Читать книгу Lysias - Jochen Fornasier - Страница 10

Der Auftrag, Athen, August 440 v. Chr.

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„Der Grund, Lysias, warum wir dich heute Abend herbeordert haben, ist der, dass du für uns einen wichtigen Geheimauftrag erledigen sollst.“

Lysias’ Augen weiteten sich vor Schreck.

Perikles hob seinen rechten Arm und zeigte nacheinander auf die Anwesenden. „Alle, die wir hier sitzen, sorgen wir uns um das Wohlergehen unserer Stadt. Sie ist die Keimzelle der Demokratie. Unsere Stadt, in der wir gerne leben, auf die wir stolz sind, für die wir uns zu diesem Bund zusammengeschlossen haben und sogar auf unsere lieb gewonnenen Feindschaften verzichten.“ Bei seinen letzten Worten sah er Nikias an, der zunächst etwas verärgert dreinblickte, dann aber doch lächeln musste.

„Sogar mein verehrter Gast aus Harlikarnassos hat seine Weiterreise auf meine persönliche Bitte hin aufgeschoben, um heute Abend an dieser Sitzung teilnehmen zu können“, fuhr Perikles fort. „Vielleicht schlägt sein Herz nicht ganz so laut für Athen wie das unsrige, da er nicht hier geboren ist. Dennoch hat Herodot versprochen, uns zu helfen. Doch dazu später mehr.“

Lysias hatte sich inzwischen kerzengerade aufgesetzt und hielt, während er stumm zuhörte, seine leere Trinkschale mit beiden Händen so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Herbeordert“, „Geheimauftrag“, das waren die Schlüsselworte, die sein gewohnt analytisches Denken in den letzten Sekunden nun vollständig betäubten.

„Wann soll ich nach Samos aufbrechen und was soll ich dort tun?“, krächzte er, da er nun endgültig zu der Überzeugung gelangt war, dass es ausschließlich um die Vorfälle auf Samos ging.

„Samos?“ Perikles lachte. „Vergiss Samos, darum kümmern wir uns bereits. Spätestens bei den nächsten Großen Panathenäen in zwei Jahren, zu denen auch wieder unsere Bündnispartner eingeladen sind, wird der samische Abgesandte winselnd bei mir vor der Haustür stehen und mir die schönsten Lobreden auf unseren Seebund vortragen. Der Verrat von Samos, die jüngste Abkehr vom Seebund, mein lieber Lysias, sind ein echtes Ärgernis und schlecht für unsere Bündnispolitik, zugegeben. Sie sind aber auch nicht mehr. Damit werden wir fertig, auf die eine oder andere Art, wobei ich selbst eher für klare Verhältnisse bin.“

Während Perikles sprach, hatten Protagoras, Timokles und Morychides mit vereinten Kräften drei Klinen in der Raummitte zusammengeschoben und die beiden Kandelaber näher herangerückt, wodurch ein hell erleuchteter, provisorischer Kartentisch entstanden war.

„Das eigentliche Problem, Lysias, liegt im Westen.“ Er zeigte mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt der nun ebenfalls ausgebreiteten Griechenlandkarte. „Dort ziehen die Gewitterwolken langsam, aber stetig auf, von dort wird der Sturm über uns hereinbrechen!“

Lysias sah auf die Karte und erstarrte. Der Finger des Strategen zeigte auf die Hauptstadt Lakoniens, zeigte auf Sparta!

„Und weißt du, was das Paradoxe daran ist? Die Lösung dieses gewaltigen Problems liegt am anderen Ende der Welt, liegt im Pontosgebiet, wovon mein lieber Mentor Anaxagoras mich und all die anderen Anwesenden schon vor einiger Zeit überzeugt hat.“

Perikles berichtete nun von stetig steigenden, in der Öffentlichkeit aber noch nicht wahrgenommenen Schwierigkeiten mit Sparta, die nach Ansicht der politischen Führung Athens früher oder später zwangsläufig in einer militärischen Auseinandersetzung enden mussten. Waren es anfangs nur kleinere Nadelstiche hier und da, kleinere diplomatische Verwicklungen, die sich immer schnell in Luft auflösten, so konnte ein aufmerksamer Beobachter in jüngster Zeit eine spürbare Verschlechterung in den zwischenstaatlichen Beziehungen wahrnehmen. Nur langsam, ja, aber kontinuierlich. In den athenischen Regierungskreisen war man sich einig darüber, dass die Spartaner zu See keine ernstzunehmende Bedrohung darstellten. Dafür sorgte schon allein der Seebund. Anders sah dies zu Lande aus. Hier hatten die Spartaner in der Vergangenheit schon häufiger bewiesen, dass sie eines der besten Heere Griechenlands unterhielten. Dabei war es nicht die Angst vor einer direkten Belagerung der Stadt, die Perikles und seine Mitverschwörer hier im Raum so große Sorge bereitete. Viel schlimmer war es, dass die Spartaner in der Lage sein würden, mit gezielten militärischen Operationen die bäuerlichen Siedlungen mitsamt den dazugehörigen Feldern zu zerstören und damit eine wichtige Versorgungsader Athens zu vernichten. Athen bekam zwar schon seit längerem große Mengen an Getreide aus Ägypten, doch im Ernstfall wäre man auf Gedeih und Verderb von dieser Nachschubmöglichkeit abhängig. Nur ein geschickter spartanischer Unterhändler in Ägypten, und die Truppen Lakoniens müssten nicht ein einziges Mal das Schwert gegen das athenische Heer erheben. Im Gegenteil, sie könnten in aller Ruhe dabei zusehen, wie die Stadt verhungerte.

Vor Lysias’ geistigem Auge entstand das Zerrbild seiner Heimat in Flammen. Seine Familie tot, all die prunkvollen Bauten auf der Akropolis in sich zusammenstürzend und die Götterbilder unter sich begrabend. Auch die zwölf Meter hohe Goldelfenbeinstatue der Athena, nicht fertig geworden. Und dieses Schreckensszenario sollte mit seiner Hilfe verhindert werden? Wieso lag die Lösung dieses Problems im Osten? Vor allem: wo?

„Wie du siehst“, führte Perikles abschließend aus, „sollten wir uns dringend um neue Nachschubmöglichkeiten kümmern, die im Ernstfall die dauerhafte Versorgung unserer Heimatstadt sichern. Doch wir müssen sehr vorsichtig sein. Niemand darf davon offiziell erfahren, sonst würde man uns das als Kriegstreiberei auslegen, was den ganzen Prozess wahrscheinlich nur noch beschleunigen würde. Und das läge, wie du dir vorstellen kannst, alles andere als in unserem Interesse.“

An dieser Stelle trank Perikles einen Schluck Wein und übergab das Wort an Protagoras. Dieser berichtete nun von einer fernen Region im Osten des Gastfreundlichen Meeres, die landläufig unter dem Begriff Bosporos zusammengefasst wurde. Beiderseits einer großen Meerenge lagen hier zahlreiche griechische Städte, teilweise schon über einhundertfünfzig Jahre alt, die sehr erfolgreich Handel mit den umliegenden Völkern trieben. Die fruchtbaren Steppengebiete nördlich des Pontos seien die Kornkammern der Zukunft, wie Anaxagoras hinzufügte. Diese Getreidequellen als Erster für das griechische Festland zu erschließen, das sei die beste Strategie, um sich dauerhaft ein sicheres Standbein für mögliche Versorgungsengpässe in kriegerischen Zeiten zu schaffen.

Schließlich mischte sich auch Kallonides in die Diskussion ein. „Als Soldat weißt du auch, dass der eigentliche Kampf nur die Hälfte des Erfolgs ausmacht. Ebenso große Sorgfalt musst du bei der Sicherung deiner Transportwege an den Tag legen, sonst stehen deine Truppen an der Front plötzlich ohne Nachschub dar.“

Anaxagoras lachte bei diesen Worten laut auf: „Was unser geschätzter Freund dir mit diesen kryptischen Worten sagen will, ist, dass deine Aufgabe nicht ausschließlich am Bosporos zu erledigen sein wird. Du wirst auch in einer wichtigen Zwischenstation an der südpontischen Küste, in einer Stadt namens Sinope, haltmachen müssen, um dort in unserem Sinne tätig zu werden.“

Lysias sprang auf und hob abwehrend die Arme: „Ich soll zum Bosporos fahren, zu diesen Barbaren, um einen Getreidehandel zu organisieren? Ich bin Soldat, kein Händler!“ Das letzte Wort sprach er so herablassend wie nur irgend möglich aus.

„Ich bin Anführer einer Reiterabteilung, möglicherweise sogar der besten des ganzen athenischen Heeres, und kein Körnerzähler. Weder vom Seefahren noch vom An- und Verkauf von irgendwelchen Nahrungsmitteln habe ich auch nur ansatzweise eine Ahnung. Geschweige denn von dem dafür notwendigen Verhandlungsgeschick. Meine Argumente bestehen aus Eisen, genauer gesagt, dem Eisen meines Schwertes, und nicht aus wohlgesetzten Worten! Beim Göttervater Zeus, wieso glaubt ihr, dass gerade ich der Richtige für diese Aufgabe bin?“

Er blickte sich hilfesuchend um, sah aber nur in ernste Gesichter, die eher Erstaunen über seinen plötzlichen Ausbruch offenbarten als Mitgefühl oder gar Verständnis. Da wusste er instinktiv, dass er bereits verloren hatte.

Oh Götter, das war nicht fair! Heute Morgen war sein Leben noch in Ordnung gewesen. Seine Familie, seine Verlobte, die hoffentlich schon auf ihn wartete, seine steile berufliche Karriere. Doch jetzt fühlte er sich an einem Abgrund stehen, und er war sich nicht wirklich sicher, ob er den berühmten letzten Schritt nicht gerade gemacht hatte.

Ein bedrohliches Knistern lag in der Luft, und die sowieso schon angespannte Atmosphäre drohte in Feindseligkeit umzuschlagen. Offenbar hatte niemand der Anwesenden mit einer solch impulsiven Reaktion gerechnet, schon gar nicht Perikles, dessen natürliche Autorität normalerweise ausreichte, den jeweiligen Gesprächspartner zu überzeugen.

„Du hast uns nicht richtig verstanden, Lysias. Niemand erwartet allen Ernstes von dir, dass du mit den Herrschern am fernen Bosporos konkrete Handelsabkommen triffst. Da könnten wir die Schlüssel zu den Schatzkammern Athens tatsächlich gleich den Spartanern übergeben“, versuchte Anaxagoras die Gemüter zu beruhigen. „Deine Aufgabe wird darin bestehen, zunächst in Sinope und dann am Bosporos athenfreundliche Kräfte zu suchen, diese um dich zu scharen und mit ihnen zusammen die Ankunft einer offiziellen athenischen Gesandtschaft vorzubereiten, die für das übernächste Jahr geplant ist.“

Er stand auf, nahm eine zweite, noch zusammengerollte Karte hervor und breitete sie auf dem provisorischen Kartentisch aus. Lysias vermutete, dass es sich um eine Karte des Gastfreundlichen Meeres und seiner Küstenstreifen handelte.

„Wir haben diesbezüglich auch bereits Vorbereitungen getroffen“, fuhr Anaxagoras fort und blickte auffordernd zu Morychides, der den Gesprächsfaden bereitwillig aufnahm:

„Hier an der Südküste in Sinope sind wir seit längerem aktiv, in aller Stille zwar, aber doch sehr erfolgreich. Das zurzeit herrschende Geschlecht des Tyrannen Timesilaos und seines Bruders Theopropos ist bei großen Teilen der Bevölkerung mehr als unbeliebt. Da war es einfach, eine Gruppe Gleichgesinnter zu finden, die die Vorzüge der von uns entwickelten demokratischen Verfassung zu schätzen wissen.“

Der Archont sah Lysias in die Augen, so als wollte er sichergehen, dass dieser ihm gedanklich auch folgen konnte. „In Sinope wird deine Aufgabe nur daraus bestehen, diese Gruppe zu kontaktieren und ihnen die Details unserer Expedition in gut zwei Jahren zu erläutern. Sie sollen alles so vorbereiten, dass Perikles, wenn er mit unseren Schiffen in den Hafen einläuft, ein triumphaler Empfang erwartet.“

Dann fuhr er fort und berichtete von ihren Plänen, die Tyrannen aus der Stadt zu vertreiben und ein demokratisches, selbstverständlich athenfreundliches System zu installieren. Und damit dies auch alles wie geplant funktionieren könne, würde Lamachos, einer der besten athenischen Generäle, bis auf weiteres mit einer Schutztruppe vor Ort verbleiben, während Perikles selbst weiter zum Bosporos fahren sollte.

Resigniert und in sich zusammengesunken auf seiner Kline sitzend, hörte Lysias den Ausführungen schweigend zu. Er erfuhr Dinge der großen Weltpolitik, von deren Existenz er noch nicht einmal gewusst hatte. Da war ein Geschlecht des Archaianax, die sog. Archaianaktiden, die offensichtlich zurzeit den politischen Ton am Bosporos bestimmten und die den Athenern zumindest nicht feindlich gegenüberstanden. Sie wohnten in einer Stadt namens Pantikapaion – oh geliebte Athena, was für ein seltsamer Name! Dann gab es da noch einen gewissen Spartokos, der offenbar nationalistische Töne anschlug, von einem mächtigen Territorialstaat beiderseits der Meerenge unter seiner Führung träumte und eine immer größer werdende Schar von Unterstützern um sich sammelte. Dieser Spartokos akzeptierte keine politische Einflussnahme von außen, somit also auch nicht die von Athen, was die bisherigen Bemühungen vor Ort im Falle einer Machtübernahme schlagartig und umfassend in Frage stellen würde. Da aber all diese Erkenntnisse, so schloss Morychides seinen kleinen Vortrag, nur auf einer wachsenden Anzahl von Gerüchten basierten, die sich in jüngster Zeit zudem immer stärker widersprachen, bräuchte die athenische Führungsspitze endlich verlässliche Informationen.

War Lysias die meiste Zeit des Abends nicht in der Lage gewesen, klar zu denken, so begann er jetzt langsam zu verstehen, was man eigentlich von ihm wollte. Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er in staatstragende Prozesse eingebunden werden sollte, in geheime politische Ränkespiele, von denen jeder auf der Straße wusste, dass es sie gibt, sie aber nie selbst erlebte. Hier ging es um Informationen, und das Wort, nach dem er die ganze Zeit auf der Suche war und das ihm sprichwörtlich auf der Zunge lag, offenbarte sich ihm urplötzlich: Spionage! Er sollte als Spion zum Bosporos reisen und die notwendigen Dinge in Erfahrung bringen: Was war dran an diesem Gerücht, dass Spartokos den Umsturz plante? Und wenn es stimmte, gab es dann weiterhin ausreichend proathenische Kräfte, die auch die geplante Intensivierung des Getreidehandels befürworteten? Oder musste man sich auf ein militärisches Unterfangen wie in Sinope einstellen? Ganz offensichtlich wollte dieser Kreis aus Verschwörern das Heft des Handelns am Bosporos nicht aus der Hand geben, sondern nach Möglichkeit kräftig und natürlich für Athen gewinnbringend die weiteren politischen Entwicklungen steuern.

„Ich vermute, du fängst langsam an, die Dinge mit unseren Augen zu sehen“, bemerkte Perikles, der während der vergangenen Stunde kein Wort mehr gesagt hatte. „Wir brauchen die Getreidelieferungen vom Pontos, um auch zukünftig die Versorgung Athens zu sichern. Andererseits benötigen wir durch diesen unseligen Konflikt mit Samos, den wir vermutlich nur noch militärisch beenden können, aber auch wieder einen außenpolitischen Erfolg, der einmal nicht auf Waffengewalt fußt. Und hier kommst du ins Spiel.“

Perikles machte eine lange Pause, während er alle Anwesenden nochmals mit einem forschenden Blick ansah. „Du wirst als Kaufmannssohn getarnt die Route bereisen, die unser Getreide in Zukunft nehmen soll. Du wirst dafür Sorge tragen, dass wir selbst auf unserer offiziellen Mission in zwei Jahren überall herzlich empfangen werden. Der Grundstein dafür ist in Sinope wie auch am Bosporos bereits gelegt, also ist deine Aufgabe zu bewältigen. Dennoch kann es gefährlich werden, da wir nicht wirklich wissen, wie sich die Dinge am Bosporos in jüngster Zeit entwickelt haben.“ Wieder unterbrach er sich selbst, so als ob er seinen Worten Gelegenheit geben wollte, tief in das Denken der Anwesenden einzusickern.

„Damit wir uns richtig verstehen: Wenn ich in zwei Jahren während der Großen Panathenäen zum Volk spreche, dann will ich zwei Dinge verkünden können. Erstens: Samos hat seinen Fehler eingesehen und ist wieder zu einem treuen Bündnispartner geworden. Darum kümmern wir uns gerade. Zweitens: Auf meiner Expedition in den Pontos habe ich neue Partner gewonnen, die freiwillig und voller Freude dem Seebund beigetreten sind. Nebenbei ist es mir auch gelungen, feste Handelsverträge mit“, er stockte einen Moment, „ja, mit wem auch immer dort am Bosporos zu schließen, so dass unsere Getreideversorgung für die nächsten Jahrzehnte gesichert ist.“

Der Rest der Nacht verlief auch weiterhin in offenbar gut vorbereiteten Bahnen. Zunächst begann Herodot mit einem ersten ausführlichen Bericht über seine Reise in das Pontosgebiet, wo er sich insgesamt mehrere Monate aufgehalten hatte. Er war zwar nicht bis zum Bosporos direkt gereist, doch das, was er über die anderen Küsten zu berichten hatte, war eine Goldgrube an Hintergrundinformationen. Herodot sprach von Völkern wie den Skythen und Arimaspen, von der griechischen Stadt Olbia, von merkwürdigen Sitten und Gebräuchen, die man in einer griechischen Stadt nicht erwarten würde, und von vielen anderen Dingen, die sich Lysias gar nicht alle merken konnte. Nun wusste er aber zumindest, wieso Perikles diesen Weltenbummler zu dem Treffen eingeladen hatte.

Als der Morgen endlich anbrach, öffnete Kallonides die Türen des Androns, und sie traten hinaus in den Gartenhof, um frische Luft zu schnappen. Die Morgenluft strich kühl und duftend über Lysias’ Gesicht. Hellwach überlegte er hin und her. Zum einen: Je länger die Berichte andauerten, desto mehr verlockte es ihn, im Auftrag des Perikles als Spion tätig zu sein. Viel mehr noch: Er verspürte so etwas wie Stolz! Herodots Schilderung von fernen Ländern und fremden Völkern hatte Neugier und Reiselust in ihm ausgelöst, so dass selbst die große Entfernung zum Bosporos ihren Schrecken verlor. Andererseits hatte man ihm aber unmissverständlich klargemacht, dass er so schnell wie möglich aufbrechen musste. In spätestens drei Tagen, wie Perikles sagte. Man dürfe auf keinen Fall länger warten, da die kommenden Winterwinde eine Passage in das Pontosgebiet schon bald unmöglich machen würden.

Ein Schiff, das ihn zunächst nach Sinope bringen würde, lag deshalb schon im Hafen von Piräus bereit, und der Kapitän wartete auf ihn. Sein bisheriges Leben sollte jetzt und hier enden, ein vollkommen neues beginnen, mitsamt seiner Tarnidentität. Als reicher Kaufmannssohn sollte er für seinen Vater, der eine Reederei betrieb, neue private Handelskontakte ausloten.

Damit hofften die Verschwörer, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen war ein Kaufmann immer und schon vom Prinzip her neugierig, so dass seine Fragen nach allem und jedem niemanden verwundern würden. So sollte Lysias grundlegende Informationen einholen, die dann bei den späteren offiziellen Verhandlungen eingesetzt werden sollten. Zum anderen war seine Unerfahrenheit in diesen Dingen auch nicht grundsätzlich schlecht. Im Gegenteil, geschickt verpackt war sie bloßes Anzeichen seines beinahe noch jugendlichen Alters und damit eine perfekte Bestätigung seiner neuen Rolle: der Sohn, der für den Familienbetrieb zum ersten Mal allein auf große Fahrt ging. Die echten Vertragsabschlüsse würde dann sowieso der Vater als Besitzer der Reederei vornehmen – was ja auch im übertragenen Sinn nicht einmal vollständig erfunden war. Ebenso wenig wie die Reederei, die es tatsächlich gab. Nur der Besitzer wusste nicht, dass er ohne sein Zutun zu einem erwachsenen Sohn gekommen war.

Noch im Laufe dieser Nacht hatte sich Lysias entschieden. Er würde dieses Wagnis eingehen, er würde dieses Abenteuer beginnen, das ihm, je länger er darüber nachdachte, immer glanzvoller erschien. Seine Eltern würden sicherlich verwundert sein, dass er Athen ohne weitere Erklärungen für gut zwei Jahre verließ. Doch sie würden es letzten Endes verstehen. Immerhin wussten sie von diesem Treffen mit Perikles und konnten sich ihren Teil denken. Gut, mit Polyxena würde es Schwierigkeiten geben. Aber wenn er ihr sagte, dass man ihn nach seiner Wiederkehr mit großen Ehren empfangen würde und sie sich keine Sorgen mehr um ihre weitere Zukunft machen müssten, ja, dann sollte doch auch sie nur vollstes Verständnis für diese zeitlich begrenzte Trennung aufbringen. Immerhin machte er das hier ja auch für ihre Zukunft, das war doch wohl klar.

Als sie schweigend im Hof standen, fasste sich Lysias ein Herz und fragte Perikles: „Eins muss ich abschließend noch wissen. Warum ich?“

Perikles schmunzelte, während die ersten Sonnenstrahlen auf seine Stirn fielen. „Ich dachte schon, du würdest nie fragen. Ich selbst hätte an der ganzen Veranstaltung gar nicht teilgenommen, hätte man mir das nicht von Anfang an gesagt.“

Lysias sah betreten zu Boden und fühlte, wie sein Kopf langsam rot wurde.

„Kein Grund, dich zu schämen. Ich bin schon ein paar Jahre älter als du. Mit der Zeit wirst auch du abgeklärter, das versichere ich dir.“ Er klopfte Lysias freundschaftlich auf die Schulter und zog in dann sanft in die Hofmitte, um die frühe Sonne noch etwas besser genießen zu können.

„Um deine Frage zu beantworten: Du bist jung, kräftig und hast eine hervorragende militärische Blitzkarriere hingelegt. Das heißt, du weißt dich auch unter hohem Druck zielorientiert zu entscheiden. Eine Begabung, die nicht viele haben und die dir auf deiner Fahrt mitunter sehr nützlich werden kann. Du bist intelligent, das haben wir heute Nacht bestätigt bekommen, und, das ist mindestens ebenso wichtig, du bist noch ein alleinstehender junger Mann. Ich weiß, du hast eine Verlobte. Aber die wird noch zwei Jahre auf dich warten können, wenn sie die Richtige ist. Dies ist eine Aufgabe für einen Einzelgänger.“

Mit diesen Worten ließ Perikles ihn allein und verschwand wortlos in einem der angrenzenden Zimmer. Es war tatsächlich das erste und letzte Mal in seinem Leben, dass Lysias mit dem heimlichen Staatsoberhaupt Athens zusammentraf. Ihre Wege würden sich nie wieder kreuzen.

Drei volle Tage blieb er im Anwesen des Perikles, ohne das Haus auch nur einmal zu verlassen. Seinen Eltern hatte man einen Boten geschickt, damit sie sich keine Sorgen machten: Lysias sei wohlauf, hatte man ihnen berichtet, allerdings käme er in den nächsten Tagen nicht nach Hause, da man seine Hilfe bei einem militärischen Planspiel benötige.

In Wirklichkeit erhielt Lysias eine Schnelleinführung in Sachen Pontos Euxeinos. Tagsüber hörte er die ausführlichen Berichte Herodots über dessen damalige Reiseerlebnisse, abends schulten ihn Protagoras, Anaxagoras und manchmal Nikias in grundlegenden Dingen wie Verhandlungstaktik, Verkaufsgespräche oder auch allgemeine Preispolitik. Timokles und Morychides schließlich quälten ihn mit Namen und Daten der athenischen Führungsspitze, von denen sie überzeugt waren, dass der echte Sohn eines wichtigen Kaufmanns sie kennen müsse. Lysias fühlte sich in seine Schulzeit versetzt, nur dass der Unterricht jetzt von morgens bis abends ging.

Am Morgen des vierten Tages war es dann so weit. Bevor er zum Hafen ging, verabschiedete er sich von seinen Eltern, ohne jedoch auch nur ein Sterbenswort über die vergangenen 72 Stunden oder seine kommende Mission zu berichten. Seine Eltern andererseits waren klug genug, ihn nicht zu bedrängen.

Seine Verlobte Polyxena war allerdings immer noch nicht da. Erst gestern war eine Nachricht eingetroffen, dass sich ihre Abreise vom Gutshof ihres Onkels erneut ein wenig verzögert habe. Lysias war traurig, beinahe sogar ein wenig verletzt, dass sie sich immer noch nicht blicken ließ. Andererseits war er aber auch zutiefst erleichtert, da ihm auf diese Weise eine traurige Abschiedsszene erspart blieb. Er hätte ja doch nur einen Kloß im Hals gehabt, hätte ihr ebenso wie seinen Eltern sowieso nichts sagen können.

„Ich werde ihr berichten, wenn sie wieder da ist“, sagte Theano mit leiser Stimme und mit Tränen in den Augen, „ich werde versuchen, es ihr zu erklären.“

Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Lysias betrat in Piräus das Deck der Poseidon und verließ Griechenland in Richtung Sinope, wo er bereits nach gut zwei Wochen ohne größere Schwierigkeiten ankam. Wie Morychides bei dem Treffen in Perikles’ Haus prophezeit hatte, waren die Dinge in Sinope bestens vorbereitet. Er traf sich mit den proathenischen Kräften, überbrachte auftragsgemäß seine Informationen, schmiedete Pläne mit den Verschwörern und verbrachte angenehme sechs Monate in dieser südpontischen Stadt, in denen er immer seltener an sein altes Leben in Athen dachte. Es gab so viel Neues hier zu entdecken, dass für alte Gedanken kaum noch Platz in seinem Kopf war.

Doch als der April endlich anbrach und sich die Winde für eine Weiterfahrt zum Bosporos günstig gedreht hatten, da machte er sich in den Hafen von Sinope auf, um auf einem der Frachtschiffe, die nach Pantikapaion reisten, als Passagier anzuheuern. Das Glück war im hold, so dass er nach nur zwei Stunden einen Kapitän gefunden hatte, der ihn auf seinem Schiff mit dem prachtvollen Namen Argo mitnehmen wollte. Das Glück, ja, genau so hatte er es damals empfunden.

Lysias

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