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4. Politische Lehrjahre unter Hans-Dietrich Genscher, 1985–87

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In der Schlussphase der Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal kündigte sich – wieder unerwartet – der nächste Schritt Richtung Politik an. Hans-Dietrich Genscher fragte mich, ob ich im nächsten Jahre in sein Büro nach Bonn wechseln wolle, dies sei jedenfalls sein Wunsch.

Es war klar, dass die Antwort nur ein „ja“ sein konnte. Es sollten meine Lehrjahre unter dem langjährigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher folgen, dem professionellsten aller Politiker, die ich in all den Jahren kennenlernte, und seinem Kabinettchef Michael Jansen. Hinzu kam die enge Arbeit mit den Staatssekretären Hans-Werner Lautenschlager und Jürgen Ruhfus, auch er wurde wie Hans-Werner Lautenschlager in ganz unterschiedlicher Weise zum Vorbild und zu einem „älteren Freund“.

Und die europäische Politik blieb im „Ministerbüro“ mein Betätigungsfeld, damit auch der permanente Kontakt zur Brüsseler Szene und zu den Ministern bzw. ihren Mitarbeitern, mit denen Hans-Dietrich Genscher in erster Linie den Kontakt hielt. Daneben lernte ich einen Bereich „politisch“ kennen, den ich zuvor in Algier als junger Diplomat betreut hatte: die Auswärtige Kulturpolitik und eine ihrer wichtigsten „Waffen“, das Goethe-Institut. Ich musste lernen, dass der politische Stellenwert der „Auswärtigen Kulturpolitik“ für Genscher weitaus höher war, als die Mehrheit der Diplomaten dies verstand.

Doch zurück zu Hans-Dietrich Genscher, der trotz wiederkehrender gesundheitlicher Probleme ein Arbeitspensum vorlegte, das selbst für den jungen Mitarbeiter oft im Grunde fast zu hoch war, und auch sie zu gleicher Höchstleistung antrieb. Man musste sich oft fragen, wie er die Dreifachbelastung durchhalten konnte: Führer einer von der 5%-Klausel bedrohten Partei, Vizekanzler einer Koalitionsregierung, der ein gutes Drittel seiner eigenen Partei kritisch gegenüberstand, und zugleich Außenminister Deutschlands – eines Landes, von dem die Europäer und die Welt eine mehr und mehr aktive Rolle erwarteten.

Hinzu kam, es waren Genscher und Graf Lambsdorff, die 1982 nach der sozialliberalen Ära die Wende hin zu einer Koalition mit der CDU/CSU und Helmut Kohl vollzogen hatten, mit allen Risiken für die FDP. Genscher führte die FDP 1990 zu einem Traumergebnis von 11% bei den Wahlen zum Bundestag, Guido Westerwelle sollte es 2009 mit 14,6% noch übertreffen. Allerdings war dies keine Überlebensgarantie, wie es sich 2013 erweisen sollte.

Genscher schien oft getrieben, besser noch als einer, der permanent nach Ideen suchte, die einerseits hilfreich für Deutschland, aber zugleich für seine Partei und ihn waren. Naturgemäß war diese Strategie nicht frei von – begrenzten – Konflikten mit dem Koalitionspartner und dem Bundeskanzler. Europa- und Außenpolitik stand daher naturgemäß stark unter kurzfristigen Effekten, aber Genscher stand auch zugleich für eine längerfristige Strategie, in erster Linie in Bezug auf die europäische Politik, der er versuchte, in Deutschland mit seinem Markenzeichen, das der FDP, zu versehen.

Gegenüber dem „Hause“ verließ sich Genscher auf den Leiter seines Büros, Michael Jansen, und die Staatssekretäre als ruhende Pole – ich denke an Jürgen Sudhoff, dem das Haus viel an Fairness und politischem Gespür verdankt, oder an Jürgen Ruhfus, dann vor allem an Hanns-Werner Lautenschlager. Ihm versicherte Helmut Kohl bei seinem schon verspäteten Eintritt in den Ruhestand im Kabinett mit allem Ernst, er könne – von ihm aus – so lange Staatssekretär bleiben, wie er dies wünsche! Er war in seiner unnachahmlichen, bedächtigen, abwägenden Art der respektierteste Vertreter, den das Auswärtige Amt über viele Jahre hatte.

Genscher war selbst ein harter Arbeiter, der sich nichts schenkte, aber auch uns kleiner Mannschaft nichts. Er war gleichzeitig vor allem ein begnadeter Netzwerker, ein politisches Schlitzohr, untypisch deutsch in gewisser Weise und gehörte schon damals zu den anerkannten politischen Strippenziehern in Europa, was Helmut Kohl noch werden sollte.

Genscher hatte politisches Feingefühl, er roch Probleme sehr früh, früher als andere. Bei ihm funktionierte ein Frühwarnsystem glänzend und viel besser als bei vielen anderen. Ich lernte damals seine wichtigsten „Informanten“ und Vertrauenspersonen aus den Ländern und der FDP kennen, einige wie den Freiherrn von Gumppenberg im niederbayerischen Bayerbach besonders schätzen. Genscher war Parteivorsitzender und Minister, die FDP war nach der Wende 1982 in einer schwierigen, zuweilen prekären Lage. Er hat die Übernehme von Verantwortung nie gescheut. Und es kam sein geschicktes Zusammenspiel mit dem Kanzler hinzu, der mehr und mehr in eine europäische Rolle hineinwuchs. Genscher hat immer wieder die Nischen, die er nehmen konnte, erkannt. Er hat es auch regelmäßig geschafft, damit die Politik der Regierung in eine Richtung zu lenken, die ihm vorschwebte. Manchmal ging das bis zur Grenze, wo die CDU/CSU oder Helmut Kohl mitspielen konnten und wollten.

Schien es ihm selbst zu riskant, so schickte er einen „Minenhund“ voran, oft war dies der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Jürgen Möllemann, oder auch ein Dritter. Genscher nahm es aber in den Jahren auch dann hin, vom Koalitionspartner oder vom Bundeskanzler selbst direkt oder indirekt „zurückgepfiffen“ zu werden.

Ihm war es wichtig, er hatte seine politische „Duftmarke“ hinterlassen. Er setzte dabei – auch um seine Partei im Gespräch zu halten – auf eine intensive und vor allem effiziente Pressearbeit. Er lancierte oft morgens früh durch ein Interview Nachrichten und setzte darauf, dass diese im Laufe des Tages, gegebenenfalls in Variationen, immer wieder wiederholt wurden.

Einer der politischen Weggefährten jener Jahre, der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm, stellte in einem Nachruf zu Recht fest „Hans-Dietrich Genscher war immerzu online, schon lange bevor es das Internet gab ... Vielleicht war er deshalb oft seiner Zeit voraus, er hatte einen Riecher für das, was kommt“. Hans-Dietrich Genscher war halt ein Politprofi in jeder Hinsicht.

Ich hatte bei ihm enorm dazu gelernt, vor allem politische Professionalität. Was mich mit ihm auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik verbunden hat– und dafür hat er meinen uneingeschränkten Respekt, sind seine Verlässlichkeit, seine knallharte Professionalität sowie das Arbeiten unter höchstem Druck.

Nach seinem Rücktritt im Jahre 1992 begegneten wir uns mehr oder minder regelmäßig in Bonn, später in Berlin bei Anlässen verschiedenster Art. Und immer wieder tauschten wir uns in einer sehr offenen, direkten Weise über aktuelle Entwicklungen in der Europa- und Außenpolitik aus. Er stellte mir oft konkrete Fragen, auch zum Auswärtigen Amt, und ich hörte seinen kritischen Anmerkungen gerne zu. Letztere galten in den letzten Jahren vor allem der Entwicklung der europäischen Integration wie der Sorge um das Verhältnis zu Russland, wo Europa in gewisser Weise den „Kompass“ verloren habe! Wir waren nicht immer der gleichen politischen Auffassung, aber das störte weder ihn noch mich. Und er hatte über die Jahre nichts von seinem politischen Gespür verloren!

Bei unserem letzten Gespräch in Berlin im Jahre 2015 wirkte er gesundheitlich geschwächt, aber durchaus engagiert und alert. Die Nachricht von seinem Tode am 31. März 2016 im Alter von 89 Jahren hat mich getroffen. Auch wenn ich „nur“ zwei Jahre mit ihm direkt gearbeitet habe und ihn und seine Politik über zehn Jahre als Angehöriger des Auswärtigen Dienstes von den Vertretungen in Algier und Brüssel, dann aus dem Kanzleramt mitverfolgte, so fühlte ich mich mit ihm doch besonders verbunden, er war einer meiner „Mentoren“, mein erster „Lehrmeister“, der mich in gewisser Weise begonnen hat zu formen, herauszufordern und der mich gefördert hat.

Bundespräsident Joachim Gauck hat Hans-Dietrich Genscher im Rahmen der Würdigung seines politischen Wirkens beim Staatsakt am 17. April 2016 zu Recht als einen „deutschen Patrioten und überzeugten Europäer“ bezeichnet. Er stellte zudem fest, dass „die Verbindung aus Prinzipientreue und Pragmatismus, langfristiger Strategie und Erkennen des kurzfristig Gebotenen“ das Wirken Genschers gekennzeichnet habe. Genscher war in all den Jahren auch bei den Verbündeten nicht unumstritten, dies galt vor allem für sein unerschütterliches Eintreten für den Ausbau der KSZE, die eines Tages die militärischen Bündnisse in Europa ablösen könnte. Darauf wird noch an anderer Stelle einzugehen sein.

Genschers Persönlichkeit, seine Stärken, Ecken und Kanten wurden mir nach seinem Tode noch einmal vor Augen geführt, als mich die Herausgeber der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ des Jahres 1986 dazu einluden, die wesentlichen politischen Elemente dieser Zeit vorzustellen.

Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa

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