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Anarchie und Atheismus

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Jean Paul (und Schlegel) sagen, die Ironie sei die klare Vernunft inmitten des Traums und der Dichtung, die anarchisch seien. (C. Pavese 11.6.41)

Die "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei" (Jean Paul 270ff.), ist sozusagen das philosophische Filetstück des Romans, welches bereits in Bernhards Amras "Entsetzen" (Am 24) bei dem Brüderpaar auslöste. Die Kühnheit des Eintretens "in das atheistische Lehrgebäude" (Jean Paul 270), wie es im Vorbericht der Rede heißt, maßt sich der Erzähler nur im Traum an, dessen Schilderung noch durch eine Fußnote entschuldigt wird.63

[Christus hob,] groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: "Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? (Jean Paul 274)

Die atheistische Botschaft, die der Titel schon evoziert, ist Ausdruck einer sinnentleerten Welt und eine exemplarische Gestaltung des Nihilismus in der Literatur. Der Dichter des Siebenkäs erwachte, als "ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer [...] die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern" (Jean Paul 275) sollte. Das versöhnliche Ende gestaltete Jean Paul nicht nur wegen der Zensur – in Österreich [!] wurde der Siebenkäs wegen jakobinischer Tendenzen verboten -, sondern aus tiefstem Empfinden heraus, denn seine Glaubenskrise dieser Jahre mündet in eine aufgeklärte Religiosität, die ihm existenziellen Halt gibt. Wie die Erlösung des Träumenden durch das Aufwachen, dessen Seele vor Freude weinte, "daß sie wieder Gott anbeten konnte" (Jean Paul 275), hat auch Jean Paul einen zwar distanzierten, jedoch für ihn nützlichen Zugang zur christlichen Religion gefunden. "Die Wendung zum Glauben wird so eine zur Poesie"64, interpretiert Günter de Bruyn diese Solution des zweifelnden Jean Pauls. Seine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen wird jedoch umso schärfer, da der Schriftsteller nun festen Boden unter den Füßen hat, der ihm ermöglicht, die Welt zu zerlegen:

Jean Pauls Roman zeigt die Welt so detailliert, um desto mehr Argumente zu ihrer (poetischen) Vernichtung zu haben. Aufhebung der Realität ist also das letzte Ziel seines "Realismus".65

Dieses Verfahren Jean Pauls höhlt die Welt durch seinen Zweifel an den bestehenden Verhältnissen aus. Ein Zweifler ist auch Murau wie sein Schüler Gambetti:

Gambetti, der größte Zweifler, der mir jemals begegnet ist, der mich mit meinen Zweifeln noch übertrifft, der den Zweifel zum Prinzip gemacht hat und dessen Zweifel angefangen hat, die ganze Welt zu zersägen, um sie tatsächlich studieren zu können. (A 513)

Die angeführten Geistesgrößen konstituieren Muraus geistiges Fundament, und ebnen den Weg der (poetischen) Auslöschung, denn auf einem religiösen Fundament hat er seine Geistesexistenz nicht gründen wollen. Allein die Rolle der Kirche im »Dritten Reich« schließt eine solche Lösung aus, wie seine Tiraden gegen die katholische Kirche belegen, der man sich durch eine Revolution entledigen müsse:

[…] nur eine tatsächlich grundlegende, elementare Revolution, hatte ich zu Gambetti gesagt, kann die Rettung sein, eine solche, die zuerst einmal alles vollkommen zugrunde richtet und zerstört, tatsächlich alles. (A 146)

Murau fordert die Zerstörung der Kirche als irdischem Repräsentanten der Gläubigen, während Jean Paul lediglich seiner eigenen Glaubenskrise Ausdruck verleiht. Daher führt Murau den Nihilismus der »Rede des toten Christus« in der Auslöschung fort, wo Jean Paul sich von ihm abwendet. Er fordert das Zersplittern des Weltgebäudes, die "Vernichtung der Welt" (A 211). Muraus Hoffnung, diese reale Zerstörung durchzuführen, liegt in Gambetti, der "nicht nur der geborene Phantasierer [ist], er ist auch der geborene Ausführer seiner Phantasien" (A 544).

Inwiefern am Ende der Auslöschung, die Muraus Tod als unumstößlich einklagt, Gambetti den Hoffnungsschimmer eines Neubeginns symbolisiert, ist fraglich. Die Kontinuität von Onkel Georg über Murau bis zu Gambetti drückt sich in destruktiver, passiver Beobachtung aus, nicht in konstruktiver, aktiver Erneuerung. Murau hat Züge Hamlets, Gambetti ähnelt Horatio, aber wer ist der Fortinbras der Auslöschung?

Siebenkäs ist die Möglichkeit gegeben, durch den Scheintod und den Namenstausch als Leibgeber sein irdisches Dasein fortzuführen. Er ersehnt ein glücklicheres Leben mit der angebeteten Natalie, mit der er in dem Garten "Fantaisie" zusammengekommen ist. Der Name wird hier zum Programm, denn Siebenkäs flieht aus der Realität in die Phantasie. Dieser sentimentale Schlußakkord des Siebenkäs vermag nicht darüber hinweg zu täuschen, welche Leiden Siebenkäs erdulden mußte. Jean Paul entläßt den Leser in der Hoffnung, daß die zweite Existenz Siebenkäs’ als Leibgeber glücklicher als die erste werden mag (seine Wiederkehr als Schoppe im Titan, der über der Wissenschaftslehre Fichtes verrückt wird, sollte diese Hoffnung als Illusion demaskieren). Die hilflose Geste Muraus, Wolfsegg an die Israelitische Kultusgemeinde zu verschenken (A 650), die nun die Nazi-Liegenschaft verwalten soll, raubt den Glauben an eine Flucht aus dem geschilderten circulus vitiosus. Das Zitat Heinz Schlaffers über den Siebenkäs und über Jean Paul trifft auch auf den Kern der Auslöschung und auf Bernhard zu:

[Die Gesellschaftskritik] ist eigentlich Weltkritik, Demonstration der Unmöglichkeit, unter den Bedingungen der Realität überhaupt menschlich frei leben zu können. Damit wird jeder Versuch, politisch und sozial zu wirken, sinnlos, weil der den Teufelskreis des Irdischen nicht verläßt.66

Murau glaubt nicht an eine Aufhebung oder Verbesserung der grauenhaften Verhältnisse, wie sein Gespräch mit dem in Brüssel lebenden Alexander, das im Roman wenige Zeilen vor der Verschenkung Wolfseggs stattfindet, zeigt:

Alexander war wieder von seinen Lebensideen besessen, er wollte den Präsidenten von Chile bitten, alle politischen Häftlinge in Chile, dieser grauenhaftesten aller Diktaturen, freizulassen. Es störte ihn nicht, daß ich sagte, er werde mit seiner Bitte keinen Erfolg haben. (A 649f.)

Wie schwer Wolfsegg mit seiner historischen Schuld auf Murau lastet, belegt, daß er sich für die Annahme durch den "Geistesbruder" Eisenberg bei diesem bedankt. Dennoch verschenkt er Wolfsegg, auch als eine Reverenz an den Tatmenschen Alexander, dem er sich geistig verbunden fühlt, und der sich nicht von dem Skeptizismus und Pessimismus Muraus anstecken läßt, an die Israelitische Kultusgemeinde.67

Murau und Siebenkäs sind im Musilschen Sinne Möglichkeitsmenschen, Alexander hingegen ist ein Wirklichkeitsmensch68, weil er Lebensideen hat und nicht von einer Todeskrankheit befallen ist.

Der literarische Realitätenvermittler

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