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Losgehen – Letzter Schnaps am Ortsschild München
ОглавлениеJetzt gibt es nichts mehr, das mich hält. Beduselt sitze ich oben auf dem gelben Ortsschild am Stadtrand von München. Ich lasse mich auf der anderen Seite herunterfallen, schultere den roten Rucksack und laufe los in mein großes Abenteuer. Und drehe mich nicht noch einmal um. Mein Kopf fühlt sich nach der Beerdigung der halbleeren Schnapsflasche unterm Ortsschild so an: ziemlich voll. Die Nacht zuvor habe ich kaum geschlafen, habe in alberner Aufgeregtheit versucht, den großen roten Rucksack zu packen. Immer wieder räumte ich Dinge ein und wieder aus. Das Pfefferspray von meiner Mitbewohnerin. Das Taschenmesser von einer Kollegin. Um Himmels willen, wovor soll ich mich denn damit bloß verteidigen? Ich versuche das Gepäck zu reduzieren, denn vom Wandern weiß ich: Es ist bloß die eigene kiloschwere Eitelkeit, die ich mir da auf den Rücken lade. Vor Jahren bin ich einmal zu Fuß von München nach Venedig gewandert, da hatte ich nicht mal ein Deo dabei. Jetzt landet ein Kajalstift in meinen Rucksack. Er wird nicht das einzige Gepäckstück sein, das ich in den nächsten Wochen und Monaten wieder nach Hause schicke.
Ich halte mich an die Tradition der Walz, so gut es eben geht. Anders als Wandergesellen trage ich aber keine Kluft. In ihrem schönen doppeldeutigen Wortsinn bildet die Kluft tatsächlich eine Kluft. Zwischen Reisenden und Kuhköppen. Sie ist Wandergesellen vorbehalten, sie ist Fluch und Segen zugleich. Wer trägt schon gerne bei 30 Grad im Schatten auf einer Baustelle eine Hose aus festem schwarzen Cordstoff? Wer achtet schon gern bei jeder Gelegenheit auf seinen Deckel, den Hut? Überhaupt ist es heikel mit diesen Hüten. Man sagt, ein Wandergeselle zieht vor niemandem den Hut, nur vor der Küche, manche auch vor der Kirche. Wer einem Tippelbruder aber den Deckel klaut, muss ihn mit einem Kuss bezahlen. Wer es wagt, den Hut auch noch aufzusetzen, muss die Nacht mit ihm verbringen. So sagen es jedenfalls manche …
Die Gesellenkluft ist ein Hingucker. 80 Zentimeter weit ist der Schlag der Hose, mindestens vier Zentimeter breit die Hutkrempe. Ein Staudenhemd, ein Jackett mit sechs Knöpfen, eine Weste mit acht. Sie stehen symbolisch für sechs Tage Arbeit in der Woche, acht Stunden am Tag. Die Farbe der Kluft lässt das Handwerk des Reisenden erkennen: Zimmermänner, Schreiner und die sogenannten Holzgewerke tragen Schwarz, Steinberufe Grau oder Beige, Metallhandwerker Blau, farbgebende Berufe wie Schneiderinnen und Maler Rot. Jede Gruppe hat ihre eigenen Erkennungszeichen. Die einen tragen Knöpfe groß wie Untertassen am Jackenrevers, die anderen klappen den Stehkragen ihres Staudenhemds nach innen ein. Wer ein Metermaß in der Hosentasche trägt, der arbeitet gerade. So erzählt jedes Detail eine Geschichte. Es sind die Codes der Vagabunden.
Wandergesellen haben sogar eine eigene Sprache. Sie nennt sich Rotwelsch, ist geheimnisumwittert. Ihre Wurzeln reichen zurück zu einer mittelalterlichen Gaunersprache. Dabei fin-den sich Spuren davon sogar in unserem Alltagswortschatz. Das Wort »Schlitzohr« ist ein Beispiel dafür: Ein Wandergeselle trägt im linken Ohr einen Ring als einzigen Wertgegenstand bei sich. Auf das Versprechen, sich ehrbar und löblich zu verhalten, wird ein jeder festgenagelt. Mit einem Nagel wird das Ohrläppchen ans Holz gehämmert, in das genagelte Ohr ein sogenannter Hänger gesteckt. Manche sagen, mit diesem Ohrring sollte ein Wandergeselle im Notfall seine Bestattung bezahlen. Lässt sich ein Wandergeselle nun etwas zu Schulden kommen und verhält sich grob unehrenhaft, wird ihm der Ohrring von Kameraden ausgerissen. Am geschlitzten Ohrläppchen erkennt man also den Untugendhaften, das Schlitzohr.
Als Wandergeselle ist man immer Repräsentant, steht stellvertretend für die Handwerkerehre. Und muss manchmal im 5-Minuten-Takt Auskunft geben und die immer gleichen Fragen beantworten. Man wird allerorten erkannt und angesprochen. Wer in Kluft am Straßenrand steht wird ratzfatz mitgenommen. Ein Zimmermann aus dem Ruhrpott erklärte mir einmal, was er über das Tragen der Kluft in seinen drei Wanderjahren gelernt hatte: »Im ersten Jahr verzaubert dich die Kluft, im zweiten Jahr lernst du mit der Kluft zu zaubern und im dritten Jahr verstehst du: Es ist die Kluft, die zaubert.«
Eine Kluft zum Zaubern? Steht mir nicht zu. Ich bin bloß in einem blau karierten Holzfällerhemd und mit einem kleinen Filzhütchen von H&M unterwegs. Um den Hals trage ich eine Messingkette, in die drei Pusteblumensamen eingefasst sind, ein Freundinnengeschenk. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht zu verkleiden und nur Klamotten auf die Reise mitzunehmen, die ich schon vorher im Schrank hatte. Auch wenn es mich manchmal sehr gejuckt hätte, so einen schicken Anzug anzuziehen. Wandergesellen nennen sich mitunter selbst scherzhaft »Penner in Maßanzügen«. Herrlich. Gewaschen wird die Kluft übrigens höchst selten. Dafür zu Beginn der Reise einmal »eingeschmort«, also ordentlich mit Bier begossen. Auch das ist ein Zeichen der Wertschätzung. Und immerhin habe ich dieses Ritual, das Sich-mit-Schnaps-beduseln, ja seit dem Umstrunk am Ortsschild hinter mir.
Gerade mal zwei Kilometer bin ich gelaufen, stur an der Bundesstraße 13 entlang, auf betonierten Radwegen. Die Autos zischen an mir vorbei. Ich bin aufgewühlt wie ein Jacuzzi. Mein Gehtempo erscheint mir unerträglich langsam. Meine Schritte schwer wie hingeworfene Mehlsäcke. Als ich an einer Mülldeponie vorbeilaufe, wandert mein Blick zwischen Drahtgittern und verrosteten Karosserien hin und her. Ich denke an all die Abenteuerbücher, die daheim in meinem Regal stehen. Ich verehre Autoren wie Andreas Altmann, Wolfgang Büscher, Ryszard Kapuściński. Sie bringen den Sound der Straße auf den Punkt, bei denen ist unterwegs ständig was los, andauernd scheint ihnen Magisches zu widerfahren. Da bleibt kein Platz für Banalität am Wegesrand. Für Zweifel. Für Unsicherheit. Für Schluckauf. Ich erinnere mich, wie ich noch kürzlich mit einem Freund darüber spottete, dass in diesen Büchern immer im dramaturgisch korrekten Moment ein Wolf aus dem Wald auftaucht, als Bote der Wildnis. Man denkt so: »Ja, klar!« Doch während ich jetzt so vor mich hin stapfe, erblicke ich im Augenwinkel etwas Rotbraunes. Überrascht bleibe ich stehen. Ein Fuchs. Er schaut mich wachsam an, bewegt sich keinen Zentimeter. Er ist mager, sein Fell struppig. Ja, er ist ein Rumtreiber, sieht man gleich. Und ich muss lachen. Weil ich in diesem fuselduseligen Moment nach meiner Abreise am Ortsschild bereit bin, in allem ein Zeichen zu sehen. Auch in einem Fuchs.
Heute Morgen noch hatte mir ein einheimischer Wandergeselle einige Zeilen geschickt. Er war zunächst ein harter Kritiker meiner Wortwalz gewesen. Ein kantiger Typ, mit scharfem Blick und fordernden Fragen, der aber auch eine weiche Seite hatte. »Ich glaube du könntest verstehen, welchen Zauber es da draußen zu entdecken gibt«, sagte er zu mir nach unserem ersten Gespräch. Als der Tag meiner Abreise gekommen war, schickte er mir Mutworte. »Reisen ist von zu Hause weg zu gehen, Freunde zurückzulassen, versuchen zu fliegen, andere Zweige kennenzulernen, die Welt kennenzulernen, andere Leute kennenzulernen. Wieder und wieder anfangen, anfangen, die Hand auszustrecken, lernen vom Schwierigen. Reisen ist sich mit Verrücktheit zu kleiden, alles und nichts mit einer Postkarte zu sagen. In einem anderen Bett schlafen, fühlen, dass die Zeit kurz ist, zu fühlen, dass man geliebt wird. Reisen ist zurückzukehren!« Mit diesen Worten im Kopf, mit dem Fuchs vor Augen – und ein paar Tränchen darin – laufe ich weiter. In das Abenteuer zu meinen Füßen.
Ich marschiere. Ich gehe. Eine Stunde, zwei Stunden. Die Wirkung des Schnapses lässt nach. Der Radweg entlang der B13 ist anders, als ich mir das in meinen Roadmovie-Träumen vorgestellt hatte. Trampen will ich hier noch nicht. Ich habe gelesen, dass Wandergesellen zu Fuß aus ihrem Bannkreis herauslaufen, also will auch ich die ersten 50 Kilometer zu Fuß gehen. Für den Notfall habe ich mir einen Schild mitgenommen. Ein Blatt Papier, das ich mit Klarsichtfolie überzogen habe und im Rucksack bei mir trage. Darauf habe ich in Stichpunkten notiert, was die Wortwalz ist. Die Rückseite des Schildes ist weiß, damit ich meinen jeweiligen Zielort beim Trampen darauf schreiben kann – mit einem wasserlöslichen, abwischbaren Filzstift. Ich bin so gut ausgerüstet wie ein Schreibwarenladen. Unter echten Haudegen und Straßenstreunern würde man mich dafür sicher auslachen. Aber, hey: Ich habe nun mal niemanden, der mich »auf die Straße bringt«, also muss ich mir selbst ein bisschen Sicherheit verschaffen. Und sei es nur mit einem laminierten Konzept und einem wasserlöslichen Filzstift.
Ich trottete trostlos vor mich hin. Von Weitem sehe ich etwas am Fahrbahnrand liegen. Ein weißes Schild, es sieht genauso aus wie, nun ja, mein eigener laminierter Zettel. Ich wundere mich, bücke mich, greife ins nasse Gras und frage mich: Wie um alles in der Welt kommt an diesen Ort hier, am Straßenrand einer Bundesstraße, wo sonst niemand ist, ein laminierter Zettel hin? Ich drehe das Ding um und muss schon wieder laut lachen. Auf der Rückseite des Zettels, der meinem zum Verwechseln ähnlich sieht, ist ein großes Hundefoto. Einfach so. Das Bild eines dahinjagenden schwarzen Rottweilers mit glänzendem Fell. Ist es zu glauben? Ein laminierter Hund wartet am Straßenrand auf mich! Zwölf Kilometer vom Ortsschild entfernt treffe ich meinen ersten Weggefährten, einen, der mich treu begleiten wird. Ich kichere vor mich hin. Ab jetzt soll er mein Reisekamerad sein: Lumpi, der laminierte Hund. Leicht abwischbar und gut verstaubar im Gepäck. Keine Ahnung, wo er herkommt, aber er scheint als Straßenköter schon einiges erlebt zu haben. Ich freue mich über die Gesellschaft und diese ulkigen Zeichen am Wegesrand. Erst der Fuchs, jetzt der Hund – was wohl als Nächstes kommt? Ist das hier eine Schnitzeljaged, eine Reise-Rallye? Gut zu wissen: Wir Streuner sind nicht allein.
Auch wenn ich mir fest vorgenommen habe, die ersten 50 Kilometer zu Fuß zu gehen, lande ich dann doch bereits am ersten Tag meiner Wortwalz in einem fremden Auto. Und das kommt so: Ich sitze müde am Straßenrand unter einem Apfelbaum und knabbere Nüsse. Meine Beine sind schwer. Am Horizont ziehen Gewitterwolken auf, und mich treibt die Sorge um, wo ich heute wohl übernachten werde. Es ist ganz still im Dorf, nur ab und zu fährt ein Auto durch Fahrenzhausen. Große Bauernhäuser, warme Sommerluft, es riecht nach frisch gemähtem Gras. Ich beobachte einen vollautomatischen Rasenmäher-Roboter, der einsam auf raspelkurzem Rasen seine Runden dreht. Die Wirtschaft namens Sakrisch Guat hat geschlossen. In den Vorgärten haben die Leute vom Land Schilder aufgestellt: »Kaufe jedes Auto«, steht da geschrieben. Oder: »Nein zur dritten Startbahn«. Hier lässt man die Kirche im Dorf. Dies ist schon die Provinz, denke ich. Da hält plötzlich ein Kleinwagen vor mir. Eine Stimme fragt: »Handwerk oder Pilgern?« Ich sage: »Ähh … also …« Der Mann winkt, ich solle ins Auto einsteigen. »Ich habe Sie heute Morgen schon laufen sehen, als ich nach München in die Stadt gefahren bin. Und habe mir gedacht: Wenn ich die Frau mit dem Rucksack und dem weißen Fähnchen auf dem Rückweg wieder sehe, dann frage ich sie, ob ich sie mitnehmen kann.« Das alles sagt Michael, Ende 30, in einem ruhigen netten Ton-fall. Witzig, denke ich mir, jetzt habe ich nicht mal darum gebeten, mitgenommen zu werden, und schon kommt mir der erste Mensch entgegen. Ich erinnere mich an den Spruch, den ich von Wandergesellen gehört habe: »Was von Herzen gegeben wird, wird von Herzen genommen.« Hier ist jemand, der mir Hilfe anbietet, und ich habe keinen Grund, sie auszuschlagen. Also steige ich ein. Michael arbeitet bei der Volkshochschule Pfaffenhofen, er fährt mich bis zum Kloster Scheyern, einem großen Benediktinerkloster. Dort frage ich Pater Lukas nach einem Schlafplatz und werde in ein nahe gelegenes Mädchenwohnheim mit dem Spitznamen »Saustall« geschickt, wo ich meinen Schlafsack ausrollen darf. Meine erste Mitfahrgelegenheit Michael verabschiedet mich mit den besten Wünschen und einem herzlichen Winken aus seinem Kleinwagen. Ich verbringe die Nacht auf einem Kunstledersofa im Flur der fast leeren Wohngemeinschaft, gebatikte Tücher hängen an der Wand, ich esse Butterkekse zum Abendbrot. An der Tür eines WG-Zimmers sehe ich einen Tagesplan zum Abhaken mit recht einfachen Aufgaben. Das hat heute zumindest schon mal geklappt. Noch dazu viel besser, als ich es erwartet hätte, und auf eine Art und Weise, die ich nie und nimmer hätte planen können. Tag 1 der Wortwalz wäre hiermit überlebt.