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Vorbemerkungen

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Ich habe eine der spannendsten, vielleicht wichtigsten Zeiten deutscher, europäischer und internationaler Geschichte im Herzen der Politik miterlebt und auch mitgestaltet. Von Freunden, Bekannten, Historikern wie Journalisten bin ich immer wieder aufgefordert worden, meine „Erinnerungen“ an diese Jahre niederzuschreiben. Letztlich ermutigten mich die regelmäßigen Gespräche mit meinem Freund und langjährigen Weggefährten Hubert Védrine und sein Buch über die Außenpolitik Präsident Mitterrands, einen solchen Versuch zu wagen – nicht im Sinne klassischer Memoiren, sondern in einer Mischung aus konkreten Erinnerungen und Beobachtungen und einer Analyse, Gedanken und kritischen Anmerkungen, nicht zuletzt auch aus heutiger Sicht.

Der Leser wird aufgrund meines beruflichen Weges verstehen, dass die Zeit im Bundeskanzleramt und an der Seite Helmut Kohls im Zentrum meiner Beobachtungen und Anmerkungen stehen. Ermutigung oder besser eine Provokation bildeten auch die verschiedenen Biographien über Helmut Kohl wie eine ganze Reihe politisch-historischer Betrachtungen über jene Zeit. Dies gilt zum Beispiel für die umfassende Biographie von Prof. Hans-Peter Schwarz, in der ich bei allem Respekt für den Autor über viele Passagen, vor allem in Bezug auf Europa, weder Helmut Kohl noch seine Politik wieder gefunden habe, wie ich sie und ihn erlebt habe und wie sie auch von wesentlichen Partnern in Europa und auf internationaler Ebene empfunden wurde.

Es kann aber nicht darum gehen, eine kritische Kommentierung des Werks von Schwarz oder desjenigen von Henning Köhler vorzunehmen. Aufgefallen ist mir, dass im Werk des letzteren Autors die Europapolitik als das Kernanliegen Helmut Kohls eher beiläufig abgehandelt wird, während bei Hans-Peter Schwarz seine fast virulente Europa-Skepsis gegenüber seiner Europa-Politik und dem Euro auffallen musste.

Aber auch manch andere Betrachtungen in den Medien wie seitens seriöser Wissenschaftler über die wesentlichen Elemente der Europa- und Außenpolitik Helmut Kohls laden zum Widerspruch ein. Dies gilt vor allem für die Bewertung des Vertrages von Maastricht und vor allem für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und den Euro selbst. Es muss doch verwundern, dass selbst Historiker wie der in Deutschland populäre Heinrich August Winkler offen die Kohl'sche Politik insoweit für mich leichtfertig als „Fehlentscheidung“ apostrophieren, ohne die Umstände und das Umfeld jener Zeit zu hinterfragen und kritisch zu beleuchten. Darauf wird im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht einzugehen sein.

Zielsetzung meiner „Erinnerungen“ ist weder eine Abrechnung noch ein Enthüllungsbuch, auch wenn manche Ereignisse durchaus emotional geprägte Erinnerungen wachrufen und vielleicht einige der Begebenheiten noch nicht oder noch nicht aus diesem Blickwinkel berichtet worden sind. Das Buch kann in keiner Weise die historische Aufarbeitung jener Zeit ersetzen, einschließlich die Arbeit anhand der Erinnerungen Helmut Kohls selbst wie anderer Akteure, der zugänglichen Quellen und deren Interpretation.

Es versteht sich von selbst, dass sich diese „Erinnerungen“ auch zwangsläufig mit dem „Pamphlet“ Heribert Schwans kritisch auseinandersetzen müssen.

Mir geht es darum, auf der Grundlage meines Weges die Politik Deutschlands ab Mitte der 70er Jahre, dann vor allem in der zweiten Hälfte der 80er und in den 90er Jahre, die zunächst durch Hans-Dietrich Genscher, dann grundlegend durch Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl geprägt worden ist, nachzuzeichnen und verständlich zu machen, sie in ihren innen-, vor allem europapolitischen und internationalen Kontext und im Lichte der Folgezeit aufzuzeigen und aus der Rückschau Gedanken für die Zukunft daraus abzuleiten. Naturgemäß muss sich eine solche Zeitreise durch vier Jahrzehnte deutscher Politik auch mit den handelnden Persönlichkeiten auseinandersetzen.

Der aufmerksame Beobachter der heutigen europäischen Krisen und Konflikte muss feststellen, dass viele der jetzigen Umstände in der damaligen Zeit entstanden sind und zu lange unterbewertet oder vielleicht schlichtweg noch nicht verstanden bzw. in der Folge einfach falsch beurteilt worden sind. Unter der durch die Anhäufung der Krisen und deren kurzfristig-pragmatisch bestimmten Reaktionen entstandenen Bugwelle leidet Europe heute mehr denn je.1

Vor allem scheint Europa unverändert in einer Übergangszeit zu stecken, die ihren Ursprung in jenen grundlegenden Veränderungen der Jahre 1989/90 hatte und deren Konsequenzen von mancher Seite bis heute nicht voll verarbeitet bzw. „verdaut“ sind: Unverändert suchen Schlüsselländer des europäischen Geschehens – Frankreich, das Vereinigte Königreich, Russland, aber auch und gerade Deutschland selbst – ihren Platz und ihre Rolle in und um Europa.

Und gerade in diesem Sinne müssen diese „Erinnerungen“ nach dem Tode Helmut Kohls am 16. Juni 2017 eine Würdigung seines Werkes und seiner Ära enthalten. Er hat seine Ziele zu Lebzeiten auf das richtige Gleis gesetzt, seine Nachfolger haben Fortschritte erreicht, aber auch Rückschläge verzeichnen müssen. Ich habe mich daher im Rückblick auf die krisenhaften Zuspitzungen und damit auch Krisen der europäischen Integration gefragt, was geschehen muss, um sein Vermächtnis mit Leben zu erfüllen und es in die Tat umzusetzen. Es ist aktueller denn je!

Trotz aller notwendigen kritischen Bewertung ist Europa heute, über 20 Jahre nach Kohls Abtreten von der politischen Bühne, mehr denn je gefordert, gerade auch im Lichte der COVID-Krise in seinem Sinne zu festigen und seine Überlebensfähigkeit auf Dauer zu sichern.

1 Siehe hierzu mein Essay unter dem Titel „Reflections on ‹“The End of Cold War?›» in: Exiting the Cold War, Entering a New World, herausgegeben von Dan Hamilton und Kristina Spohr, Washington 2019, Seite 483 ff

Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa

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