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Draußen sein – Die ersten Tage auf der Wortwalz
ОглавлениеWenn Wandergesellen zur Walz aufbrechen, begleitet sie zumeist ein Altgeselle, manchmal auch Exportgeselle genannt. Er bringt den sogenannten Jungschen los. Der Alte zeigt dem Neuen, wie es läuft auf der Straße, welchen Schnack man kennen muss. Wo man pennen kann, wie man Hilfe findet. Tage, Wochen, manchmal Monate verbringen sie zusammen. Zuweilen in eheähnlichen Verhältnissen, wie manche scherzhaft sagen. Wer mal zusammen getippelt ist, der kennt sich halt. Dieses Bündnis hat aber auch so seine Tücken. Mancher Exportgeselle stellt seinem Jungschen Reiseaufgaben. Schickt ihn für drei Tage fort, ans andere Ende der Republik, um eine bestimmte Kekssorte oder eine Flasche Bier zu besorgen. Der Altgeselle testet seinen Jungschen. Er wird in den ersten Tagen auf der Straße zum Familienersatz, zum Partnerersatz, zum Freundesersatz. Diese Bindung muss einiges aushalten.
Natürlich habe ich so was nicht.
Schließlich gab es vor mir noch keine Journalistin auf Wortwalz, von der ich wüsste. Ich muss mir also meinen eigenen Weg bahnen. Renne einfach so los, werde nicht »losgebracht«, wie es heißt. Ein Wandergeselle aber, der meinen Blog verfolgt, schreibt mir: »Da du ja ohne Exportgesellen und ohne Losgehtippelcombo los bist, mögen die ersten Kilometer vielleicht ein wenig trostlos gewesen sein. Jede Menge Zeit zum Nachdenken, hm? Ab in den Wald mit dir! Immer querfeldein, immer dem Wind nach. Die ersten Wochen einfach mal auf der Straße ankommen, loslassen, weg von dem Gewohnten. Reise, reise, reise.«
In den ersten Tagen habe ich keine Ahnung, wie das alles klappen soll. Ich laufe querfeldein, grob Richtung Norden. Ich habe nur einen Autoatlas dabei, und selbst der wird bald aus dem Rucksack fliegen müssen, weil er zu schwer ist. Wanderwege sind darauf nicht eingezeichnet. Also marschiere ich der Nase nach durch das Donaumoos nördlich von München. Um mich nicht komplett zu verirren, halte ich mich an die Bundesstraße 13, bald auch an die Autobahn A9. Meine Gedanken kreisen um die Frage, wie ich wohl in den nächsten Monaten Arbeit finden werde, wo ich schlafen werde. Das Korsett der bürgerlichen Sorgen sitzt festgeschnürt. Kaum Luft zum Atmen. All die Fragen, die mir andere zuvor stellten, spielen jetzt in meinem Kopf Fangen. Wie soll das funktionieren? Wo willst du hin? Ich hab keine Ahnung und bin unruhig. Wenn ich sonst zu einer Wandertour ins Alpenvorland aufgebrochen bin, dann hatte ich das Ziel immer fest im Blick: Morgens früh los, Wanderkarte eingesteckt, Wasservorrat mitgenommen. Doch diese Tour ist anders als ein Gipfelsturm. Ich muss mich darauf einlassen nicht zu wissen, wie es weitergeht.
Das beste Mittel, sich diesem Reiseprinzip auszuliefern, ist das Trampen. Das habe ich noch nie zuvor gemacht. Tatsächlich den Daumen rauszuhalten – einem in die Landschaft geschriebenen Fragezeichen gleich – ist eine Herausforderung für mich. »Nimmst du mich mit?«, lautet die Gretchenfrage der Autostop-Reisenden. Und sie richtet sich stets an Wildfremde. Bisher bin ich zwar oft bei Mitfahrgelegenheiten eingestiegen, mit denen ich mich zuvor übers Internet verabredet habe. Aber das ist etwas anderes. Dort meldet sich meist jener Typ Autofahrer an, der sich über eine Benzingeldbeteiligung freut. Oft genug saß ich dann eingequetscht zwischen zwei anderen armen Schluckern auf der Rückbank, von denen immer eine Luisa hieß und gerade im zweiten Semester was mit Medien studierte. Was war ich diese immergleichen »Und-wasmachst-du-so?«-Gespräche in fremden Kleinwagen leid! So stellte ich mir das Trampen nicht vor. Wenn einer einen Tramper an der Straße mitnahm, dann musste das schon ein anderer Schlag Mensch sein, dachte ich.
Da ich keinen Exportgesellen habe, kann mir auch niemand zeigen, wie man richtig trampt. Nach meiner ersten Nacht im Mädchenwohnheim des Klosters laufe ich aus dem gemütlichen Scheyern hinaus. Ich gehe über Wald- und Wiesenwege. Mache Lesepausen, knabbere an Haselnusswaffeln herum. Ich bin jetzt gut 40 Kilometer gelaufen und habe keine Ahnung, wo ich als Nächstes hinwill. Auf der Karte habe ich gesehen, dass der kleine Ort Pfaffenhofen außerhalb meines Bannkreises liegt. Also visiere ich den grob an. Die Sonne scheint an diesem Vormittag, ich folge trällernd den Radwegen. Dann stelle ich mich an den Straßenrand und bin wild entschlossen: Ich werde jetzt trampen und den Daumen raushalten. Wenn von den ersten zehn Autos keines anhält, dann soll es wohl nicht sein …
Was für eine Schnapsidee.
Zögerlich halte ich den Daumen heraus. Ein roter Kombi kommt auf mich zugefahren – und fährt weiter. Ein silberner BMW nähert sich – und beschleunigt. Ich versuche die Gesichter der Fahrer hinter der spiegelnden Frontscheibe zu erkennen. Keine Chance. Mein Kopf läuft rot an, mein Puls steigt. Auto Nummer drei, vier und fünf rasen vorbei. Mein Daumen sinkt kraftlos nach unten. Himmel, ist mir das unangenehm. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber ich spüre Scham, Sorge und auch ein bisschen Verzweiflung. Warum nehmen die mich nicht mit? Ich zähle bis zehn. Und gebe auf. Mann, bin ich ein Schisser.
Mein erster Trampversuch darf als gescheitert gelten. Frustriert stapfe ich weiter den Radweg entlang. Erst denke ich: Püh, dann eben nicht. Aber dann dämmerte mir, dass es wohl ein wenig mehr Entschlossenheit und Unverzagtheit braucht, um am Straßenrand mitgenommen zu werden. Dass ich mir ein Ultimatum von nur zehn Autos gesetzt habe, war Blödsinn. Das nächste Mal will ich es länger probieren. In diesem Moment ahne ich nicht, dass das Trampen innerhalb der nächsten Monate zur neuen Fortbewegungsmethode meiner Wahl werden wird.
So gehe ich zu Fuß nach Pfaffenhofen. Vom Ortsschild aus tappe ich bei heißen Sommertemperaturen vorwärts. Es ist Mittag, die Sonne steht hoch. Mir rinnt der Schweiß am Rücken runter. Mein blau kariertes Holzfällerhemd mieft. Und in diesem Aufzug will ich nun die Lokalzeitung erobern und um Arbeit vorsprechen. Hier gibt es als einzige Lokalzeitung den Pfaffenhofener Kurier. Das ist ein Ableger des Ingolstädter Donaukuriers, bei dem ich vor Jahren mal gearbeitet habe. Die blauen Lettern des Blatttitels sind mir noch wohlvertraut.
Die Zeitungsmacher wissen noch nichts von mir. Ich habe mich nicht angemeldet. Schnaufend stehe ich vor dem Schreibtisch der Sekretärin, die mich skeptisch beäugt. »Guten Tag, mein Name ist Jessica Schober, ich bin eine reisende Reporterin. Auf der Wortwalz wandere ich durch den deutschen Lokaljournalismus. In Anlehnung an die Tradition der Wandergesellen will ich mich in meinem Handwerk weiterbilden, nachdem ich meine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule abgeschlossen habe. Nun möchte ich in der Redaktion des Pfaffenhofener Kuriers mitarbeiten, ich brauche nur etwas zum Schlafen und etwas zu essen. Und etwas zu schreiben. Haben Sie da was für mich?«
Staunend schauen mich mehrere Augenpaare an. Ein junger Redakteur läuft aus dem hinteren Teil des Großraumbüros los, um den Chef zu holen. Ein anderer ruft: »Jau, gut, dass ich jetzt noch nicht in die Mittagspause gegangen bin.« Ich muss lachen. Aus meinem Rucksack krame ich die Artikel über mein Wortwalz-Projekt heraus. Dem Lokalchef Rudi Gegger erkläre ich nochmals, was ich vorhabe. Ich gebe ihm eine Mittagspause lang Bedenkzeit und lasse ihm mein ausgedrucktes Konzept da. Jetzt zahlt es sich aus, dass ich das dabeihabe. Zunächst schaut er skeptisch, aber dann sagt er: »Joa. Des kinne mia schoa moche!«
So leicht funktioniert das also: Innerhalb von einer halben Stunde habe ich erfolgreich um Arbeit vorgesprochen. Der erste Versuch hat geklappt. Eine Woche lang werde ich bei Redakteuren des Pfaffenhofener Kuriers übernachten und am Blatt mitarbeiten. Zack, habe ich einen Arbeitsplatz, ratzfatz habe ich eine Polizeimeldung zu korrigieren.
»Jetzt haben wir gleich zwei Mal die Schweinemast drin!«, ruft der Lokalchef bei der Blattbesprechung am ersten Abend, und in diesem Moment weiß ich: Ich bin angekommen mitten im deutschen Lokaljournalismus. Mein erster Arbeitgeber auf der Wortwalz. Es war die Probe aufs Exempel, ob die Idee funktioniert. Und ja, es klappt.
Es ist Anfang August, und ich bin unterwegs. Von einer fixen Idee nach einem Interview bis hierher war es schon ein gutes Wegstück. Ab jetzt geht die Reise wirklich los. Und sie steht ja unter dem Motto, dass ich mein Handwerk verbessern will. Also will ich fleißig sein, will mich in den Redaktionen nützlich machen. Dabei betrachte ich mich stets als Übende, als Lernende. Ich will nicht auftreten wie eine Unternehmensberaterin, sondern wie eine Wanderpraktikantin. Also frage ich bei jedem Abspeichern nach. Nerve die Redakteure mit meinem Nachbohren darüber, wie sie Twitter oder Facebook für die Arbeit nutzen. Und stelle ihnen tausend Fragen zu unserem Beruf.
Eine der witzigsten Geschichten, die mir der Lokalchef Rudi in dieser Woche beim Pfaffenhofener Kurier erzählt, ist die: »In unserer Lokalzeitung geht es ja oft um Geschichten, in denen die Kleinen Probleme mit den Großen kriegen. Einen, den ich nie vergessen werde, ist der Gockel Maxl. Der war eigentlich ein glücklicher Gockel, der lauter Hennen beglücken durfte und morgens laut krähte. Dann zog ein Arzt in das Dorf und legte sich wegen des Kikerikis mit dem Bauern an. Die ganze Geschichte eskalierte, Anwaltsbriefe hin und her, und am Ende verlor der Gockel Maxl seinen Kopf. Ich habe dann als Reporter ein Foto vom kopflosen Maxl vor der Tiefkühltruhe gemacht – die Bäuerin hat mir den gefrorenen Gockel entgegengestreckt. War natürlich eine Riesengeschichte im Blatt! Genau das sind die Lokalgeschichten: Wie der kleine Mann zu kämpfen hat.«
Rudi rät mir: »Du musst so schreiben, dass die Huber-Oma aus Jetzendorf dich versteht.« Ich weiß zwar nicht, wer das sein soll, aber es klingt einleuchtend. Lokalchef Rudi, ein hemdsärmeliger Typ mit Igel-Frisur, lebt mit der Redaktionssekretärin Gabi zusammen. Die beiden lassen mich bei sich zu Hause wohnen. Wir bilden eine Kurzzeit-Kollegen-WG zu dritt. Gabi legt mir morgens meine Wäsche frisch gewaschen und gebügelt auf den Schreibtisch. Rudi verrät mir Tricks am heimischen Grill. So lerne ich die Kollegen nicht nur im Büro kennen, sondern auch auf ihren Sommerverandas. Da erzählen die Redakteure dann von den Themen, die sie beschäftigen, im Beruf und im Leben.
Ich merke, dass da einiges an Geschichten schlummert. Die Geheimnisse unserer Zunft, nach denen selten jemand fragt. Also überlege ich mir, dass ich von nun an jeden Lokalchef, für den ich schreibe, interviewen will. Ich bitte Rudi zum »Meisterschnack«. So nenne ich die Rubrik in meinem Blog. Und frage ihn, wie er mit den Lesern kommuniziert. Dazu erzählt er eine Geschichte, die mir fast noch besser gefällt als die vom Gockel Maxl: »Wir hatten mal einen Rockerclub in Pfaffenhofen, also ganz brave Motorradfahrer, die ab und zu im Vereinsheim gefeiert haben. Über die habe ich als junger Lokaljournalist eine Geschichte geschrieben und war als Motorradfahrer auch recht begeistert von denen. Am nächsten Tag kam eine Leserin in die Redaktion, die hatte einen Zeitungsbriefkasten mit Erbrochenem in der Hand. Den knallte sie mir auf den Tisch und rief tief gekränkt, im schönsten Bairisch: ›Da haben’s Ihre tollen Rocker!‹ Die Jungs aus dem Club hatten offenbar am Wochenende zuvor eine Fete gefeiert und einer der Rocker hatte sein Abendessen in den Zeitungskasten dieser netten Dame entleert. Und die Leserin brachte mir jetzt das vollgekotzte Ding vorbei. Das war mal eine Rückmeldung, halleluja!«
Nach vier Tagen in Pfaffenhofen habe ich einen Artikel über einen lokalen Unternehmer geschrieben, einen Unterwassertechniker, der in Seen und U-Bahn-Tunneln schweißt und hämmert. Ich habe Polizeimeldungen redigiert und Sportartikel Korrektur gelesen. Es war das tägliche Klein-Klein des Lokaljournalismus, eine feine Fingerübung. In meinem Reisenotizbuch habe ich festgehalten, dass ich insgesamt 26,90 Euro für Essen ausgegeben habe. Verdient habe ich bei dieser Zeitung 261,80 Euro. In der Abrechnung sehe ich später die Namen meiner Artikel aufgelistet. Die geben einen guten Überblick über die Themen, die hier in der Lokalzeitung landen: »Gemeinderat diskutiert in Schweitenkirchen«, »Polizei sucht Zeugin von Sexualdelikt«, »Kletterhalle eröffnet – auf Griff und Tritt himmelwärts« oder »Altbausanierung geht in die zweite Runde«. So geht es immer weiter. Manches davon klingt vielleicht banal, doch ich finde das toll! In solchen The-men steckt schließlich vieles von dem, was die Leute vor Ort beschäftigt. Die große Welt im Kleinen. Jetzt weiß ich wieder, warum ich den Lokaljournalismus immer so geliebt habe. Ich komme hier wirklich in Kontakt mit den Menschen und lerne Neues dazu. Es spricht also alles dafür, dass es auf meiner Reise so weitergehen kann.
Zum Abschied schreibt Lokalchef Rudi in mein Notizbuch eine Art Arbeitszeugnis: »Jessica bringt eine der wichtigsten Eigenschaften für einen Journalisten mit: Sie ist unheimlich neugierig.« Darunter drückt er den Stempel der Redaktion. Über das Wörtchen »unheimlich« muss ich lachen.
Auch Wandergesellen tragen stets ein Buch bei sich, sie nennen es Wanderbuch. Meist in Leder eingebunden, etwa so groß wie zwei Kippenschachteln. Dieses Buch ist ihnen heilig. Darin sammeln die Reisenden Stempel und Arbeitszeugnisse von allen Stationen der Reise. Stadtsiegel reiht sich an Stadtsiegel, in vielen Orten gibt es gar eigene Stempel für Wandergesellen. Mit herzlichen Grüßen vom Bürgermeister. Das Wanderbuch dient einem Reisenden zudem als Ausweis. Die-se Wanderbücher erzählen Geschichten – sie sind das Poesiealbum einer Reise, die auch mal unromantisch werden kann. Im vorderen Teil liegt manchmal ein kreisrunder Ausschnitt einer Landkarte bei, auf dem der Bannkreis verzeichnet ist. Eingeklebt auf den ersten Seiten ist oft ein 5-Euro-Schein, gefaltet als letztes Hemd. Er erinnert daran, dass Reisende früher stets ein Handgeld bereithalten mussten, wenn sie an einer Stadtwache um Einlass baten. Dieses Kleingeld ist noch heute ein Notgroschen, mit mehr Talern in der Tasche gehen die Gesellen nicht los. Mehr als diese fünf Euro brauchen sie auch nicht, um zurückkehren. Die Walz soll reich machen, ja – nicht an Geld, sondern an Erfahrung.