätte, erkundigte sich nach Stipendien und Darlehen. Rajiv kannte sie alle und er hatte jeden Cent gesammelt, den er nur irgendwo kriegen konnte.

„Wie viel Geld fehlt dir?“

„Fast viertausend Dollar.“

Augustin zuckte zusammen. Sein erster Gedanke war, Rajiv zu sagen, er würde für ihn beten. Aber er kannte den jungen Mann – ganz gewiss mangelte es nicht an Gebet. In einer Sekunde der Erleuchtung sah Augustin, dass er selbst die Antwort sein könnte. „Haben Sie ein Stück Papier, Rajiv?“

Der Student wandte sich um, um in seinem Rucksack zu kramen, und reichte dem Professor dann einen Spiralblock.

Augustin schrieb: „Wen immer es betrifft: Bitte belasten Sie Kosten für Studiengebühren von Rajiv Patel bis zu einem Betrag von viertausend Dollar dem Konto des Unterzeichners. Dr. Augustin A.Knox.“

Rajiv starrte auf das Blatt und brach erneut in Tränen aus. „Das kann ich nicht akzeptieren, Dr. Knox! Sie haben das Geld auch nicht.“

„Wenn Gott möchte, dass ich etwas tue, glauben Sie nicht, dass er es dann auch möglich macht?“

„Tja, nun, eigentlich schon …“

„Glauben Sie, dass ich gerade nur zufällig aus dem Fenster sah, als Sie mich brauchten?“

„Ich wollte bestimmt nicht, dass Sie …“

„Rajiv! Sagen Sie mir jetzt, dass Sie mich nicht dieser Freude berauben werden!“

„Wie bitte?“

„Sie haben mich verstanden“, sagte Augustin und öffnete die Wagentür. „Wohlgemerkt, ich schrieb: bis zu viertausend Dollar. Ich stehe nur für die Differenz ein zwischen dem, was Sie brauchen, und dem, was Sie selbst aufbringen können. Ich erwarte, dass Sie dranbleiben und Ihren Teil des Einsatzes übernehmen. Und jetzt lassen Sie mich aus dieser Sauna heraus.“

„Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.“

„Kein Wort mehr davon. Wir sind hier, um Arbeiter für das Reich Gottes auszubilden, nicht, um sie nach Hause zu schicken, bevor sie fertig sind.“

Augustin kehrte an seinen Schreibtisch zurück, selbst erstaunt darüber, was um alles in der Welt er da gerade getan hatte. Der Zeitpunkt hätte nicht ungelegener sein können. Woher sollte er das Geld nehmen? Herr, sagte er schweigend, gib mir den Glauben, den du Rajiv geschenkt hast – dass du hier die Hand im Spiel hattest. Ich vertraue darauf, dass du für uns sorgen wirst.

Einen so raschen Wetterumschwung hatte Augustin noch nie erlebt, schon gar nicht in Arlington. Gewaltige tiefschwarze Wolken fegten so schnell aus Westen heran, dass die Temperatur sturzartig auf unter dreißig Grad fiel und Blitze am Horizont aufzuckten. Bis er die US 30 nach Osten erreicht hatte, war der Himmel schwarz. Knapp hundert Meter vor ihm schlug ein Blitz in den Asphalt ein. Der Donner brüllte so laut, dass Augustin die Ohren schmerzten, und der Wind schüttelte den Wagen. Als die Wolken brachen und der Regen wie eine einzige Wand niederstürzte, streikten Augustins Scheibenwischer und die Sicht war gleich null. Wie alle anderen auch war Augustin gezwungen, auf den Seitenstreifen zu fahren und zu warten, bis das Unwetter vorbei war.

Da er keine Ahnung hatte, wie lange er hier warten musste, war Augustin versucht, Sofia direkt anzurufen, aber der Sturm würde vermutlich verhindern, dass er durchkam. Sofia und er liebten es, über ihre Zukunft zu sprechen, über die Hochzeit, Kinder, wo sie leben wollten. Ihre Eltern hatten erst vor Kurzem verstanden, dass aus ihrer Freundschaft etwas Ernstes geworden war.

„Daddy ist eben vorsichtig“, hatte sie ihm berichtet und zugegeben, dass ihr Vater darauf bestand, es sei viel zu früh für sie beide, um sich „Flausen in den Kopf setzen“ zu lassen. Augustin schloss daraus: Malfees Trikoupis war noch nicht bereit zu akzeptieren, dass überhaupt irgendjemand um die Hand seiner Tochter anhielt. Das war fast amüsant, Augustin und Sofia kannten einander schon seit Jahren und waren auch über große Entfernungen hinweg Freunde geblieben, bevor ihre Freundschaft während eines Ausflugs in die jordanische Felsenstadt Petra eine tiefere Ebene erreicht hatte.

Augustin hatte Mr und Mrs Trikoupis kennengelernt, als er dreißig war und noch bevor er Sofia begegnete. Sie hatten sich am Anfang einer Reise durch das Heilige Land in der Lobby des King-David-Hotels in Jerusalem getroffen. Das unauffällige, aber elegant gekleidete Paar verströmte eine Atmosphäre von Wohlstand und Bildung. Mrs Trikoupis hatte erwähnt, dass sie in Begleitung ihrer Tochter reisten, die sich aber an diesem ersten Abend von sozialen Verpflichtungen entschuldigen ließ; denn sie wusste, dass sie das jüngste Mitglied der Reisegruppe sein würde, die sich aus aller Welt zusammengefunden hatte.

Mr Trikoupis, ein untersetzter Mann mit dunklem Teint und einer lockigen weißen Mähne, schien sofort angetan von Augustin, als Roger Michaels ihn als Veranstalter der Tour vorstellte. „Der junge Dr. Knox kennt seine Bibel“, hatte Roger getönt, wobei sein immenser Bart seine Lippen verbarg.

Mr Trikoupis hatte sich entschuldigt und Augustin in eine Ecke entführt. „Vielleicht können Sie meiner Tochter in dieser Woche ein wenig Interesse an Antiquitäten einimpfen“, hatte er mit auffallend sorgfältiger Artikulation in einer Sprache, die offensichtlich nicht seine Muttersprache war, gemeint. „Das ist nämlich mein Gebiet. Sofia studiert an der Universität von Athen Moderne Kunst. Aber ich wünsche mir, dass sie einmal mein Geschäft übernimmt.“

„Ihr Geschäft?“

„Ich habe ein Import- und Export-Geschäft für Antiquitäten mit vielen Filialen in Griechenland. Die größte ist nahe bei Thessaloniki, wo wir wohnen.“

„Oh!“, hatte Augustin gemurmelt. „Sie sind der Trikoupis! Ich bin schon in einem oder zwei Tri-K-Geschäften gewesen. Das sind dann also Ihre! Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“

Beim Frühstück am nächsten Morgen hatte Augustin seinen ersten Blick auf die strahlende Sofia geworfen. Ihre schiere Energie bewirkte, dass er sich alt fühlte. Ihr tiefschwarzes Haar und die großen blauen Augen fesselten ihn. Er war auch beeindruckt von ihrem kräftigen Händedruck und ihrer lebhaften Vorfreude auf alles, was der Tag bringen würde. Dagegen hatte er sich auf seiner ersten Tour dieser Art komplett unwohl gefühlt.

Ihr Vater hatte unverzüglich alleinigen Anspruch auf Augustins Zeit erhoben und erst gegen Ende der Woche fand er wieder eine Gelegenheit, mit Sofia zu reden. Seine meisterhafte Beherrschung des Griechischen, altgriechisch wie modern, hatte sie beeindruckt, und sie hatten ihre Mail-Adressen ausgetauscht.

Während der nächsten paar Jahre hatten sie sporadisch über die Kontinente hinweg Kontakt gehabt, hatten sich per Internet ein wenig kennengelernt und sich gegenseitig in Fragen von Familie und Verwandtschaft gute Ratschläge gegeben. Sie hatte Fotos und Lebensläufe ihrer diversen Verehrer geschickt und Augustin tat dasselbe mit seinen jeweiligen Dates.

Sofia hatte ihren Vater verärgert, indem sie nach ihrem Examen in Athen geblieben war. Sie war sowohl in ihrem Beruf als auch in ihrer Kirchengemeinde sehr engagiert. „Augustin“, hatte sie eines Abends gemailt, „wer möchte schon für seinen Vater arbeiten? Oh, sorry – du arbeitest für deinen, oder?“

„In gewisser Weise ja“, hatte er geantwortet. Und irgendwo zwischen den Zeilen, die sie wechselten, hatte Augustin genug Vertrauen zu dieser griechischen Schönheit gefasst, dass er es wagte, mit ihr über die schwierigste Beziehung in seinem Leben zu sprechen. Sofia war weit genug weg, dass er sich frei fühlte, Dinge auszusprechen, von denen er noch nie jemandem erzählt hatte.

„Ich unterrichte in seinem Fachbereich, ja, aber wir reden kaum miteinander. Ich würde gern glauben, dass er stolz auf mich ist, weil ich sozusagen in seine Fußstapfen trete, aber wir beide sind so grundverschieden. Möge das immer so bleiben.“

„Ich muss wissen, wovon du redest, Augustin. Du liegst mir wirklich am Herzen, weißt du? Ich will dich nicht bedrängen, aber du sollst wissen, dass du mir alles anvertrauen kannst. Aber nur, wenn du mir vertraust, und nur, wenn du möchtest.“

Eines späten Abends (am nächsten Morgen ihrer Zeit) hatte sie ihm plötzlich erzählt, sie überlege, ob sie nicht doch nach Hause gehen sollte, um bei ihrem Vater zu arbeiten. Sie hatte in einer Kunsthandlung gearbeitet und Abendkurse gegeben, aber, so sagte sie, obwohl sie gute Freunde und auch eine gute Gemeinde hatte, fühle sie sich einsam. „Ich gehe auch nicht mit jemandem aus, der meinen Glauben nicht teilt“, schrieb sie. „Aber selbst die christlichen Jungs haben scheinbar nichts anderes als Sex im Kopf. Ich vermisse meine Familie.“

„Schon komisch“, schrieb er zurück, „und mir fehlt ein Vater, den ich nie hatte.“

„Seht ihr euch nicht täglich?“

„Natürlich. Aber – er sieht mich eben nicht.“

Der Regen ließ endlich ein wenig nach und Augustin folgte den anderen Fahrern vorsichtig wieder auf die Autobahn. Als er eine Stunde später Dallas erreichte, bog Biff Dyers baufälliger Van gerade aus der Einfahrt. Augustin hupte und Bill hielt direkt neben ihm. „Ich hab dir ja gesagt, ich bring dir nichts, Augustin, und mein Tag ist jetzt vorbei.“

„Ich werde ewig in deiner Schuld stehen, Biff, aber du musst mir einfach ein paar Minuten geben.“

Biff parkte, schlug die Wagentür zu und stapfte mit langen Schritten auf sein Büro zu. Er sah keineswegs glücklich aus. Augustin holte ihn ein und erklärte, dass das Unwetter ihn aufgehalten hatte. „Diese Telefongeschichte ist wichtig, Biff. Du weißt doch, ich würde dich nie ausnutzen.“

„Zumindest bisher nicht“, knurrte Biff. „Aber meine Frau hat heute Geburtstag und ich …“

„Ich halte dich keine Minute länger auf als nötig.“

Augustin liebte Biffs Werkräume. Hinter einem schlichten, zweckmäßig eingerichteten Büro lag ein fensterloser Raum mit Regalen, wo er jede nur denkbare Art von elektronischen Geräten aufbewahrte. Biff belieferte die ganze Fakultät am Dallas – und einen großen Teil von Arlington ebenfalls, wenn sie Forschungsprojekte in Übersee hatten. Biff selbst war nur zweimal mitgereist, aber er hatte Roger Michaels kennengelernt. „Jedermanns Liebling“, sagte er. „Also, was ist mit ihm?“

Augustin schüttelte den Kopf. „Hat die Hosen voll wegen irgendetwas. Dabei habe ich ihn bisher immer nur als Herrn der Lage erlebt.“

„Roger hat Schiss? Kann ich mir nicht vorstellen. Habe, glaube ich, noch nie jemanden getroffen, der so weltgewandt und souverän ist.“

„Weiß ich, Biff. Aber jetzt braucht er mich aus irgendeinem Grund. Und ich kann ihn nicht hängen lassen.“

Biff tauschte rasch die SIM-Card in Augustins Handy aus, steckte die alte in ein Laufwerk, um sie zu scannen, ließ sich online eine neue Nummer zuteilen und lud die neue Karte mit ein paar Hundert Minuten für internationale Ferngespräche auf. „Ein sichereres Handy wirst du kaum finden. Also pass gut auf die Nummer auf. Nicht vergessen: Dies schützt kein Gerät, das du anrufst. Deine Identität wird unterdrückt, aber alles, was von anderen Geräten bei dir angezeigt wird, ist sozusagen Freiwild.“

„Kapiert.“

„Dieses Ding verbraucht Strom wie ein schwarzes Loch. Nimm also immer ein Aufladegerät mit. Adapter hast du ja für jedes Land dieser Erde, wie ich weiß.“

„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“

„Ich schick dir die Rechnung. Hör zu, ich muss jetzt weg, aber eins muss ich dir noch zeigen.“ Biff führte Augustin in den hintersten Winkel seines „Geräteschuppens“, wohin die jahrzehntealten Neonlichter kaum reichten. Er zog eine winzige Taschenlampe aus dem Gürtel, klemmte sie sich zwischen die Zähne und stieß die Worte daneben hervor, während er Gerümpel beiseiteschob, um ein neues und sehr kompaktes Gerät freizulegen. „Du wirwt kaum glauwen, waw diewew Teil hier ßuwege bringt, Augustin“, sagte er, die Taschenlampe im Mund. Er hob den kastenartigen Apparat ein wenig an, sodass er an ein winziges Extrafach an der Rückseite herankam. „Federspeicher“, sagte er. Er drückte kurz und ein Chip von etwa der Größe einer Fingerspitze sprang heraus. „Man muss nur den Klang aktivieren und es kann mehr als hundert Stunden speichern.“

„Kaum zu glauben. Was speichern?“

„Deine Telefonate, wenn du willst.“

Biff erklärte, dass die Spitzenklasse-Modelle unter den Handys selbst im ausgeschalteten Zustand als Abhörgeräte verwendet werden können. „Sie können auch auf andere Geräte weiterleiten oder auf einen Rekorder wie den hier.“

„Wie kann das funktionieren?“

„Würde jetzt zu lange dauern. Aber wenn du ein Gespräch aufzeichnen willst, drück einfach diesen Knopf an der Seite und einmal das Pfundzeichen, und voilà.“

„Sogar, wenn das Handy aus ist?“

„Zauberei, hm?“

„Aus welcher Entfernung?“

„Wohin, sagtest du, reist du? Rom?“

„Raus jetzt.“

„Soll ich’s für dein Handy programmieren, für alle Fälle?“

„Na klar, Mann.“

Biff entnahm flink den Chip aus Augustins Handy, schob ihn in den Rekorder, drückte einen Knopf und setzte den Chip wieder ein. „Das war’s schon. Und du glaubst kaum, welche Kapazität das Teil hat.“

„Du bist der Beste, Biff.“

„Aber du musst mir irgendwann mal die ganze Geschichte erzählen.“

„Versprochen. Und die besten Grüße an deine Frau.“

„Carol.“

„Carol, richtig. Ich kenne sie nicht, oder?“

Biff warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Die Auf-den-Spuren-des-Paulus-Tour? Mit Roger?“

„Richtig, stimmt. Sorry, Biff. Ich bin innerlich schon in Italien.“

Als Augustin wieder auf der Straße zum Arlington Memorial Krankenhaus war, hatte der Himmel dieses blasse Grün angenommen, das oft auf einen heftigen Sturm folgte. Er machte sich klar, dass er spätestens innerhalb einer Stunde nach dem Treffen mit seiner Mutter Sofia anrufen musste, bevor es zu spät wurde. Es wäre dann ohnehin in Griechenland schon weit nach Mitternacht. So schwierig es auch gewesen war, ihr von seinem belasteten Verhältnis zu seinem Vater zu erzählen, es hatte ihn auch irgendwie befreit. Dass er einen Teil seiner Geschichte mit ihr geteilt hatte wie mit kaum einem anderen Menschen, hatte ein besonderes Band zwischen ihnen geschaffen. Eine seiner frühesten Erinnerungen, hatte er ihr gemailt, war die, wie seine Mutter ihm erzählte, dass er nicht wie die meisten Babys in die Familie hineingeboren worden war, sondern dass sie ihn ausgewählt hatten. „Daddy und ich haben dich einfach als Geschenk von Gott angenommen. Dein Vater hat sich so sehr einen Sohn gewünscht.“

Aber nur seine Mutter schien je Zeit für ihn zu haben. Sein Vater erwies sich als geheimnisvolle Anwesenheit im Haus, still, mürrisch, distanziert. Einmal, hatte Augustin Sofia geschrieben, hatte er seine Eltern gefragt, ob er nicht einen Bruder oder eine Schwester haben könnte. „Meine Mutter sah verletzt aus und mein Vater sagte: ‚Deine Mutter ist sehr zart, mein Sohn. Und ein Kind ist alles, was wir wollten.‘ Aber später“, schrieb Augustin, „sagte mein Vater mir einmal, wenn er gewusst hätte, wie schwierig es für meine Mutter werden würde, mich großzuziehen, hätte er auch gern ganz auf Kinder verzichtet.“

„Oh, Augustin. Wie alt warst du da?“

„Neun oder zehn. Es war seltsam, denn meine Mutter erinnerte mich häufig daran, dass mein Vater sich so sehr einen Sohn gewünscht hatte und dass ich ein echtes Geschenk sei. Er war durch und durch Akademiker. Und alles, was ich wollte, war Sport. Ich quengelte ausdauernd, damit er mit mir Fangen spielte oder zu meinen Sportveranstaltungen käme. Einmal bestand meine Mutter darauf, dass er mit mir Fangen spielte, aber er zog nicht einmal Jackett und Krawatte aus. Und wenn wir Ball spielten, warf er wie jemand, der nie zuvor einen Ball in der Hand gehabt hatte. Ich erinnere mich noch daran, wie ich hoffte, dass uns bloß niemand sah. Dann warf ich den Ball absichtlich zu weit, und er schoss mir einen finsteren Blick zu, bevor er ging, um den Ball zu holen. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, riss seine Hose und er stürmte ins Haus und knurrte: ‚Ich wusste schon, warum ich das nicht tun wollte.‘

Ich wurde ein recht guter Sportler; gehörte auf der Highschool zu den Besten im Baseball und Basketball. Mein Dad sah kein einziges Spiel, in dem ich spielte. Meine Mutter kam, wann immer sie konnte, aber wenn sie beim Abendessen davon sprach, wie stolz sie auf mich war und dass Dad mich hätte sehen sollen, murmelte er nur irgendetwas, dass ich hoffentlich „aus dieser Manie bald herauswachsen“ würde. ‚Es gibt Wichtigeres im Leben als Spaß und Spiele, weißt du‘, wiederholte er. Die einzige Art von Ablenkung, die er sich gönnte, waren Kreuzworträtsel und andere Wortspiele. Sonst steckte seine Nase ständig in irgendeinem akademischen Buch. Ich lernte schnell, keine Poster meiner Spielerstars an meine Zimmerwände zu hängen. Er riss sie einfach herunter und sagte: ‚Wir sollen Menschen nicht zu Idolen machen.‘“

„Es tut mir so leid“, schrieb Sofia und Augustin spürte, dass ihr Mitgefühl echt war. „Wenn es nicht den Glauben meiner Mutter gegeben hätte, wäre ich selbst nie Christ geworden. Wir gingen zur Kirche und zwar zu allen Gottesdiensten, auch wochentags. Dad war Gemeindeältester. Manchmal predigte er auch. Während ich ihn immer todlangweilig fand, schien jeder andere ihn zu schätzen, weil er Professor war. Sogar Leiter eines Fachbereichs. Es heißt, unsere Sicht von Gott basiert auf unserer Sicht von unserem Vater. Stell dir mein Gottesbild vor.“

„Wie kommt es, dass du so anders geworden bist, Augustin? Oder ist es etwa ein Glück, dass wir so weit voneinander entfernt wohnen?“

„Gute Frage. Aber nein, die Leute mögen mich. Ihn mögen sie nicht. Und ihm ist es anscheinend gleichgültig.“

„War deine Mutter so stark, dass sie dich davor bewahren konnte, so zu werden wie er?“

„Sie ist eine Heilige. Nicht perfekt, denn ich habe mir oft gewünscht, sie hätte sich öfter gegen ihn durchgesetzt, aber ich habe da gut reden. Er ist wie eine Naturgewalt. Ich weiß nicht, was sie hätte tun können, um ihn zu ändern. Aber man hat mir schließlich auch beigebracht, dass man Christen daran erkennen sollte, dass sie so viel Freude ausstrahlen. Und sie besaß viel von dieser Freude, wenn man die Umstände bedenkt.“

„Und er nicht?“

„Ich kenne seine Zähne nur von wenigen Bildern, auf denen er gezwungenermaßen lächelt.“

„Wie traurig. Warum hast du nicht rebelliert?“

„Wer sagt, dass ich es nicht tat? Ich kannte auch keine Freude. Das Leben als Christ erschien mir wie ein einziger großer Pflichtenkatalog – Regeln, Grenzen, tu dies und tu das bloß nicht. Bis ich auf der Highschool war, war ich bereits ein guter Sportler und auch ein Einserkandidat in anderen Fächern. Aber nichts davon schien meinem Vater zu gefallen. Ich dachte, wenigstens mein Zeugnis würde ihm imponieren, aber er sah es nur flüchtig an und fragte, ob ich sicher sei, dass ich all die Fächer belegte, die ich brauchte, um später aufs College gehen zu können. Ich sagte, ich würde mich eng an die Empfehlung meines Studienbegleiters halten. Er sagte nur: ‚Wenn dieser Studienbegleiter den Durchblick hätte, wäre er dann nicht mehr als ein Studienbegleiter?‘

Etwas in mir zerbrach. Und plötzlich wusste ich, wie ich seine Aufmerksamkeit gewinnen würde. Ich hörte nicht nur auf, Hausaufgaben zu machen und zu lernen, ich schwänzte auch gelegentlich die Schule. Als ich mit ein paar Kumpanen bei kleinen Ladendiebstählen erwischt wurde, wollte Dad es mir ein für alle Mal zeigen, mir meinen Sport verbieten, die ganze übliche Drohkulisse. Was mich schließlich weich klopfte, waren die Tränen meiner Mutter. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich wollte ihn verletzen; aber sie zu verletzen, brach mir auch das Herz. Ich sagte ihr, ich würde jede Strafe annehmen, wenn sie mir vergab, und ich würde nie wieder etwas Ähnliches tun.“

„Sie vergab dir, nehme ich an.“

„Im selben Moment. Aber es blieben Wunden zurück und das nagte an mir. Das hatte sie nicht verdient. Ich schon.“

„Was war denn deine Strafe?“

„Sie hätte nicht passender sein können.“

„Bitte, erzähl es mir.“

Ich, Saulus

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