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NIE GENUG – UNSERE KULTUR DES MANGELS
ОглавлениеObwohl wir im Überfluss leben, hat sich unser Denken an eine Kultur des Mangels gewöhnt. Wir SIND nie genug und wir HABEN nie genug. Unser Gehirn hat einen kleinen Dauerdiktator entwickelt, der sich täglich einschaltet. Es ist, als würde man sich so durch den Tag mangeln. Es fehlt andauernd an allem. Die amerikanische Aktivistin Lynne Twist beschreibt es so: »Wie für viele andere auch ist mein erster Gedanke beim Aufwachen: ›Ich habe nicht genug Schlaf bekommen.‹« Der nächste ist: »Ich habe nicht genug Zeit.«6
Wir erleben ein beständiges Mantra des Mangels und verbringen auch noch viele Stunden damit, uns darüber zu beschweren oder uns gleichermaßen zu rechtfertigen. Die Litaneien erscheinen endlos. Nicht genug Bewegung. Nicht genug Arbeit. Nicht genug Umsatz. Nicht genug Kraft. Nicht genügend Wochenenden. Und natürlich nie genug Geld. Und gern stimmen wir tagtäglich in den Kanon mit ein.
Ich gebe zu: Seit ich verheiratet bin mit einem Mann, der viel weniger Schlaf braucht als ich, wache ich oft schon im Bewusstsein auf, im Rückstand zu sein. Als wäre jede Nacht ein regelrechtes Tennis-Match. Ich muss schon beim Ins-Bett-Gehen darauf achten, dass ich vielleicht ein Stündchen mehr Schlaf bekomme …
Wir sind einfach nie genug. »Es reicht nicht«, ruft diese Stimme in unserem Kopf, die der erfolgreiche Coach Jens Corssen nur »den Quatschi« nennt. Wer einmal liebevoll darauf achtet, wie oft er »nicht genug« denkt, wie oft er im Mangel steckt und sich letztendlich negativen Gedanken hingibt, wird erschreckt feststellen: verdammt oft. Laut Eckhart Tolle, dem Begründer der Jetzt-Euphorie, sind es sogar 70 Prozent des Tages, die wir uns selbst eher sabotieren denn supporten.
»Wir sind nicht dünn genug, nicht schlau genug, einfach nie schön, fit oder gebildet genug, nie erfolgreich oder reich genug.«
Wir sind nicht dünn genug, nicht schlau genug, einfach nie schön, fit oder gebildet genug, nie erfolgreich oder reich genug. Bevor wir uns im Bett aufrichten, ja, bevor unsere Füße den Boden berühren, sind wir bereits unzulänglich, im Rückstand, am Verlieren, im Mangel. Und bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir abends ins Bett gehen, gängelt uns unser Verstand auch noch mit all den Dingen, die wir nicht geschafft haben.
Oft paart sich der Mangel auch mit dem Ausgleich durch Alkohol. Wir erhoffen uns durch ein Gläschen Wein »Entspannung«, die aber sehr trügerisch ist (siehe Schamfallen! >). Sobald der Wein seine appetitanregende Wirkung zeigt, brechen wir den Mangel auf, und rennen zum Kühlschrank, um die Diät des Tages endgültig zu unterwandern. Dann haben wir es wieder erreicht, das ungeliebte Tagesziel: Wir schämen uns.
Wir befinden uns also in einem nicht enden wollenden Kreislauf der Selbstsabotage. Die Medien befeuern ständig unser neuronales Gitterbett zusätzlich mit Gründen für und Wegen zur Selbstoptimierung. Was für ein fundamentaler Irrsinn!
»Wir befinden uns also in einem nicht enden wollenden Kreislauf der Selbstsabotage.«
Die unermüdliche Unterwanderung des Selbstwerts und die Mangelkultur führen nur per Express in die schlechte Laune – und garantiert nicht in ein besseres Leben. Denn der Ehrgeiz, den Mangel zu tilgen, die Kluft zu schließen, die Scham zu übertünchen, kostet extrem viel von der zu wenig vorhandenen Zeit und auch Energie. Wir befinden uns schließlich beständig im Mangel.
Tom, ein Freund, erzählte mir: »Ich habe mich nie geschämt, schwul zu sein. Aber ich habe mich in der Münchner Schwulenszene für meine Herkunft fürchterlich geschämt. Ich hatte kein gutes Elternhaus, wir waren sehr arm, und ich habe sehr viel investiert, damit niemand das erfährt. Ich habe gelogen, dass sich die Balken bogen, meine Familie verleugnet – und schließlich habe ich mich geschämt, dass ich nicht die Wahrheit gesagt habe. Und noch heute fällt es mir sehr schwer, zu meiner Herkunft zu stehen.« Als Tom sein erstes Buch veröffentlichte, schämte er sich für die Pressemitteilung. »Da stand ja eine Menge über mich, das wollte ich gar nicht.«
Natürlich hat niemand Tom je verurteilt. Nur er sich selbst. Er spürte subjektiv einen Mangel wegen seiner Herkunft, den seine Scham mit viel Geschick und Aufwand in ein für ihn real existierendes Problem verwandelte. Jetzt aber kommt die Krux an der Geschichte: Man kann die Probleme, die durch das eigene Denken entstanden sind, nicht mit derselben Denke lösen. Sie können ja auch Schmieröl nicht mit Schmieröl auswaschen. Oder wie Albert Einstein es ausdrückte: »Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.« Gleiches Denken, unterschiedliche Ergebnisse? Das funktioniert einfach nicht. Aber wo ist nun die Henne und wo befindet sich das Ei?
Wir erinnern uns: Die Denkstrukturen werden recht früh angelegt. Am besten lassen sich neue neuronale Pfade, so bestätigen es Hirnforscher, durch bewusstes, wiederholtes, positives Erleben verändern. Diese positiven emotionalen Erfahrungen verbessern sowohl das psychische als auch das physische Wohlbefinden nachhaltig.
Kleiner Tipp: Versuchen Sie einmal, sich einen ganzen Tag lang nicht zu beschweren. »Wer sich beschwert, beschwert sich bloß im doppelten Sinn des Wortes. Wer sich beschwert, muss eben mehr tragen«, sagte Jens Corssen einmal in einem unserer Gespräche. Die Etikettierung des Mangels, die Verbalisierung befeuert immer wieder die gleichen, negativen Denkabläufe. Wir haften geradezu am vermeintlichen Mangel und sind die Meister des halb vollen Glases.
Ohne Beschwerden werden Sie feststellen, wie sich die ersten Veränderungen einstellen. Wie sagt der Arzt zum Gesunden: »Sie sind beschwerdefrei!« So soll es sein. Alles geht plötzlich leichter. Denn wer seinen inneren Widerstand aufgibt, bekommt als Gegenleistung neue Energie.
Der Straßenverkehr nervt? Beschweren Sie sich nicht. Die Kollegen liefern nicht? Beschweren Sie sich nicht. Der süße Typ von gestern ruft nicht an? Beschweren Sie sich nicht! Denken Sie daran: Wer sich beschwert, manifestiert den Mangel. In der Leichtigkeit hingegen liegt eine wundersame Kraft, die auf unser eigenes Wohlbefinden einwirkt. Also tun Sie sich wirklich etwas Gutes – und hören Sie auf, sich zu beschweren. Probieren Sie es aus, es ist nicht leicht, aber wirkungsvoll.
»Denn wer seinen inneren Widerstand aufgibt, bekommt als Gegenleistung neue Energie.«