Читать книгу Der literarische Realitätenvermittler - Joachim Hoell - Страница 23
Die Schrift
ОглавлениеSiebenkäs, der sich klar als Jean Paul zu erkennen gibt, fühlt sich zur Schriftstellerei berufen, wird jedoch von seiner Lenette ständig um den Anfang seiner literarischen Unternehmungen gebracht. In einer der komischsten Szenen des Romans versucht der Dichter zu schreiben, seine Gattin hingegen die Wohnung zu putzen:
"Wenns dir tulich ist, Lenette, so mache heute kein sonderliches Getöse – es ist mir beinah hinderlich, wenn ich dasitze und für den Druck arbeite." […] Siebenkäs tat die obige Bitte wahrlich in einer Tölpelminute. Denn nun hatte er sich selber genötigt, unter dem Denken aufzulauern, was Lenette nach dem Empfange des Bittschreibens vernehme. […] Siebenkäs mußte fleißig aufpassen, um ihre Hände oder Füße zu hören; aber es glückte ihm doch, und er vernahm das Meiste. Wenn man nicht schläft, so gibt man auf ein leises Geräusch mehr als auf ein großes acht: jetzt horchte ihr der Schriftsteller überall nach, und sein Ohr und seine Seele liefen, als Schrittzähler an sie angemacht, überall mit ihr herum […]. (Jean Paul 155)
Er "öffnete die Türe seiner Marterkammer"69 und verbittet sich jede noch so leise Bewegung:
Das ist aber eben mein Unglück, daß ichs drinnen nicht hören kann, sondern alles nur denken muß – und der verdammte lange Wichs- und Besengedanke setzte sich an die Stelle der besten anderen Gedanken, die ich hätte zu Papier bringen können! (Jean Paul 158)
Muraus Vorhaben, die Auslöschung zu schreiben, wird "wie so viele Geistesarbeiten, die geschrieben werden müßten, nicht geschrieben" (A 200):
Wir ziehen alle möglichen Gründe, mit einer solchen Arbeit nicht anfangen zu müssen, heran, wir kramen alle nur möglichen Ausreden aus, wir rufen alle möglichen Geister, die alle nur böse Geister sein können, an, um nicht anfangen zu müssen, wo wir anfangen sollten. Das ist die Tragödie dessen, der etwas aufschreiben will, daß er immer wieder die Verhinderer seines Aufschreibens anruft […]. (A 200)
In Beton, dem Roman Bernhards, welcher zeitlich und thematisch der Auslöschung am nächsten steht, wird Jean Pauls mehrseitiges Kabinettstückchen über Lenettes "Getöse" im Siebenkäs expliziert. Der Protagonist Rudolf plant seit "zehn Jahren [...] eine Arbeit über Mendelssohn-Bartholdy" (B 8) zu schreiben, ohne nur zu wissen, "was der erste Satz dieser Arbeit sein wird" (B 9):
Ich stand da und schaute durch die Tür auf den Schreibtisch und fragte mich, wann der Moment da sei, an den Schreibtisch zu treten und mich hinzusetzen und mit der Arbeit anzufangen. Ich horchte, aber ich hörte nichts. (B 23)
Das Problem, bereits beim ersten Satz zu scheitern, hat Murau bislang vor der Niederschrift abgehalten:
Die Schwierigkeit ist ja immer nur, wie einen solchen Bericht anfangen, wo einen tatsächlichen brauchbaren ersten Satz einer solchen Aufschreibung hernehmen, einen solchen allerersten Satz. (A 198)
Als poetologische Reflexion auf die vorliegende Auslöschung bezogen, veranschaulicht der erste Satz, daß es dem Verfasser Murau eben doch gelungen ist, bereits in diesem Anfang entscheidende Momente des Romans in einen Satz zu fassen: Begeisterung für seinen Schüler Gambetti; positives Rombild vs. negatives Österreich-Wolfseggbild; Telegramm mit Todesnachricht der Eltern und des Brudes.
Das Verfassen der Schrift ist ein wesentliches, "werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards"70. Bereits Jean Paul verleiht dieser Künstlerproblematik im Siebenkäs auf die oben dargestellte ironisch, humorvolle Art Ausdruck. Im Werk Bernhards wird das Problem allerdings radikalisiert, so daß die Lächerlichkeit eines Rudolf aus Beton eine tiefe Tragik besitzt: das "Lachen über die Lächerlichkeit des Lachens und über die Verzweiflung"71. Das Scheitern der Schriften mag in Siebenkäs, Beton und Auslöschung als Koketterie erscheinen, denn alle Werke sind zustandegekommen, aber wenn Muraus Vollendung der Auslöschung mit seinem Tod zusammenfällt, bleibt dem Leser spätestens hier das Lachen im Halse stecken.
Die Reflexion über das eigene Werk ist, trotz seines inflationären Gebrauchs in der sogenannten »postmodernen« Literatur, eine der existentiellen Problematiken des Künstlers. Im Siebenkäs findet sich eine der ersten Ausprägungen dieses autoreflektiven Künstler-Diskurses, der die Modernität Jean Pauls unterstreicht. Ludwig Börne wies in seiner »Denkrede auf Jean Paul« im Jahre 1825 prophetisch auf dessen Antizipation künftiger Themen hin:
Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme.72