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Jean Paul – Thomas Bernhard
ОглавлениеKunst und Person ist eine Einheit.
(Thomas Bernhard 1986)85
Einen Vergleich der Autoren des Siebenkäs und der Auslöschung anzustrengen, rechtfertigen die autobiographischen Bezüge der beiden Romane. "Siebenkäs und Leibgeber zusammen ergeben Jean Paul" (De Bruyn 167), der sein Leben ähnlich für sein Schreiben ausbeutete86 wie Bernhard; Murau ist wie viele Figuren im Bernhardschen Werk ein fiktionales Ich Bernhards (s.o.).
Jean Paul begegnete nach seinem literarischen Durchbruch mit dem Hesperus der gesamten Kulturprominenz der Zeit. Sein persönliches Verhältnis zu Goethe und Schiller war gespannt, ästhetisch sogar polar:
Jean Paul verstand die Klassik als unzulässige Vereinfachung des komplizierten Bewußtseins der Moderne, als Ausweichen vor dem geschichtlichen Ort der Gegenwart in die antikisierende Gebärde, die doch die Antike nicht mehr zurückbringt, als Unterschlagung der unendlichen Innerlichkeit, dem kostbaren Gewinn der Neuzeit, und als Verdrängung der Form, in der allein sich diese zeitgemäßen Bewußtseinsinhalte ausdrücken konnten, nämlich des Romans.87
Trotz einer gewissen literarischen Hochachtung vor dem leibhaftigen Denkmal Goethe, lehnte Jean Paul ihn innerlich ab. Nicht nur ästhetisch war Jean Paul ein Antipode zu Goethe (und zu Schiller), sondern auch politisch und sozial. Der "größenwahnsinnige Großbürger" (A 577) Goethe sagt, so berichtet Eckermann, daß wir "im Bedürfnis von etwas Musterhaftem […] immer zu den alten Griechen zurückgehen"88 müssen. Dieses Credo Goethes, der Schönheit und künstlerische Wahrheit nur im Hellenismus zu finden glaubt, lehnt Jean Paul ab. Er wendet sich im Siebenkäs der Miniatur einer Welt wie Kuhschnappel zu, die allgemeingültig für das Weltganze steht, in seinem "Anti-Weimar-Buch" (De Bruyn 235), dem Titan (1800-1803), verarbeitet er seine Erfahrungen in der Kulturmetropole Weimar, die seine Distanz zu dieser Kunst-Welt ausdrückt. Im Titan versucht er Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) zu übertreffen, was ihm in der Erweiterung um die politische Dimension auch gelingt:
[…] während bei Goethe die Utopie einer Klassenharmonie den unpolitischen Bildungsbürger erzeugt, führt Jean Pauls Demokratismus zum Ideal eines politisch orientierten Menschen. (De Bruyn 235)
Die Stellung zur Französischen Revolution veranschaulicht diese politische Polarität der beiden Schriftsteller: während Jean Paul enttäuscht über das Scheitern der Republik und der Demokratisierung in Frankreich ist, bekennt Goethe, daß "ihn der Umsturz alles Vorhandenen schreckt"89.
Muraus Invektiven gegen Goethe auf der einen Seite, die Estimierung Jean Pauls auf der anderen Seite erfahren hiermit einen tieferen, nämlich einen moralischen Sinn.
Thomas Bernhard wie Jean Paul sind kompromißlose Moralisten gewesen, die im verzweifelten Kampf um eine bessere Welt auch nicht müde wurden, die Doppelmoral ihrer Schriftsteller-Kollegen zu tadeln und zu verdammen. Die Invektiven gegen bürgerlich-reaktionäre Autoren wie Goethe und Thomas Mann in der Auslöschung oder dem mit dem Nationalsozialismus paktierenden Heidegger90 in Alte Meister (87-95), die Wertschätzung von "politischen" Schriftstellern wie Jean Paul und Ingeborg Bachmann sind nicht nur ästhetischer Natur, sondern auch eine Verneigung vor der persönlichen und moralischen Größe dieser "Kunstschöpfer" (A 206).
Bernhard und Jean Paul berichten aus der ihnen vertrauten Provinz, deren kleinbürgerliche Bewohner zwar in ihrer Beschränktheit bloßgelegt werden, aber trotz alledem in ihrer natürlichen Verderbtheit noch über den Städtern und sogenannten Weltbürgern stehen. Beiden Schriftstellern stand nach den frühen literarischen Erfolgen des Hesperus und Frost frei, ihren Aufenthaltsort in kulturelle Zentren, wie Weimar oder Wien, zu verlegen. Beide wenden sich jedoch enttäuscht von dieser Welt ab, um in der Land-Idylle ihrer eigentlichen Bestimmung – dem Schreiben – ungestört nachgehen zu können. Diese Konstituierung einer Idylle, die auch die Werke Jean Pauls durchzieht, erweist sich nicht als Flucht aus der Wirklichkeit, sondern als die Erweiterung des Realen durch "das Uneingelöste der Poesie"91. In einem Brief an seinen Freund Christian Otto schreibt Jean Paul:
Das Wort »Idylle« ist die rechte Bezeichnung für alle Historien des J. Pauls: die Historie meines eignen Lebens führ’ ich in mir selbst idyllenhaft.92
Hier wird klar, wie Jean Paul die literarische Fiktion und das eigene Leben unter die Bestimmung der Idylle faßte.
Bernhard hingegen zerlegt die Idylle seiner Heimat gewaltsam in alle Einzelteile, während Jean Paul ihr in einem ironischen Verfahren beikommt, das die Idylle zwar fragwürdig erscheinen läßt, aber letzten Endes bejaht: "Idylle ist nicht Verklärung, sondern Erklärung der Wirklichkeit als einer mangelhaften."93 Am Schluß des Siebenkäs wird ein solches Idyllen-Konstrukt Jean Pauls errichtet, denn Siebenkäs’ Flucht in die "Fantaisie" weist über die Grenzen einer auf Erden möglichen Idylle hinaus: er statuiert eine Utopie.
Murau ist nicht nur auf unheilvolle Weise an seine Familie gebunden, sondern auch an die Landschaft seiner Heimat und an Wolfsegg:
Aber ich habe dabei auch die absoluten Vorzüge von Wolfsegg erwähnt, die schönen Herbsttage, die von mir wie keine zweite geliebte Winterkälte und Winterstille in den umliegenden Wäldern und Tälern. […] ich müßte Wolfsegg als den Glücksfall eines Ortes für mich empfinden, denn er sei wie kein zweiter meinem Geiste entsprechend. (A 17)
Jedoch vermag er den Glauben an die Verwirklichung einer Idylle in dieser Umgebung nicht mehr aufzubringen. Diese Erkenntnis setzt sich erst in der im Roman vorgeführten Auseinandersetzung mit Wolfsegg und Österreich frei; infolgedessen destruiert er sich und das mit Haßliebe bedachte.
Thomas Bernhard hingegen, und dies ist ein elementarer Unterschied zu der Fiktion Murau, lebte nicht weit von seiner Heimat und dem realen Wolfsegg, vermochte sich jedoch in dieser Landschaft und mit diesen Menschen einzurichten, indem er über sie schrieb. Murau benötigt für die Niederschrift seiner Auslöschung die Distanz des fernen Roms.