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DOPPELTES LEID

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DIE SCHAM ÜBER DIE SCHAM

Keine Sorge, ich verstehe Sie, ich kenne das Problem natürlich auch nur zu gut. Fakt ist aber: Sie müssen überhaupt nichts tun. Sie. Sind. Bereits. Perfekt. Punkt. (Bitte atmen Sie an dieser Stelle dreimal tief durch, damit die Information tiefer in Ihr Bewusstsein dringen kann …) Es gibt keine äußeren Faktoren, die sie besser machen könnten. Sie als Mensch sind fehlerlos. Wenn Sie gesund sind und niemandem unnötiges Leid zufügen, sind Sie absolut perfekt.

Oh je, ich höre schon die Stimmen der Millionen kleiner Diktatoren in den Köpfen der Frauen. »Aber das stimmt doch gar nicht«, sagen sie unisono, »ich wäre bestimmt glücklicher, wenn ich so reich wäre wie Bill Gates, so schön wie Brigitte Bardot und so erfolgreich wie Lady Gaga.« Ah, herrlich, auch noch Vergleiche hinzuziehen! Großartig, da macht das Hirn erst recht den Schlenker in die Unzufriedenheit. Das Entscheidende ist: Wir halten unsere Werkzeuge zum Glück alle in unseren eigenen Händen. Und es geht ganz mühelos.

Allerdings sollten wir uns mit der Scham über die Scham auseinandersetzen. Sie merken es ja bereits: Die Scham ist eines der schlimmsten Gefühle überhaupt. Brené Brown definiert sie als »das äußerst schmerzhafte Gefühl oder die äußerst schmerzhafte Erfahrung zu glauben, dass wir fehlerhaft sind und deshalb keine Liebe und Zugehörigkeit verdienen«.16

Scham lässt uns zuweilen ein ganzes Leben nicht los, zumal niemand gern über Scham spricht. Psychologen berichten aus der täglichen Praxis, dass die Patienten zwar über Symptome sprechen, aber eben nicht über das ihr zugrundeliegende Gefühl. Die Scham verschließt uns Türen zu tief greifenden Beziehungen und treibt uns in die Einsamkeit.

Scham definiert sich als Teil unserer emotionalen Ausstattung, aber sie macht krank. »›Betroffene Patienten benennen meistens nur die Symptome an der Oberfläche‹, sagt der Psychoanalytiker Michael Titze. ›Über Scham zu sprechen ist schließlich beschämend.‹ Als er vor mehr als 30 Jahren als Psychotherapeut anfing, plagten Schamgefühle jeden fünften seiner Patienten. Heute, schätzt er, seien sie für mindestens jeden Dritten ein großes Thema. Die Gedanken der Patienten kreisten dann unentwegt um die eigene Person und die eigenen Fehler, sie schämten sich ihrer selbst.«17

Also wie umgehen mit einem Gefühl, das jeder hat, aber keiner haben möchte?

Mein erster Tipp: Verzeihen Sie sich Ihre Mechanik. Akzeptieren Sie, dass Sie sich schämen, und zwar bedingungslos. Schämen Sie sich! In Grund und Boden, sofort.

»Akzeptieren Sie, dass Sie sich schämen, und zwar bedingungslos.«

Eine Fressattacke in der Nacht? Jetzt würden Sie sich normalerweise schämen und im zweiten Schritt ordentlich geißeln, korrekt? »Wie konnte das wieder passieren? Was bist du für bloß eine Versagerin!« Dann würden Sie sich bestrafen (»Heute isst du nix mehr!«), um darüber wieder zu versagen (irgendwann landen wir ja doch wieder vor dem Kühlschrank) und sich erneut zu schämen. Aber warum in diesem Fall den zweiten Schritt vor dem ersten machen?

Der erste Schritt aus dem Teufelskreis ist zunächst die bedingungslose (!) Akzeptanz. Jawohl, ich schäme mich! So what? Das ist völlig okay. Wir müssen ALLE ran an die Scham, denn unerkannt und im Verborgenen vergiftet sie unseren Geist, unser Leben und unsere Gesellschaft umso mehr!

Die Betonung auf »Bedingungslosigkeit« bei unserer Akzeptanz ist deshalb so eminent wichtig, da wir Schamhaften uns sonst wieder kleine Ausflüchte suchen. In den Gedankenfluss würde sich sofort ein »Aber« einschleichen. »Ich akzeptiere jetzt meine Scham, ABER das nächste Mal wird es anders laufen.« Und schon wieder haben Sie sich patent unter Druck gesetzt. Deshalb ist das Wörtchen »bedingungslos« von entscheidender Bedeutung. Auch wenn Sie an der Selbstliebe zweifeln – der Satz lautet: »Ich liebe mich bedingungslos.«

Die amerikanische Psychologin June Price Tangney wurde im Gespräch mit der American Psychological Association (APA) gefragt, ob die Scham eine Variable in den Gesprächen mit all ihren Patienten sei, und sie sagte: »Ich glaube, dass die Scham in jeder einzelnen Therapiesitzung mit im Raum sitzt, sie schaut immer aus dem Hintergrund zu – auch beim Therapeuten selbst.«18

Tangney hätte sich gewünscht, dass sie schon eher, auch in ihrer Ausbildung, mehr über Scham erfahren hätte. Allerdings zeigte sich ihr in ihren späteren Forschungen, dass das Gefühl früher einfach falsch bewertet und wenig beachtet wurde. Auch das ist ein Phänomen der Scham: Andere wollen mit ihr nichts zu tun haben, die Scham arbeitet am liebsten im Dunkeln. Sagen Sie mal zu einer Freundin: »Da habe ich mich furchtbar geschämt.« Damit setzt sich sich niemand gern auseinander, denn die Existenz der Scham wird am allerliebsten geleugnet. Doch da liegt der große Fehler!

»Andere wollen mit ihr nichts zu tun haben, die Scham arbeitet am liebsten im Dunkeln.«

Wer sich mit ihr beschäftigt, merkt, welche absolut bizarren Auswüchse sie mit sich bringt. Für mich hatte sie weitreichende Folgen in meinem Privatleben. Denn in der Zeit der nicht entdeckten Scham bedeuteten für mich zum Beispiel fünf Kilo mehr nicht nur einfach fünf Kilo mehr. Ich schämte mich, seit ich denken kann, für meine Figur. Selbst als ich mich im Zuge einer Essstörung als Teenager im lebensbedrohlichen Bereich bewegte, fühlte ich mich immer noch zu dick. Diese Scham konnte ich nie mehr ablegen.

Ich geriet in eine Spirale der Selbstabwertung, die ihresgleichen suchte. Ein gedanklicher und emotionaler Turbo wurde gezündet, ein giftiger Cocktail aus dem inneren Jüngsten Gericht (»Du Versagerin«) und der ultimativen Entwertung (»Du bist nicht liebenswert«). Die Scham trieb mich so weit, dass ich als Single Avancen von Männern, die mich anziehend fanden, in einer Gewichtszunahme-Phase grundsätzlich ignorierte. Für mich galt der Umkehrschluss: Ich versage, also bin ich nicht liebenswert.

Wer das dennoch findet, muss einen an der Waffel haben. Den würde man ja niemals wollen! Was für eine gemeine Spirale der Isolation. Und damit bin ich wirklich nicht allein. Scham ist ein allumfassendes Gefühl, das für die Betroffenen großes Leid mit sich bringt, egal was oder wer der Auslöser ist. Denn sie überflutet das Selbst bis zur kompletten Entwertung und lässt dich so leicht auch nicht mehr los. Wer wirklich hinschaut, wird seine Scham als äußerst destruktiven und qualvollen Teil seiner Gefühlswelt wahrnehmen. Aber: Das ist auf jeden Fall ein erster Schritt!

Außerdem gilt: Es ist wichtig, sich selbst die Scham zu verzeihen, sonst befeuert sie doppeltes Leid – am Ende schämen wir uns noch, weil wir uns schämen, und landen im eben beschriebenen Teufelskreis.

Erst als ich den Schlüssel in der Hand hielt, um die Scham zu erkennen und aufzulösen, habe ich den Mann fürs Leben kennengelernt und bin jetzt glücklich verheiratet. Ich kann nichts versprechen, aber ich weiß, dass – falls Sie noch nicht den Mann fürs Leben gefunden haben – es Ihnen nach der Lektüre dieses Buches leichter fallen wird.

No Shame

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