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DIE WIEGE DER UNZULÄNGLICHKEIT

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WIE DESTRUKTIVE SCHAM ENTSTEHT

Über die Entstehung der Scham sind sich die Forscher nicht ganz einig. Sicher ist aber: Scham betrifft jeden – und sie ist angeboren. Schon Babys drehen die Köpfe weg, wenn sie sich ertappt fühlen, was von einigen Wissenschaftlern bereits als »schamhaftes Verhalten« gewertet wird. Kinder zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr sind bereits in der Lage, Scham zu empfinden. In dieser Phase fangen die Kinder an, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Sie entdecken langsam ihre eigene Welt und begreifen das Aktions- und Reaktionsprinzip. Und hier wird es interessant für uns, denn wir wollen uns nun der Scham widmen, um die es in diesem Buch geht. Der destruktiven Scham. Denn sie entsteht hauptsächlich bei kleinen Kinder, die zu oft eine »falsche« Rückmeldung erhalten. Sie erinnern sich: Das Gehirn entwickelt sich entscheidend im Alter von null bis vier. In dieser Zeit haben Sie möglicherweise ständig das »falsche« Feedback bekommen, Sie wissen es aber nicht mehr. Sie drücken andauernd auf den »Belohnungs-Button«, ernten aber eine verbale Ohrfeige!

Klein-Theo malt ein Bild, freut sich auf Lob – und wird missachtet. Er spielt später im Theater und erntet nur Kritik. Lea überwindet ihre Angst und turnt die schwerere Kür im Wettkampf – wird von ihren Eltern aber danach getadelt, weil sie nicht genügend Punkte erreicht hat. Julius verhält sich immer brav und angepasst, und trotzdem gibt es Prügel vom alkoholkranken Vater. Es besteht also ein anhaltendes Missverhältnis zwischen Handlung und Erwartung. Die Schamfalle schnappt zu. Hier steht die Wiege dieses Gefühls von Unzulänglichkeit, das uns unser gesamtes Leben zu schaffen macht, wenn wir uns ihm nicht stellen.

»Kinder zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr sind bereits in der Lage, Scham zu empfinden.«

Mit zunehmendem Alter werden die Unsicherheiten immer größer. Unter diesen Umständen ist es äußerst schwer, Vertrauen zu fassen – von Selbstvertrauen ganz zu schweigen. Kinder, die immer wieder vor nicht vorhersehbaren Reaktionen stehen, können keine Selbstsicherheit, keine sichere Identität entwickeln, da sie sich nicht auf ihre Umwelt und damit im Rückschluss auch nicht auf ihre eigenen Gefühle verlassen können. Sie werden auch deshalb besonders »schamanfällig« und sind ständig auf die Rückmeldung anderer angewiesen. Und wehe, die fällt nicht gut aus! Hier wird klar, warum Scham und Narzissmus gern im selben Boot sitzen: Sie entstehen meistens durch misslungene emotionale Kommunikation.

Im Umkehrschluss gebe ich Ihnen gern ein anderes Beispiel: Kein Fußballtrainer wird Erfolg haben, wenn er nicht zu 100 Prozent verlässlich ist. Denn nur dann vertraut die Mannschaft auf ihn und auf sich. Er darf seine eigenen Regeln nicht brechen. Wenn er seinem Team das Bier verbietet, aber selbst zur Flasche greift, wird er seine Mannschaft verlieren. Wenn er das Leistungsprinzip predigt, aber doch immer seine Lieblinge spielen lässt, hat er zu viel Kredit verspielt. Er muss einen klaren Tanzbereich abstecken, und diesen müssen alle einhalten. Und er darf im Grunde genommen keine Ausnahmen machen. Ausnahmen – wie bei vielen besonders guten Fußballern üblich – sind Gift für den Teamgeist. Es geht um ein klares und unumstößliches Gefüge von Aktion und Reaktion. Sind die Regeln klar und verlässlich, funktioniert das menschliche Zusammenspiel, denn hier liegt die Basis für Vertrauen. Der Ruf der deutschen Wirtschaft basiert seit Langem auf diesem vertrauenswürdigen Image, das der Diesel-Skandal, der BER, die Politik und die Deutsche Bank aber so langsam in die Knie zwingen.

»Meist haben unter Scham leidende Menschen bizarr hohe Ideale, die sie beim besten Willen nie erreichen können.«

Unzuverlässigkeit bedeutet Krise.

Die Scham beginnt insbesondere bei der Unzuverlässigkeit der engsten Bezugspersonen. Wer sehenden Auges in sein Verderben rennt, wird sich danach kaum schämen, sondern sich maximal ärgern. Sein Selbst ist davon nicht betroffen. Oder hat sich Michel aus Lönneberga wirklich jemals geschämt? Nein! Denn die Reaktionen seiner Umwelt waren für ihn vorhersehbar. Er wusste, dass er Streiche spielte und die Menschen in seiner Umgebung provozierte. Das führt nicht zu Scham, dafür kriegt man nur jede Menge kalkulierbaren Ärger.

Schlimm wird es aber für diejenigen, die es ihrer Umwelt nicht recht machen können, selbst wenn sie es wollen! So wie mein Freund Carl, der Frührentner. Meist haben unter Scham leidende Menschen bizarr hohe Ideale, die sie beim besten Willen nie erreichen können. Sie entwickeln ein »falsches Selbst«.

Scham bildet also den Bodensatz des Versagens.

In ihrer Wahrnehmung laufen die so Beschämten immer und immer wieder unter ihrer viel zu hoch gelegten eigenen Messlatte hindurch, anstatt sie zu überwinden. Liebe Damen, ich wiederhole es gern: Supermodels sind nur eine komische Laune der Natur, bei Weitem nicht die Norm!

Ein anderer grotesker Zug der Schamepidemie: Wer sich lang genug schämt, wird auch noch zum »Schamerzeuger«. Scharen von Helikoptereltern stülpen ihren Sprösslingen noch höhere Ziele über und treiben sie ins nächste schamvolle Hamsterrad, aus dem sie kaum aussteigen können, bis sie erwachsen sind und vielleicht dieses Buch lesen.

No Shame

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