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ZWEI KLINGEN, EINE GEISSEL

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WIE UNS DIE SCHAM IM GRIFF HAT

Wollen wir ehrlich sein: Immerhin hat die Scham einen Vorteil. Sie löst am Ende der Gefühlskette Empathie beim Gegenüber aus, besitzt also eine spannende Sozialkomponente. Man könnte sie auch als zweischneidiges Schwert sehen, die eine Seite der Klinge dient zur Unterwerfung, die andere zur Selbstkasteiung. Ja, sie wird sogar sichtbar, wenn wir mit hochrotem Kopf vor unserem Gegenüber stehen. Schon Charles Darwin ging der Frage nach, warum Menschen erröten. Er »hatte das Erröten geadelt, indem er befand, es sei ›die charakteristischste und menschlichste aller Ausdrucksformen‹«7 unserer Spezies. Somit erfüllt die Scham schon bei kleinen Kindern, die noch nicht sprechen können, einen klaren Zweck. Sie erzeugt Mitgefühl beim Gegenüber und zeigt an: Sieh her, ich schäme mich, ich erkenne mein Fehlverhalten an. Ähnlich wie sich Hundewelpen auf den Rücken werfen, laufen schon kleine Kinder rot an.

Es handelt sich auch nicht um ein nachgeahmtes Verhalten, denn blinde Kleinkinder erröten ebenso, wie Darwin in seinem Buch »Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren« (1872) schreibt. Er machte einen Schamversuch mit drei blinden Kleinkindern, bei denen sich die Blutgefäße im Gesicht genauso weiteten wie bei sehenden.

Das Erröten, das von vielen Menschen als »niedlich« eingestuft wird, kann im Extremfall die Betroffenen aber in großes Leid stürzen. In der Psychologie trägt das Phänomen den Namen Erythrophobie und bezeichnet die Angst vorm Erröten.8

Erythrophobie-Patienten verlassen teilweise über Jahre kaum ihre Wohnungen, weil sie so große Angst haben, rot zu werden. Agnes, die Tochter einer Nachbarin, beschreibt ihre Situation in einer E-Mail an ihre neue Therapeutin so: »Ich bin Mitte 30. Seit über zwei Jahrzehnten erröte ich. Zum ersten Mal bemerkte ich es bei einem Referat vor der Klasse – und von da an ging es los: Woher kommen diese Hitzewallungen auf einmal? Ich war doch immer souverän, es ging mir leicht von der Hand, und jeder wusste, wenn ich rede, wird das was. Heute ist leider das Gegenteil der Fall. Ich habe mich mittlerweile sogar regelrecht von meinem Umfeld abgeschottet. Und wenn ich muss, sind Alkohol oder Betablocker verdiente Helfer in der Not. Psychologen bissen sich bisher die Zähne an mir aus. Wieso kann ich nicht normal sein, so wie die anderen? Ganz locker bleiben, wie man das so einfach sagt. Ich hasse diesen Teufelskreis. Warum kann ich nicht Freunde treffen, in Bars oder ins Kino gehen oder einfach Geburtstage von Bekannten mitfeiern? Seit so langer Zeit hat mich dieses Syndrom fest in der Hand, und ich bin es echt leid mein Leben davon bestimmen zu lassen.«

So wie Agnes ergeht es erstaunlich vielen. »Die Zahl derart Geplagter ist groß; Schätzungen schwanken zwischen acht und 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Hochschulkreisen sind die meisten Verschüchterten zu finden: Bis zu 30 Prozent der Studenten werden von der Angst gequält, sich irgendwie und irgendwo zu blamieren, mit einem blöden Grinsen auf den Lippen und diesem puterroten Ballon.«9 Doch das findet alles nur in ihrem Kopf statt, denn während die Menschen mit Erythrophobie glauben, dass ihr Schädel »für alle Welt sichtbar« glüht, nimmt es ein Großteil der Außenwelt überhaupt nicht wahr. Was ich denke, was du denken könntest, denke immer noch ich. Und nicht du.

»Was ich denke, was du denken könntest, denke immer noch ich. Und nicht du.«

Deshalb sollten die Erythrophobiker zur Kenntnis nehmen, dass ihr Erröten absolut POSITIV auf ihre Umwelt wirkt, nicht negativ! Dass Schüchternheit als gesellschaftlich bindendes Element angesehen wird. Dass sie also völlig okay sind, so wie sie sind!

»Der Psychologe Anthony Manstead von der britischen Universität Cardiff hat dies in einem Experiment nachgewiesen. In einem Supermarkt ließ er erst einen Mann einen Stapel Toilettenpapier umreißen, dem das offenkundig peinlich war. Dann geschah das Missgeschick einem anderen, der sich ungerührt zeigte. Bei Ersterem spürte die Gruppe der Probanden erheblich häufiger den Impuls, ihm zu helfen. Anders als Letzterer tat er den Studienteilnehmern leid.«10 Im Umkehrschluss: Wir mögen keine Menschen, die keine Scham empfinden.

Wieso benötigen wir diese Emotion, obwohl sie auf der anderen Seite so viel Leid erzeugt? »Für Daniel Fessler von der University of California ist Scham seit der Frühgeschichte des Menschen der ›entscheidende Mechanismus, um die Zusammenarbeit in Gruppen zu etablieren und aufrechtzuerhalten‹. Die peinigende Emotion treibt dazu an, die geltenden Normen einzuhalten. Dies sichert den Verbleib in der Gruppe – und somit das Überleben. Nach innen wirkt Scham wie eine Alarmglocke, nach außen beschwichtigt sie: Seht her, ich habe eine Regel verletzt, und mir geht es nicht gut damit. Mehr Bestrafung ist nicht nötig.«11, 12 Das mag für die Evolution sinnvoll gewesen sein, in der heutigen Welt kreiert Scham aber viel weniger ein Wir-Gefühl, sondern zeigt sich beinahe ausschließlich in ihrer destruktiven Variante. Die Wirkung als moralischer Kompass hilft aber denen, die unter ihrer Scham leiden, herzlich wenig.

Im westlichen Kulturkreis wird die Scham in der Regel am liebsten verdrängt. Fessler befragte zum Beispiel eine Gruppe Kalifornier und eine Gruppe Indonesier, wo sie das Gefühl »Scham« ansiedeln würden in seiner Wichtigkeit. Bei den Asiaten landete es auf Platz zwei hinter »Ärger«, bei den Amerikanern auf Platz 49 – von 52!13 Niemand stellt sich ihr gern, sie ist einfach zu unbequem.

Als Sozialkomponente befolgt die Scham eine klare Strategie: Sie soll uns zurückschicken in die uneingeschränkte Anpassung, wir sollen funktionieren. Die Scham fungiert also als Sozialkontrolleur.

Ich glaube, die meisten kennen dieses Beispiel: Sie erreichen im letzten Moment die U-Bahn und stehen vor der Gretchenfrage, schnell noch ein Ticket zu lösen und die Gefahr einzugehen, die Bahn zu verpassen oder schnell reinzuspringen und die Gefahr einzugehen, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. Sie entscheiden sich für Letzteres. Sofort bohrt sich aber das schlechte Gewissen in unseren Körper und wenn die Männer in den dunkelblauen Uniformen wirklich eintreten, ist sie unausweichlich, unsere Scham, mit ihren körperlichen und seelischen Merkmalen. Das Gesicht errötet, der Blick senkt sich, man fühlt sich beinahe ohnmächtig, möchte im U-Bahn-Schacht verschwinden, denn die Augen aller anderen sind auf einen gerichtet. Ein 360-Grad-Schammoment. Hier funktioniert die Scham als Kontrolleur für das Gemeinwohl.

Wer sich schämt, gibt einen Fehler zu, gesteht Versagen ein und ordnet sich wieder unter. Wie ein Wolf im Rudel, der schließlich mit eingezogenem Schwanz wieder auf seinen Platz trottet. Sitz. Platz. Basta. Einige Forscher glauben auch, die Scham habe ihre biologische Wurzel in einem solchen »Rangordnungsverhalten«. Diese Ausprägung der Scham hat durchaus einen positiven Aspekt. Fessler sieht sie als den »›entscheidenden Mechanismus, um Zusammenarbeit in Gruppen zu etablieren und aufrechtzuerhalten‹. Die Scham als Kitt der Kooperation.«14

»Wer sich schämt, gibt einen Fehler zu, gesteht Versagen ein und ordnet sich wieder unter.«

Scham offenbart sich im Erröten bei akuten Attacken, versteckt sich aber auch gern hinter dem Deckmäntelchen der Angst oder führt schnurstracks in Richtung Depression. Gute Laune macht sie nie.

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