Читать книгу Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa - Joachim Bitterlich - Страница 11
2. Lehrjahre in Algier: 1978–81
ОглавлениеAugust 1978, Ankunft in Algier, eine Hauptstadt im Leerlauf, ja fast in Agonie, Zeit des Ramadan, nicht nur! Ein Land in der Erwartung des Todes seines langjährigen Präsidenten Houari Boumédiène – und parallel wurde anscheinend ohne Ende zwischen den Spitzen der Armee und der Einheitspartei FLN über die Nachfolge verhandelt …
Dass das junge Land 15 Jahre nach Erlangung seiner Unabhängigkeit und einem erbitterten Krieg mit seinem Mutterland Frankreich noch nicht im Reinen sein konnte, konnte nicht erstaunen – dass dies heute, über 50 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch nicht der Fall ist, muss indes verwundern.
Dass das Land – oder besser gesagt, die Führer von Armee und der legendären Staatspartei FLN – sich 1978 schwertaten, einen Nachfolger für den langjährigen Präsidenten zu küren, schien noch verständlich. Aber dass das Land 35 Jahre später den kranken Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika – der schon zu meiner Zeit zur Führung gehörte – sanft überreden musste, mangels Einigung über einen Nachfolger wie auch wohl, so bedeuteten mir Insider, mangels Verständigung über die Sicherheitskautelen für seine Familie weiter im Amt zu bleiben, musste zu ernsten Bedenken führen!
Auch nach dem Tode Bouteflikas und der Wahl eines neuen Präsidenten bleibt das Land in einer labilen Lage. Es gelingt der Führung nicht, die Demonstrationen und Rufe nach mehr Demokratie und Gerechtigkeit zu befriedigen. Die Armee als wesentliches herrschendes Führungselement scheut sich vor überfälligen Reformen und Schritten zu mehr Demokratie. Dies in einem Land, das von den Naturschätzen zu den reichsten Ländern der Welt gehört, das aber systembedingt nur schwer vom Fleck kommt.
Liegt dies an dem Trauma der durch den Kampf gegen den extremen Islamismus verlorenen 90er Jahre oder eben an jenem „historischen“ Kompromiss zwischen Armee und politischer Führung, verkörpert durch die FLN, die sich in Wahrheit überlebt haben scheint, und auf der anderen Seite „gemäßigten“ Islamisten, die ihren Einfluss mehr und mehr ausbreiten? Kritiker werfen dem „Regime“ vor, zum Schaden des Landes die Gesellschaft – vor allem mit der schleichenden Übernahme des Bildungsbereichs – letztlich den Islamisten zu überlassen. Oder spielt nicht doch noch in den Hinterköpfen vieler in Algerien das nach wie vor durch latente Spannungen und Missverständnisse beherrschte Verhältnis zum kolonialen Mutterland Frankreich eine besondere Rolle? Die Ereignisse des Jahres 2019 und die spürbare Angst vor einem demokratischen Wandel haben dies nachdrücklich unterstrichen.
Algier wurde ab August 1978 für mich nicht nur zum idealen Ort gründlicher, unkonventioneller Ausbildung in allen wesentlichen Bereichen der Diplomatie, sondern auch zum Ort der ersten nahen Begegnung mit der deutschen Politik, mit meinem Dienstherrn Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Ich hatte zwei Botschaften im Schnupperkurs erlebt – Kairo und Madrid. Mein Vorgänger war schon nach Bonn zurückversetzt, mein Vertreter – der Pressereferent – stellte mir kurz die Mannschaft vor, verwies auf die wesentlichen Arbeitsbereiche und wünschte mir viel Glück bei der Einarbeitung. Auf „meinen“ ersten Botschafter hatte ich mich etwas vorbereitet. Es war Michael Jovy, bekannt durch den Widerstand gegen das NS-Regime, ein unkonventioneller, recht lockerer Botschafter, der mir alle Freiheit lassen sollte, in Notfällen sei er da.