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Rückblende: Wie eine Frage und 11,88 euro mein Leben veränderten

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»Was hält dich denn?«, hatte mich Sarah am anderen Ende der Leitung gefragt. Uff. Es war diese Frage, die mich aus der Bahn warf. Ich wusste keine Antwort. Was hielt mich? Mein Büro? Mein Zimmer? Meine Laufstrecke an der Isar? Nein, es war nur meine Angst. Meine Angst vor dem Abenteuer direkt vor meiner Haustür.

Sarah ist Wandergesellin, eine Frau, die sich selbst nicht schont. So jemanden zu finden, das war mein Rechercheauftrag gewesen, im Frühjahr 2013: »Jessica, such uns mal eine Frau, die außerhalb ihrer Komfortzone lebt!« Okay, das kriege ich hin, dachte ich mir. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Redakteurin bei der Zeitschrift Cosmopolitan. Ich war 24, hatte mein Studium und die Journalistenschule abgeschlossen und saß nun am Schreibtisch, kerzengerade und kreuzunglücklich. Meine erste Festanstellung. Ich kam mir furchtbar erwachsen vor. Und ich dachte heimlich: Ein Hamsterrad sieht von innen tatsächlich aus wie eine Karriereleiter. Ich war kurz vor Koma. 25 Urlaubstage sollte ich von nun an im Jahr haben, dabei ziepte das Fernweh im Bauch. Und jetzt diese Recherche, ein Teilchenbeschleuniger. Als ich mich das erste Mal mit Sarah unterhielt, der freireisenden Bäckerin, ahnte ich noch nicht, wie dieses Gespräch mein Leben umwälzen sollte. Sarah erzählte mir von der Walz.

Alles an Sarahs Alltag war ein Abenteuer: Sie wusste morgens nicht, wo sie abends sein würde. Sie gab kein Geld fürs Reisen und fürs Übernachten aus. Sie trampte durch die Gegend, manchmal schlief sie draußen, im Tausendsternehotel. Ich staunte, wie wenig sie zum Leben brauchte. Ihre Kluft, bestehend aus Schlaghose, Weste und Staudenhemd. Ein Jackett mit Pepitamuster. Einen Hut, einen Stock und ein Bündel mit Werkzeug und Wechselwäsche. Mehr nicht. Warum sie auf die Walz gegangen sei, wollte ich wissen. Als gelernte Bäckerin habe sie nach der dreijährigen Ausbildung nicht einfach einen Job annehmen wollen. Sie habe Neues ausprobieren wollen. In Dresden lernte sie Christstollen zu backen, in Bayern Brezen.

In meinem Kopf blitzt eine Idee auf. Am Abend nach diesem Telefonat notierte ich in mein Tagebuch: »Ich will eine Vagabundin sein!« Wenn Sarah als Bäckerin auf die Walz ging, dann wollte ich das als Journalistin auch machen. Mein Handwerk ist das Fragenstellen, mein Beruf ist das Schreiben. Warum soll nicht auch ich durchs Land ziehen und meine Arbeit anbieten? Ich wollte auch auf die Walz gehen, auf die Wortwalz! Noch in der Nacht setzte ich mich an den Rechner und reservierte eine Internetadresse. Es klingt seltsam, aber durch die Erbeutung des Domainnamens www.wortwalz.de hatte ich das Gefühl, meinen neuen Traum ein bisschen wahrscheinlicher gemacht zu haben.

Doch dann passierte mit dieser Idee genau das, was meistens passierte. Sie landete in der Schublade.

Ein ganzes Jahr verging, ohne dass etwas geschah. Ich hatte zwar verstanden, dass eine Festanstellung in einer Redaktion nicht das Richtige für mich ist, und arbeitete inzwischen als selbstständige Journalistin. Aber ich fühlte mich wie ein unfrankierter Rückumschlag, oben in der Ecke stand »Bitte freimachen«. Aus der Idee der Wortwalz war nichts geworden. In die Schublade mit den Ideen hatte ich lange nicht geschaut. Da flatterte eines Tages ein Brief ins Haus: Die jährliche Zahlungsaufforderung für die registrierte Domain www.wortwalz.de. »Bitte überweisen Sie 11,88 Euro.«

Ich starrte den Zettel an. Mein Herz klopfte. Ich war wütend auf mich: »Schon wieder hast du nichts aus einer Idee gemacht!« Die 11,88 Euro fühlten sich an wie ein riesiger Verlust. »Was hält dich denn?«, hatte ich wieder Sarahs Frage im Ohr. Ja, was hielt mich davon ab, als reisende Reporterin durch die Republik zu ziehen? An der Journalistenschule haben doch auch immer alle gesagt, Journalismus sei ein Handwerk. Ich hatte nur Angst, mich zum Narren zu machen, und Scheu vor den Reaktionen der Wandergesellen. Dann fiel mir der Satz ein, den eine Mentorin einst zu mir gesagt hatte: »Frau Schober, jetzt machen Sie einfach mal ein halbes Jahr lang das, was Ihnen Spaß macht.« Und da, mit dem Brief in der Hand, aufgewühlt wie das Streu in dem Hamsterkäfig, aus dem ich flüchten wollte, beschloss ich: Ich gehe jetzt auf die Wortwalz.

Ich hatte lange genug am Schreibtisch gesessen. Ich wollte wieder raus aufs Land. Geschichten auf dem Acker sammeln. Vor zehn Jahren hatte ich als Schülerin meine ersten Artikel für die Lokalzeitung geschrieben, damals für den Regionalteil der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Meine Themen waren Kartoffelfeste und Kaninchenzüchtervereine gewesen, Löschübungen bei der Freiwilligen Feuerwehr, Polizeieinsätze bei Fußballspielen in der Kreisliga und die Insektensammlerbörse. Wie ich das geliebt hatte! Als Zwölftklässlerin hatte ich für den Burgdorfer Anzeiger geschrieben und immer das Gefühl: An einem Wochenende Lokalzeitungmachen lerne ich mehr als in einer ganzen Schulwoche. Auch während des Studiums hatte ich nebenbei für Regionalblätter geschrieben, immer da, wo ich gerade wohnte. Erst später begann ich für Magazine und überregionale Medien zu berichten und mich von den Lokalzeitungen zu entfernen.

Aber gerade dort, bei den Provinzblättern, kann man die große Welt im Kleinen beobachten. Ich glaube an das Lokale. Ich liebe die Geschichten vom kleinen Mann und von der kleinen Frau. Die zähen Sitzungen im Bezirksausschuss. Die Frage, ob Herr Müller seinen Haselnussstrauch fällen darf oder nicht. Die Rührigkeit der Landfrauen beim Kleiderbasar. Die Schnittchen im Schützenverein. Mein Herz schlägt für Skurriles und Banales. Für Zeitungen mit Namen wie Trierischer Volksfreund oder Märkische Oderzeitung in Königs-Wusterhausen. Aber ich weiß auch, dass es sich bei dieser Form des Journalismus um eine bedrohte Spezies handelt. Auflagenzahlen sinken, immer weniger junge Menschen lesen Zeitungen. Klagelieder über den Untergang der Printmedien höre ich zuhauf, eine ganze Branche stellt ihre Zukunft in Frage. Der Wunsch, zu diesen Lokalzeitungen zu reisen, war ein bisschen so, als würde ich in Zeiten der Erderwärmung Urlaub auf den Halligen machen: Jetzt wollte ich mir das Ganze noch mal angucken, bevor es unterging.

Doch war es nicht nur die berufliche Neugier, die mich trieb. Es war diese Mischung aus Arbeiten und Reisen, die mich faszinierte. Den Grundgedanken der Walz fand ich charmant: Nach deiner Ausbildung bist du noch lange nicht fertig. Zieh los und lerne in unterschiedlichen Betrieben. Reise und bilde dich fort. Verfeinere dein Handwerk bei den Meistern deiner Zunft. Und werde die, die du sein kannst. Alles folgt dem Motto: Reise, um zu arbeiten. Arbeite, um zu reisen.

Deshalb wollte ich diese Reise Wortwalz nennen. Ich wollte herausfinden, ob sich diese Jahrhunderte alte Tradition auch auf mein Handwerk, das Schreiben, das Geschichtenerzählen, anwenden ließe. Von Anfang an wusste ich, dass das nicht leicht werden würde. Ich ahnte, es würde Ärger geben. Ich hatte schon viel zu der alten Tradition der Walz recherchiert, jener faszinierenden Idee, der seit dem Mittelalter gelernte Handwerker folgen, die sich für mindestens drei Jahre und einen Tag auf den Weg machen. Ich hatte schon verstanden, dass es strenge Regeln und viele Geheimnisse gibt. Und mir war klar: Ich habe keinen Gesellenbrief. Nach meiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule erhielt ich zwar ein Zertifikat, doch Journalistin kann sich in diesem Land jede nennen. Und deswegen muss hier in aller Deutlichkeit gesagt werden: Ich bin keine Wandergesellin. Für immer werde ich Kuhkopp bleiben. So nämlich nennen Wandergesellen all jene, die keine zünftigen Reisenden sind. Das Rotwelsche, die alte Gaunersprache, hält noch einen weiteren Begriff parat: Speckjäger. Das sind jene, die versuchen sich Vorteile zu erschleichen, womöglich sogar in Kluft reisen, ohne echte Wandergesellen zu sein. Man möge mich so nennen. Dies sind die gesammelten Bekenntnisse einer Speckjägerin, einer vegetarischen und wohlmeinenden allerdings. Ich verkleidete mich nicht, ich wollte bloß reisen, lernen und arbeiten. Mit meiner Wortwalz lehnte ich mich an die Walz an. Die Walz war eine Gehhilfe für mich, eine Krücke. Sie hatte mich überhaupt erst in Bewegung gebracht. Die Tradition der Walz sollte mir ein gedanklicher Wanderstock sein, mit dem ich von meinem Schreibtisch losstolperte.

Wortwalz

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