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KEIN AUSWEG

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DER TEUFELSKREIS DER SCHAM

Als ich begriffen hatte, in welches Wespennest ich da gestochen hatte, fiel mir auf, dass in Deutschland fast keine Literatur zu diesem Thema zu finden ist. Alles, was ich zu fassen bekam, stammte aus den USA. Sind wir Deutschen schon grundsätzlich so beschämt über unsere Herkunft, dass wir überhaupt nicht mehr hinschauen wollen?

Dabei schämt sich doch jeder! Für Brené Brown ist die Scham gewissermaßen eines der Grundübel der Gesellschaft, Auslöser von Perfektionismus, Süchten, Angststörungen, Schuldgefühlen, Aggressivität sowie der Beschämung anderer. Sie verändere Beziehungen, Familien, Gesellschaften, »ohne dass wir uns dessen bewusst sind«15.

Bettina, eine Kollegin, ist 37 Jahre alt, eine dunkelblonde, bildschöne junge Frau, glücklich verheiratet und Mutter eines bezaubernden kleinen Jungen. Sie arbeitet als Stylistin und träumt seit Jahren von den großen Fotoproduktionen in New York oder in Südafrika. Sie hat sich einen sehr guten Ruf in Deutschland erarbeitet, doch immer, wenn ein international renommierter Fotograf anruft, verlässt sie der Mut. »Ich habe ein Problem«, berichtet Bettina. »Ich schäme mich so sehr für mein schlechtes Englisch, dass ich lieber auf gute Jobs und natürlich auch auf gutes Geld verzichte, anstatt mein Trauma zu überwinden. Ich weiß, wie sehr ich mir im Weg stehe, aber die Scham siegt einfach immer.«

Sie geht nicht ans Telefon, wenn eine andere Ländervorwahl im Display erscheint, sie fährt im Urlaub nur nach Mallorca, und ihre Agentur verzweifelt schier, denn natürlich, und das ist das Heimtückische an der Scham, würde Bettinas Englisch völlig ausreichen!

»Aber ich komme aus der ehemaligen DDR, habe Englisch erst sehr spät und auch recht schlecht gelernt, und da traue ich mich einfach nicht ran«, erklärt sie. Bettina schämt sich auch ein wenig für ihre Herkunft, das spürt man deutlich, wenn sie erzählt. In dem schicken, kleinen Haus in einem Münchner Vorort, in dem sie mit ihrem Mann lebt und das sie beide gemeinsam gekauft haben, will sie nicht die »Ossi-Tante« sein.

Merken Sie gerade, wohin das führt? Immer tiefer in den Seelensumpf …

So wie Bettina, einer begnadeten Stylistin, ergeht es vielen von uns. Wir verzichten lieber auf Jobs, Geld oder gemeinhin Glück, anstatt zu uns und wie in diesem Fall zu unserer Herkunft zu stehen. Wir vermeiden es, neue und möglicherweise bereichernde Menschen kennenzulernen, weil wir uns für unser Selbst stark schämen. Wir gehen auf keine Partys, weil wir mit unserem Äußeren unzufrieden sind, und öffentliche Bäder sind uns ein Gräuel. Ein Ausflug an den See? Gott beziehungsweise Scham bewahre!

»Wir stecken in einer riesigen Schamfalle, wir sind schließlich nicht gut genug. Zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu alt, zu faltig, zu doof.«

Wir stecken in einer riesigen Schamfalle, wir sind schließlich nicht gut genug. Zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu alt, zu faltig, zu doof, und, und, und. Das ist doch gemeinhin unsere DNA. Früher gingen Forscher davon aus, dass die Scham hauptsächlich ein Frauenthema sei, doch heute weiß man, dass es Männer wie Frauen gleichermaßen betrifft, nur thematisch unterschiedlich. Ich habe mal einen wunderbaren Spruch gelesen: Frauen täuschen Orgasmen vor, Männer Selbstvertrauen. Da, liebe Leserinnen, lieber Leser, ist etwas dran!

Der Teufelskreis der Scham beginnt mit dem unterliegenden Gefühl, nicht zu genügen. Es ist eben nicht eine Handlung, für die wir uns schuldig fühlen, sondern es ist unser gesamtes Selbst, das wir infrage stellen. Wir legen die Messlatte so hoch, dass wir mit schlafwandlerischer Sicherheit drunter durchpassen, aber selbst Ulrike Meyfarth es nie drübergeschafft hätte. Wir peitschen uns durchs Leben wie kleine Perfektionsmonster und geißeln uns, wenn es mal wieder nicht gereicht hat. Aber wann genau hätte es denn jemals gereicht? Und selbst wenn es mal reicht, wie lang lässt sich dieser Zustand wirklich aufrechterhalten? Die Scham aber befeuert Ängste und Perfektionismus, sie lässt uns nicht zur Ruhe kommen und öffnet auch körperlichen Krankheiten Tür und Tor. Ärzte beklagen zudem, dass Patienten aus Scham keine Vorsorgeuntersuchungen mehr vornehmen lassen.

»Frauen täuschen Orgasmen vor, Männer Selbstvertrauen.«

Vor Kurzem habe ich eine erschreckende Zahl gelesen. 91 Prozent aller Frauen, hieß es, hassen ihren Körper. 91 Prozent. Was für eine Zahl! Und da stand nicht mal »91 Prozent sind unzufrieden mit ihrem Körper«, nein, da stand in großen Lettern »91 Prozent hassen ihren Körper«. Wie schrecklich! Warum hassen wir den treuesten Diener unseres Lebens so sehr? Die Würde des Menschen ist unantastbar, die unseres Körpers aber noch lang nicht! 16 Milliarden Dollar haben Amerikaner im vergangenen Jahr für Schönheitsoperationen und kosmetische Eingriffe aller Art ausgegeben – die Branche boomt.

Kein Wunder, denn wir genügen nie. Ich vermute, wenn wir in den Himmel kommen sollten, dass es bei Petrus zwei Eingänge mit je einem Schild drüber gibt: »Menschen, die mit sich rundum zufrieden waren« und »Menschen, die nie gut genug waren«. Ich wette, die Schlange unter letzterem Schild reicht bis kurz auf die Erde zurück.

Doch wie läuft der Prozess der innerlichen Selbstzerstörung tausendfach ab?

Meistens folgt auf ein »Ich bin nicht gut genug« die Scham darüber, wieder einmal in seiner Unzulänglichkeit bloßgestellt worden zu sein.

Darauf folgt: Ich muss mich bestrafen.

Und darauf schließlich: Ich habe wieder versagt, ergo bin ich nicht gut genug.

Und so geht der Teufelskreis immer weiter, der innere Diktator wird unerbittlich, er bekommt ja kontinuierlich wieder neues Futter für sein perfides Spiel.

Besonders plakativ wird der Teufelskreis beim berühmten Jojo-Effekt. Ich habe zugenommen und schäme mich dafür, ich muss mich mit Nulldiät bestrafen, ich versage dabei wieder und habe am Ende zehn Kilo mehr als vorher. Irgendwann geben wir auf und schämen uns dafür, dass wir aufgegeben haben. Merken Sie was?

Wir sind schon wieder mittendrin im perfiden Kreislauf der Scham.

Gerade was das gegeißelte Körpergefühl betrifft, lassen sich mit Ratgebern schon ganze Bibliotheken füllen, da will ich Sie gar nicht weiter belästigen. Hierzu möchte ich einfach nur die indischen Weisen zitieren, die sagen: »Lebendig zu sein in einem MENSCHLICHEN Körper ist das größte Geschenk, das eine Seele jemals erhalten kann.« Sie hätten halt auch als Ameise reinkarniert werden können! Schon mal darüber nachgedacht? All unser westliches Streben nach Perfektion, nach den fünf Kilo weniger hier, dickeren Haaren und weniger brüchigen Fingernägeln da, nach noch mehr Geld und Ansehen, ergibt aus dieser Perspektive überhaupt keinen Sinn. Sie leben und atmen, und damit haben Sie schon alles erreicht. Mehr geht nicht. Wer atmet, ist bereits ein Gewinner.

»Lebendig zu sein in einem MENSCHLICHEN Körper ist das größte Geschenk, das eine Seele jemals erhalten kann.«

Ich verstehe natürlich, dass man sich nicht wohlfühlt, wenn man zugenommen hat, die Hose zwickt und die Urlaubsfotos nach gestrandetem Wal aussehen. Ich kenne das! Aber ich lasse mir von meinem Hirn nicht mehr alles gefallen! Das Korsett, die Zwangsjacke der Perfektion, in die wir uns zwängen, macht überhaupt keinen nachvollziehbaren Sinn, denn Sie haben das größte Geschenk ja bereits erhalten. Sie dürfen leben in einem menschlichen Körper, der Krone der Schöpfung.

Warum verehren Sie ihn dann nicht, sondern kämpfen andauernd gegen ihn? Ich wiederhole: Sie haben das größte Geschenk erhalten! Wertschätzen Sie es! In dem wundervollen australischen Dokumentarfilm »Embrace« sitzt die Heldin, die bereits drei Kinder gestillt hat, im Selbstversuch beim Chirurgen, der ihr erzählt, dass ihre Brüste nicht mehr okay seien. Anschließend sagt sie: »Wieso sind die nicht okay? Die haben drei Kinder gefüttert, man sollte ihnen lieber einen Award verleihen, anstatt über sie zu lästern. Go boobs!«


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