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Doppelgänger

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Da sah Leibgeber zufällig in den Spiegel: »Fast sollt’ ich mich doppelt sehen, wenn nicht dreifach« – sagt er; »einer von mir muß gestorben sein, der drinnen oder draußen. Wer ist hier in der Stube denn eigentlich gestorben und erscheint nachher dem andern? Oder erscheinen wir bloß uns selber? (Jean Paul 531)

Das Verhältnis von Siebenkäs zu Leibgeber, die ihrer Ähnlichkeit wegen oftmals verwechselt werden, und schon einmal ihre Namen getauscht hatten, ist eine der ersten Ausprägungen des literarischen Doppelgänger-Topos.

Jean Paul hatte bereits in Die unsichtbare Loge (1793) und im Hesperus (1795) das Motiv der Verdoppelung durch Spiegelbilder gestaltet, im Siebenkäs sind der Titelheld und sein Freund Leibgeber "Doppeltgänger". Jean Paul ist hier von der Wissenschaftslehre (1794/95) Fichtes beeinflußt, deren Resonanz und Wirkung für die Philosophie und Ästhetik der Zeit gewaltig war.75 Die Rezeption der Wissenschaftslehre durch die "romantische Schule"76 bezeichnet Manfred Frank als das Aufbrechen "der klassischen Struktur der Reflexion":

Gewiß: die Katastrophe hat stattgefunden. Sie hat den Menschen um die Identität mit dem Sein gebracht […], d.h. aufgespalten und gezwungen, hinfort als Bewußtsein zu existieren: als etwas, das nicht einfach es selbst ist, sondern das nur ist, indem es sich auf sich selbst bezieht.77

Jean Paul führt die Freundschaft von Siebenkäs und Leibgeber als den "Fürstenbund zweier seltsamen Seelen" (Jean Paul 39) ein, die "Milchbrüder im Studieren waren und einerlei Wissenschaften […] zu Ammen hatten" (Jean Paul 39). Die beiden sind nicht nur geistig Spiegelbilder, sondern auch physiognomisch "Ebenbilder" (Jean Paul 41), so daß der Namenstausch eine Fortsetzung ihrer "algebraischen Gleichung" (Jean Paul 40) ist, die erst als Pointe des Romans wieder korrigiert wird.

Jean Paul nennt sie "Doppeltgänger" und erklärt in einer Fußnote: "So heißen Leute, die sich selber sehen." (Jean Paul 66f.) Die Konfiguration Leibgeber/Siebenkäs, deren Identitätsspaltung als harmonisches Miteinander gestaltet ist und einen Kontrapunkt zu der unglücklichen Verbindung mit Lenette bildet, wird von Thomas Bernhard in der Auslöschung – allerdings verfremdet – aufgegriffen. Die gegenseitige Abhängigkeit von Murau zu Gambetti und umgekehrt wird gleich zu Beginn erläutert:

Unser Verhältnis ist das ideale, denn einmal bin ich der Lehrer Gambettis und er ist mein Schüler, dann wieder ist Gambetti mein Lehrer und ich bin sein Schüler, und sehr oft ist es der Fall, daß wir beide nicht wissen, ist jetzt Gambetti der Schüler und bin ich der Lehrer oder umgekehrt. Dann ist unser Idealzustand eingetreten. (A 10)

Murau bezeichnet ihn als "einen mir entsprechenden Menschen und Partner" (A 14), in den er seine Erneuerungshoffnungen setzt. Die Vermittlung zwischen beiden und das Erreichen des gewünschten "Idealzustandes" stellt Murau jedoch bald in Frage: er ist der "Verzieher" (A 209) und "Verführer" (A 210) Gambettis und nimmt die Rolle des Onkel Georg ein, indem er Gambetti durch seinen "unheimlichen Unterricht" (A 210) "aus der Welt seiner Eltern vertreib[t]" (A 208). Folgerichtig meint Murau später, er müsse ihr "gegenseitiges Lehrer-Schülerverhältnis in der dringend notwenigen Distanz" (A 484) halten, so daß er sein Selbst nicht ganz an Gambetti verliert.

Murau versucht sich Gambetti einzuverleiben, um sich ein Ebenbild zu schaffen:

Gambettis Kopf hat schon viel aus meinem Kopf aufgenommen, dachte ich, bald wird mehr aus meinem Kopf in Gambettis Kopf sein, als von ihm. (A 209)

Entgegen Bernhards Prosa der sechziger Jahre, in der die Polarität von Künstler und Naturwissenschaftler das bestimmende Moment gewesen war, ist in der Auslöschung der Entwurf einer Doppelung zweier Geistesmenschen gestaltet. Für Gößling konstituiert gerade der Verzicht auf die polare Aufspaltung in "zwei Verstandeshälften" (Am 55) den entscheidenden Neubeginn in seiner Prosa, der auf eine dritte Phase des Autors Bernhard hoffen lasse:

Aber in diesem Wiedergewinn der auch inhaltlich privelegierten Position manifestiert sich nicht bereits die Aufhebung jener Entzweiung, sondern das Verstummen, der Bewußtseinsverlust, die tendenzielle Gleichschaltung des einstmals Widerstrebenden.78

Unter Berücksichtigung des erst später bekannt gewordenen chronologischen Ortes der Auslöschung innerhalb des Bernhardschen Œuvres ist diese Mutmaßung Gößlings nicht zutreffend, sondern vielmehr der Beweis, daß die Auslöschung am Übergang von zweiter und dritter Phase steht, um der Statuierung der Ich-Identität durch Ironie (Holzfällen) und Komik79 (Alte Meister) den Weg zu ebnen.

Am eindrücklichsten ist in Amras der Konflikt zwischen dem erzählenden Biologen und seinem Bruder Walter, einem Zwölftonmusiker, als romantischer Bruch mit der Moderne gestaltet. Die Vermittlung zwischen den Brüdern sieht folgendermaßen aus: "Durch Walters Krankheit war unsere Abneigung (zueinander) Zuneigung (gegeneinander) geworden ..." (Am 43), so daß dem Erzähler nach dem Tod Walters nur noch der endgültige Weg in den Wahnsinn bleibt. Die Brüder sind in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit die schizophrene Spaltung in "zwei Verstandeshälften", die sich zugleich ausschließen und bedingen, wobei

[...] der künstlerische Bruder Walter das romantische Ideal erfüllter Subjektivität als (ersterbende) Wirklichkeit [erfährt], während sich im "Naturwissenschaftler" bereits jene von Murau beklagte ‘berühmt-berüchtigte gähnende Leere’ (Aus 598) dehnt: "... für Walter war alles aus ihm, für mich war nicht das allergeringste aus mir" (Am 42).80

Die Projektion seiner anarchischen Wunschvorstellungen auf Gambetti läßt diesen mehr als eine illuminierte Gestalt auf Muraus Leinwand, als eine real abgebildete Figur erscheinen. Der anfangs konstatierte "Idealzustand" enthüllt sich letztendlich auch für Murau – der Leser hat diese Farce schon längst durchschaut – als unrealisierbarer Wunschzustand:

Wir klammern uns an einen Menschen wie Gambetti, den ich möglicherweise schon zerstört habe […] und sind auch an solchen Charakteren verloren, dachte ich an der offenen Gruft. (A 645)

Die Perspektive am Schluß des Siebenkäs und der Auslöschung weist in dieselbe Richtung: Leibgebers Identität ist ausgelöscht und Siebenkäs lebt mit dem Namen seines Freundes fort, um dessen Stelle in Vaduz anzutreten; Muraus Existenz ist ausgelöscht und Gambetti lebt mit dem geistigen Erbe seines Lehrers fort, um dessen Werk zu vollenden.

In beiden Werken büßt die Doppelgänger-Projektion moralische Substanz ein: "an der offenen Gruft" der Eltern wird Murau klar, daß er Gambetti bereits zerstört hat, und an dem "neue[n], lockere[n] Grab" (Jean Paul 567) der im Kindbett gestorbenen Lenette wird Siebenkäs bewußt, daß die Übergipfelung der Doppelgänger-Identifikation bis zur inszenierten Auslöschung seiner Selbst und der Identität Leibgebers zumindest ein reales Opfer forderte.

Jean Paul verfaßte bereits 1799 die »Clavis Fichtiana«, eine polemische Kritik an Fichte, die er in den »Komischen Anhang« des Titan (1800-1803) einfügt. Der Protagonist Schoppe tritt als Leibgeber auf (Siebenkäs nach seinem Scheintod und dem Namenstausch)81 und wird über Fichtes Wissenschaftslehre verrückt.

Der literarische Realitätenvermittler

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