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NO SHAME – DAS BITTERBÖSE ERWACHEN

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Wenn man mich nach meinem ultimativen Schammoment fragt, so fällt mir die Antwort sehr leicht. Es war der Augenblick, der endgültig die Wende in meinem Leben brachte, ein pechschwarzer Dezembermorgen in Südindien. Noch kein Sonnenstrahl glitzerte um 5.45 Uhr über den Palmen, den satten Gräsern und den Holzhütten. Die weißen Kraniche schliefen noch, nur der Ozean dröhnte durch die Nacht mit seinem nimmermüden Aufbrausen.

Ich hatte mich zu einer Ayurvedakur im Sitaram Beach Retreat entschlossen, einem zauberhaften Ort an der Küste Keralas, wo die Besucher empfangen wurden mit einem kleinen, unauffälligen Schild mit der Aufschrift »Göttliche Heilung beginnt hier«. In einem Halbkreis kleine Holzbungalows vor einem riesigen Palmengarten, der direkt ins Meer überzugehen schien. Ein Ort der Fülle und des Glücks.

Doch genau in dieser Ruhe und Abgeschiedenheit traf mich mein Leben wie ein Schock. In der Ruhe überfiel mich die totale Panik, es war ein bitterböses Erwachen. Mir schien es, als hätte ich mich schlichtweg verzockt. Die Geschichten, für die ich früher die anderen bemitleidet hatte, hatte ich selbst geschrieben! Jahrelang hatte ich mich in eine Beziehung verstrickt, die mich in tiefes Leid gestürzt hatte. Während der Yogastunden weinte ich bittere Tränen, trauerte um meine Hündin Anelka, die mich 15 Jahre begleitet hatte, trauerte um meine Träume und um die Zeit, die ich dachte, vergeudet zu haben. Ü40, kinderlos, unverheiratet, allein. Nach außen zwar erfolgreich, aber innerlich ein einziger Scherbenhaufen. Das sollte also mein Leben sein? Sogar die gerade 20-jährigen indischen Therapeutinnen hatten Mitleid mit mir.

Und dann kam der 28. Dezember, und es stand die sogenannte Vamana-Therapie an, ein traditioneller Teil der Panchakarma-Kur, bei der das obere Körperdrittel gereinigt werden soll. Was hier so harmlos klingt, heißt im Klartext: Erbrechen. Und zwar reichlich. Als therapeutischer und reinigender Prozess.

Vor mir standen drei große Silberkannen voller Milch und zwei randvoll mit Salzwasser. Die hübsche indische Ärztin, die den Prozess begleiten sollte, reichte mir zunächst einen Becher mit einer übel riechenden Flüssigkeit, die äußerst zäh und bitter über meinen Gaumen glitt. Doch das Brechmittel hatte die Rechnung ohne mich und meinen Pferdemagen gemacht.

Ich konnte nämlich nicht. Ich konnte mich nicht übergeben, ich würgte, aber ich schämte mich so fürchterlich, für mich selbst, die Situation, meine Unfähigkeit – es war mir mit diesem Gefühlscocktail schlichtweg unmöglich, den Anweisungen der Ärztin Folge zu leisten. Das war für mich der erneute Beweis: Was bin ich für eine elende Versagerin. Nicht mal kotzen kann ich. Ich spürte, wie in mir die Tränen hochstiegen, sah die junge Frau in dem weißen Kittel an, schüttelte den Kopf und rannte einfach fort, nicht ohne noch zwei Kannen umzuwerfen. Ich sprintete zurück in meine Hütte, legte mich aufs Bett und wollte mich nur noch verkriechen. Doch da hatte ich die Rechnung ohne das Brechmittel gemacht!

Nach einer gefühlten Ewigkeit, von Krämpfen geschüttelt, schleppte ich mich ins Bad und musste mich dann doch heftig übergeben, ganz ohne therapeutische Hilfe. Verheult und völlig erschöpft kauerte ich auf den tropisch warmen Fliesen. Irgendwann – ich hatte mein Zeitgefühl verloren – wischte ich mir mit dem Ärmel des Bademantels durchs Gesicht, rappelte mich auf und schaute in den Spiegel. Ein kalkweißes Gespenst blickte mir entgegen.

Wie durch eine Wolke hörte ich ein leises »Tock, tock, tock«. An der Tür klopfte es. Der behandelnde Arzt, Dr. Vignesh, kam in seiner grünen Kurta, dem traditionellen überlangen indischen Hemd ohne Kragen, an meine Cottage-Tür. Der junge Mediziner hatte das Retreat zwei Jahre zuvor eröffnet, gegen den Willen seiner Eltern, die für ihn einen Platz im familieneigenen City-Hospital vorgesehen hatten. Mit rührender Ernsthaftigkeit kümmerte er sich um jeden Patienten, ganz gleich ob er nun schwere, nahezu unheilbare Fälle oder simple westliche Zivilisationskrankheiten wie Fettleibigkeit und Genusssucht vor sich hatte.

Seine Sanftmut zwang jeden Patienten früher oder später in die Knie. So muss Gandhi seine Gegner gewaltlos zum Umfallen gebracht haben. Ich sah ihn an, und meine Blutgefäße im Gesicht explodierten beinahe. »Hey, das ist doch kein Grund, sich zu schämen«, sagte er lächelnd. Oh mein Gott, aber ich schämte mich. Und wie! Wo sind diese verdammten Mauselöcher, wenn man sie mal braucht?

Er fragte vorsichtig, ob ich ihn zu seinem Konsultationsraum begleiten würde. Natürlich hatte sich meine Vamana-Flucht bereits herumgesprochen, und plötzlich sah ich es: Er machte sich aufrichtig Sorgen um mich. Ich folgte ihm, wir saßen in einer kleinen Hütte einen Steinwurf vom Strand entfernt. Die Brandung rauschte, die unzähligen Krähen stritten sich wie eifersüchtige Teenager um kleine Äste für ihre Nester, die Temperaturen passten sich der friedlichen Stimmung an. Und so tat ich es auch. Er sah mich eindringlich an, nestelte an seinem Diagnoseblatt und räusperte sich.

»Viele Menschen, vor allem Frauen, leben in dem ständigen Gefühl, nicht gut genug zu sein«, sagte er leise und mit beruhigender Stimme. »Sie glauben, dass sie perfekt sein und es jedem recht machen müssen. Sie werden so erzogen, dass sie nie genügen. Sie schlussfolgern dann, sie seien es nicht wert, dass das Leben ihnen Fülle beschert oder dass sie geliebt werden. Sie denken, sie seien schlecht.«

Ich nickte. Dieses Prinzip war mir nicht fremd, im Gegenteil. Eigentlich nichts Neues, dachte ich. Aber immerhin ein Mann, der das hinterfragt. Und dann auch noch aus einem völlig anderen Kulturkreis, der nicht gerade fürs Frauenverstehen bekannt ist. Dennoch war ich skeptisch. Würde ich nur eine weitere Wohlfühl-Therapiesitzung bekommen, die kurzzeitig vielleicht Linderung, aber keine nachhaltige Besserung verschafft? Dr. Vignesh bemerkte meinen skeptischen Blick und griff zu einem Blatt Papier und einem Stift. Er skizzierte die Dinge gern, wenn sie eine besondere Bedeutung hatten.

»Die Schlussfolgerung aus ›Ich bin schlecht‹ lautet in der Regel ›Ich verdiene Bestrafung‹. Und so bestrafen sich die Frauen selbst, sei es durch schlechte Gewohnheiten, selbstzerstörerische Gedanken, Stress oder falsche Beziehungen – es zieht sich durch ihr ganzes Leben. Und darunter«, schloss er seine Ausführung, »liegt die Scham. Sie ist die Wurzel all dieses Verhaltens.«

In diesem Moment sollte sich mein Gesichtsausdruck von skeptisch in fassungslos verwandeln. So hatte ich meine Blockaden noch nie betrachtet! Überhaupt hatte ich diese Transferleistung noch nie geschafft. Dass auch ich ein Thema mit »Ich bin nicht gut genug« hatte, war mir bewusst, dazu hatte ich schon diverse Gespräche. Aber dass ich mich seit Jahren selbst bestrafte – DAS war mir in der Form neu.

Ich schämte mich!

So wie ich mich schämte, auf den Fliesen zu liegen, so hatte ich mich immer geschämt. Für alles, für mich, andauernd!

»Diese Konditionierung ist wie eine unsichtbare Kette, mit der man gefesselt ist«, sagte Dr. Vignesh. »Weißt du, wie bei uns in Indien Elefanten dressiert werden?« Ich schüttelte den Kopf. »Es wird ihnen ein Kettenring um einen Fuß gelegt, und dieser wird mit der Kette verbunden. Irgendwann haben sie sich so daran gewöhnt, dass sie gar keine Kette mehr brauchen. Allein dass man ihnen den Fußring umlegt, reicht ihnen als Zeichen.« Ich blickte ihn erstaunt an. So ein großes Tier wie ein Elefant war allein durch seine Überzeugung gefesselt. Es war keine echte Kette, die ihn zurückhielt, sondern sein falscher Glaube! Er dachte, er sei an die Kette gelegt, und allein diese Annahme ließ ihn gefügig seine Arbeit verrichten.

»Ich hatte mich aufgrund meiner Scham konsequent bestraft und subtil sabotiert.«

Und genauso gefangen war ich auch! Gefangen in einer Welt voller Scham und falscher Glaubenssätze. Mir wurde plötzlich klar, dass ich mich seit Jahren selbst bestrafte. Vielleicht schon mein ganzes Leben lang! Ein paar glückliche Jahre gab es, sicher, aber im Großen und Ganzen hatte ich ein perfekt ausgeklügeltes System zur Selbstsabotage errichtet. Fast alles war darauf ausgerichtet, mich zu geißeln.

Mit einem Mal sah ich mein Leben in einem ganz anderen Licht. Ich atmete tief durch und spürte instinktiv, dass ich gerade eine jahrelang verschlossene Tür entriegelt hatte. Endlich hielt ich die Formel zur Transformation in Händen. Plötzlich begriff ich, was ich mir da angetan hatte. Diese eine, simple Schlussfolgerung erklärte im Grunde genommen all meine Probleme. Ich war euphorisiert von meiner bahnbrechenden Entdeckung und im selben Moment entsetzt darüber, dass ich so viel Zeit gebraucht hatte, um den Schlüssel zu finden. Natürlich hatte ich schon lang gewusst, was mein innerer Diktator in meinem Kopf tagein, tagaus mit mir anstellte.

Zu alt. Zu dick. Zu hässlich.

Aber wieso hatte ich nie begriffen, was ich da wirklich tat? Mir hatte die letzte Transferleistung gefehlt. Ich hatte mich aufgrund meiner Scham konsequent bestraft und subtil sabotiert, war in einem immerwährenden Teufelskreis der destruktiven Scham gelandet. Und doch spürte ich millionenfach kalte Schauer, die mir über den Rücken liefen, denn ich war mir in diesem Moment in voller Klarheit bewusst: Wenn ich diesen Weg weiterginge, würde ich nie Glück und Freude finden. Aber zunächst wollte ich mehr über das Phänomen Scham wissen und begann zu recherchieren.

No Shame

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