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Meine Regeln für die Wortwalz – Ein Bannkreis und viele Verbote
ОглавлениеDoch wie geht man los ohne Vorgänger? Die schreibende Zunft kennt keine Reisetradition. Wenn ich jetzt auf Wortwalz gehe, dann will ich mich am Kodex der Wandergesellen orientieren. Die Regeln der Reisenden scheinen mir nützlich. Ich bestelle Bücher und spreche fortan auf der Straße jeden Handwerker an, den ich sehe – kein einziger entpuppt sich als ehemaliger Wandergeselle. Ich schaue den famosen Film Für den unbekannten Hund, in dem die Berliner Filmemacher Gebrüder Reding eine Geschichte rund um die Walz erzählen. Darin taucht der schöne Satz auf: »Alles Mögliche ist verboten auf Wanderschaft. Wie du dich verhältst, das ist entscheidend.«
Offiziell kann auf Wanderschaft gehen, wer einen Gesellenbrief hat. Außerdem darf ein Wandergeselle noch keine 30 Jahre alt sein, darf keine Schulden und bestenfalls auch keine Vorstrafen haben. Ledig und kinderlos sollen Wandergesellen sein, damit sie nicht etwa vor der Verantwortung zu Hause davonrennen.
Ich nehme mir die Notizen von meinem Interview mit der Bäckergesellin Sarah vor gut einem Jahr vor. Regel Nummer eins: das Handyverbot. Wandergesellen reisen digital amputiert. Kein Smartphone, kein Blackberry. Das sorgt für eine seltsame Asymmetrie. Der Reisende ist unerreichbar für Freunde und Familie, während daheim alle in Sorge bangen. Kommunikation wird zur Einbahnstraße. Auch die Wandergesellin Sarah konnte ich kaum für Nachfragen erreichen. Ich schickte ihr unzählige Mails. Wochen später klingelte sie von wildfremden Nummern durch.
Ein Handy ist also verpönt. Manche Wandergesellen nageln es an den Türrahmen. Ich werde meins auf dem Büroschreibtisch liegen lassen. Ich werde nicht jederzeit meine Eltern anrufen können. Ich werde kein Googlemaps zur Verfügung haben. Und mir auch nicht über Couchsurfing ein Bett organisieren können. Dazu kommt, dass ich keinen Laptop mitnehmen werde. Manche meinen zwar, das sei heute das Handwerkszeug einer Journalistin. Um Geschichten zu erzählen, muss ich aber vor allem zuhören können. Ich brauche nur einen Stift und einen Zettel. Mehr nicht.
Regel Nummer zwei: Kein Geld fürs Reisen oder Übernachten ausgeben. Für Hotels zu bezahlen ist genauso verboten wie eine Bahnkarte zu kaufen. Von dieser Regel gibt es nur eine Ausnahme, wenn jemand mir die Fahrt oder die Nacht sponsert. Die Reise soll zeigen: Von A nach B kommt man auch ohne Geld, ein Dach überm Kopf wird sich finden. Noch ist es Sommer, ich kann draußen auf meiner Isomatte schlafen. Ich kann überall nach einem Übernachtungsplatz fragen, ich muss bloß den Mund aufmachen. Theoretisch. Praktisch bekomme ich Panik. Wo werde ich unterkommen? Werde ich wie ein Heckenpenner durch die Gegend ziehen?
Nach Hause fahren ist nicht erlaubt. Um den Heimatort eines Wandergesellen wird ein Bannkreis gezogen. Näher als 50 Kilometer darf er oder sie nicht an den Ort heran. Eine Nogo-Area, eine Bannmeile. Sie wird als kreisrundes Sperrgebiet in die Deutschlandkarte eingezeichnet. Und wenn die Autobahn nur fünf Kilometer in den Bannkreis hineinreicht? Vergiss es, tabu. Manche Wandergesellen bekommen unterwegs regelrechte Albträume, dass sie aus Versehen die trennscharf eingezeichnete Grenze übertreten. Bannkreisträume nennen sie das. Für mich hört sich das zunächst nicht so schwer an, diese Sperrzone zu meiden. Die eigentliche Herausforderung scheint mir zu definieren: Wo ist eigentlich mein Heimatort? Ist das mein Wohnort, also München, wo ich seit fünf Jahren lebe? Oder ist das der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, wo meine Eltern leben, also eine Kleinstadt bei Hannover? Oder ist es mein Geburtsort, Frankfurt an der Oder, mit dem ich fast nichts verbinde? Für manche ist Heimat umzäunbar: Schule, Lehre, Elternhaus – alles an einem Ort. Bei mir ist das anders. Bei mir fühlt sich Heimat zerfleddert an. Ich kann nicht mal genau sagen, wo ich zu Hause bin. Ich bin im Osten geboren, im Norden aufgewachsen, habe lange im Süden gelebt. Ich beschließe, München zum Zentrum meines Bannkreises zu machen. Da darf ich jetzt also erst mal nicht mehr hin. Für wie lange noch mal?
Drei Jahre und ein Tag gehen Wandergesellen auf die Walz. Warum der eine Tag? Weil die Wanderschaft länger sein soll als die dreijährige Lehrzeit. Nur die Handwerkervereinigung der »Freien Vogtländer Deutschlands« macht da eine Ausnahme, bei denen sind es mindestens zwei Jahre auf Tippelei. Ob nun zwei oder drei Jahre, hier habe ich ein Problem. Für so lange zu gehen, traue ich mich nicht. Ich beschließe, es sollen drei Monate und ein Tag sein. Ich betrachte es als Experiment. Und die drei oben genannten Regeln einzuhalten, scheint mir schon schwer genug. Es gilt also: kein Handy und kein Laptop, kein Geld ausgeben fürs Reisen und fürs Übernachten und ein 50-Kilometer-Bannkreis um München herum.
Mit einem Gerücht muss ich noch aufräumen. Viele den-ken, Wandergesellen reisen für Kost und Logis durchs Land. Das ist streng genommen falsch. Wenn ein Handwerker arbeitet, dann erwartet er dafür auch einen Lohn. Nicht bloß eine warme Kartoffelsuppe und ein Dach überm Kopf. Viele Wandergesellen haben mich darauf hingewiesen, dass sie ganz regulär nach Tarif für ihre Arbeit bezahlt werden. Und deshalb nehme auch ich mir vor, in den Lokalredaktionen die dort übliche Bezahlung zu verlangen. Zumal ich weiß, wie beschämend gering die Honorare bei Lokalzeitungen sind. Freie Mitarbeiter werden oft nach Zeilengeld bezahlt. Als Studentin habe ich manchmal 25 Cent pro Zeile bekommen, da kommt bei einem 100-Zeilen-Text, für den man einen ganzen Tag recherchiert hat, nicht viel rum. Lokaljournalisten sind also chronisch unterbezahlt, zumindest die meisten freien Mitarbeiter. Und deshalb will ich nicht diejenige sein, die in einer Redaktion aufschlägt und sagt: »Hallo, ich bin auf Wortwalz, ich schreibe auch für lau!« Ich will nicht dazu beitragen, dass der Lokaljournalismus noch weiter entwertet wird. Also schreibe ich nicht für »Kost und Logis«, auch wenn viele das später falsch verstehen werden. Sondern meine Aufforderung an meine Chefs lautet: »Zahlen Sie mir bitte das, was auch Ihre freien Mitarbeiter fürs Schreiben bekommen.«