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Der Gastfreund, Pantikapaion, April 439 v. Chr.

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Nachdem Lysias und Mike eingetreten waren, hatte ein Diener sie direkt in den Innenhof geleitet, wo sich der Hausherr mit einigen Gästen an einem Tisch sitzend sehr angeregt unterhielt. Als Dakos die schöne Hetäre erkannte, entschuldigte er sich bei seinen Gesprächspartnern, kam auf sie zu, zog Mike ein wenig zur Seite und wechselte einige Worte mit ihr, wobei sie immer wieder zu Lysias herüberblickten. Dann begrüßte der Kaufmann ihn auch freundlich.

„Willkommen in meinem Haus, mein athenischer Gastfreund. Ich bin Dakos, langjähriger und treuer Handelspartner deines Vaters. Oder, besser gesagt, eigentlich sogar ein guter Freund, auch wenn wir uns noch nie persönlich begegnet sind.“ Mit diesen Worten schüttelte er ihm ausgiebig die Hand, wodurch er Lysias für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit gab, seinen Gastgeber genauer zu betrachten.

Dakos war sicher über 1,80 Meter groß, hatte langes schwarzes Haar und trug einen Vollbart, der dem des skythischen Reiterführers von vorhin auf dem Marktplatz in nichts nachstand. Auch seine Kleidung war ungewöhnlich. Zwar trug er den für einen Griechen normalen Chiton aus kostbarem Stoff, wenn dieser auch auffällig schlicht war. Aber die kleinen, seltsamen Amulette, die er um den Hals trug, und die an einigen Stellen auf das Gewand aufgenähten Goldplättchen mit ungewöhnlichen Tierdarstellungen wollten für Lysias irgendwie doch nicht zu der zurückhaltenden Eleganz passen, wie sie nur großer Reichtum ermöglicht. Dieser Mann, so dachte Lysias bei sich, wirkte so, als ob er zwischen zwei Kulturen stand und sich für keine wirklich entscheiden konnte – oder entscheiden wollte.

„Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen, Lysias? Wir hatten dich schon vor einer ganzen Weile erwartet“, fragte Dakos ein wenig tadelnd, während er gleichzeitig neu angekommene Gäste mit einem herzlichen Lachen begrüßte. Lysias erinnerte sich plötzlich wieder an seinen Brief, den er noch im vergangenen Jahr von Sinope aus mit einem Transportschiff nach Pantikapaion geschickt und in dem er eine deutlich frühere Ankunft angekündigt hatte.

„Ich habe mich leider für das falsche Schiff entschieden, wie sich aber erst im Nachhinein herausgestellt hat“, antwortete er entschuldigend. „Ich war mir ehrlich gesagt nicht im Klaren darüber, dass derart viele Hafenstädte auf dem Weg von Sinope hierher existieren, die mein Kapitän dann auch noch alle ansteuern musste.“

Bei diesen Worten konzentrierte sich Dakos wieder vollständig auf seinen neuen Gast, begann zu schmunzeln und sagte in einem leicht überheblichen Tonfall: „Es gibt vermutlich vieles, was du über unsere Heimat hier noch nicht weißt. Aber das ist ja auch der Hauptgrund, warum dein Vater mich gebeten hat, dir während deines Aufenthaltes hier ein wenig unter die Arme zu greifen und dich in die grundlegenden Dinge unseres Geschäftes einzuführen.“ Mit einer aufmunternden Geste forderte er Lysias auf, die silberne Weinschale zu nehmen, die ihm ein Diener zu seiner Rechten höflich anbot.

„Wenn ich es mir recht überlege, so ist trotz aller Verspätung deinerseits der heutige Abend sogar wie dafür geschaffen, dich in die entsprechenden Kreise einzuführen. Alle Würdenträger aus Politik und Wirtschaft sind heute hier versammelt. Sowohl die, die wirklich wichtig sind, als auch die, die sich nur selbst dafür halten.“ Dakos nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Trinkschale und fuhr fort: „Wir feiern ein außerordentlich lukratives Handelsabkommen, das ich mit dem Skythenfürsten Thymnes gerade heute Morgen abschließen konnte. Ich glaube, ihn hast du sogar vor kurzem kennenlernen dürfen, wenn ich Mike richtig verstanden habe.“ Bei seinen letzten Worten musste sich der Kaufmann ein Lachen regelrecht verkneifen.

„Lektion Nummer eins, mein lieber Lysias. Urteile nie nach dem ersten Augenschein, sondern bewerte einen Geschäftspartner immer danach, ob er verlässlich und ehrlich ist. Auch dann, wenn derselbe Mann dich vor kurzem beinahe über den Haufen geritten hätte. Wobei ich selbstverständlich zugeben muss, dass es Thymnes hier leider ein wenig an guter Erziehung fehlt.“

Die nächsten beiden Stunden verbrachte Lysias damit, den wichtigsten Würdenträgern Pantikapaions seine Aufwartung zu machen. So lernte er Sanon aus dem Geschlecht der Archaianaktiden kennen, der offenbar ganz oben in der städtischen Hierarchie stand und zurzeit die politischen Fäden in der Hand hielt. Dakos hatte ihm in einer kleinen Gesprächspause zugeraunt, dass die Zustimmung Sanons für die geplanten Handelsabkommen mit Athen im Allgemeinen und mit seinem Vater im Besonderen unbedingt vonnöten waren, weshalb sich Lysias ihm gegenüber besonders freundlich, ja beinahe schon unterwürfig zeigte. Er traf mit Sosias, Dalatos und Kleophon zusammen, offenbar alles enge Vertraute des Sanon, und beantwortete höflich und bescheiden all ihre Fragen über das ferne, berühmte Athen und natürlich auch über den Grund seiner Anwesenheit hier in Pantikapaion.

Zu seiner größten Zufriedenheit musste Lysias dabei feststellen, dass er diesmal seine Geschichte offensichtlich sehr überzeugend zum Besten gab. Zumindest konnte er bislang keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass ihm einer seiner zahlreichen Gesprächspartner keinen Glauben schenkte. Im Gegenteil. Man lud ihn zu verschiedenen Gesellschaften ein, versprach ihm jedwede Hilfestellung bei seinem Vorhaben, Land und Leute zu erforschen, und zeigte sich offen gegenüber seinen Zielen, Handelsabkommen mit Athen vorzubereiten. Vielleicht war es ja doch ganz gut gewesen, dass er die Feuertaufe für seine Tarnidentität bereits an Bord der Argo über sich ergehen lassen musste, so dass er die seinerzeit gemachten Fehler nun vermeiden und entsprechend schwierige Gesprächsthemen geschickt umgehen konnte.

Während seiner zahlreichen Gespräche mit Gästen, die Dakos für eine erste Kontaktaufnahme auswählte, gelang es Lysias, sich die nähere Umgebung genauer anzuschauen. Das große Fest verteilte sich tatsächlich über die gesamte untere Etage des zweistöckigen Hauses, so dass sich in den einzelnen Räumen – wie immer bei diesen Veranstaltungen – kleine Gruppen bildeten. Dakos selbst hielt sich offenbar am liebsten in dem großen zentralen Gartenhof auf, an dessen Seiten überall extra Klinen aufgestellt waren. Unzählige Diener kümmerten sich hier um das Wohlergehen der Anwesenden, indem sie für einen stetigen Nachschub an Wein und kleinen kulinarischen Köstlichkeiten Sorge trugen. Rund um den Hof herum grenzten verschieden große Räume, in denen ebenfalls Klinen standen und die mit kostbaren Mosaiken und Wandteppichen ausgestattet waren, die fast alle Legenden und Mythen aus grauer Vorzeit zeigten.

Ein stetiges Kommen und Gehen der Gäste verhinderte jeden Versuch, ihre Anzahl auch nur annähernd zu bestimmen. Vermutlich waren es mehr als achtzig Personen, die sich hier auf Kosten des Hausherrn prächtig amüsierten. Es konnten aber auch viel mehr sein, so dass, wenn überhaupt, nur Dakos selbst wusste, wie viele Gäste wirklich anwesend waren. Lysias fühlte sich an sein Zuhause in Athen erinnert, wenngleich hier alles anscheinend eine Nummer größer und protziger geraten war. Und trotzdem: Auch wenn manch einer der Gäste so merkwürdig gekleidet war wie Dakos selbst, mit all diesen komischen Schmuckplättchen und Gewändern, so konnte er doch die einzigartige Atmosphäre wahrnehmen, die ein griechisches Fest vor allem auszeichnete. Man gehörte dazu, zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, die es verstand, abseits des Alltags und abgeschottet von der Außenwelt einen vergnüglichen und feuchtfröhlichen Abend zu verbringen. Natürlich war das hier etwas anderes als das Symposion bei Perikles, wo diese ganze Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Doch es ging in die gleiche Richtung. Wer von Dakos zu dieser Festgemeinschaft dazugeholt worden war, der hatte es geschafft, der gehörte zur Elite der pantikapäischen Bürgerschaft. Hier erfuhr man die wirklich wichtigen Neuigkeiten oder auch einfach nur den neuesten Klatsch und Tratsch, je nach Vorliebe und Notwendigkeit.

Lysias nippte an seiner Weinschale und verzog innerlich das Gesicht. Dieser Wein schmeckte, trotz seiner samischen Herkunft, ungewohnt, ja schauderhaft und stieg ihm zudem stark zu Kopf. Dakos hatte ihm gleich bei seiner ersten Schale erklärt, dass man hier auf die skythische Art zu trinken pflegte. Was nichts anderes bedeutete, als dass man den Wein unvermischt trank. Oh, großer Dionysos, wie kannst du so etwas nur zulassen? Lysias hatte sich bereits kurz nach seiner Ankunft gewundert, wo im Hause denn eigentlich die großen und prachtvoll verzierten Kratere standen, diese Mischgefäße, in denen der kultivierte Gastgeber seinen Wein mit Wasser verdünnte, bevor er ihn seinen Gästen darreichte. Jetzt wusste er, dass man hier in Pantikapaion, oder zumindest im Hause des Dakos, diesen eigentlich festen Bestandteil des griechischen Trinkgelages offensichtlich überhaupt nicht brauchte. Was für Barbaren!

Mit einer entschuldigenden Geste verabschiedete sich Lysias von seinem aktuellen Gesprächspartner, einem gewissen Konon, der offenbar maßgeblich für die Festsetzung der Hafenzölle zuständig war, und ging in Richtung der hinteren Räume, wo in einem griechischen Haus normalerweise der Andron lag. Sein Bedürfnis an intelligenten Gesprächen, die seiner vollen Aufmerksamkeit bedurften, damit ihm keine Fehler unterliefen, war über Gebühr gestillt. Auch merkte er, wie der schwere Wein allmählich die Kontrolle über seine Zunge übernahm, was erfahrungsgemäß sehr schlecht enden konnte. Hier galt es, sich selbst einen Riegel vorzuschieben, bevor man sich im wahrsten Sinne des Wortes verplapperte. Von nun an wollte er den Rest der Nacht doch lieber damit zubringen, die übrigen Gäste zu beobachten und sich möglichst viele Namen und Gesichter einzuprägen. Auch hoffte er inständig, dass er sich in nicht allzu ferner Zukunft in sein Zimmer im oberen Stockwerk zurückziehen konnte, da er doch allmählich ziemlich müde wurde. Kein Wunder, war es doch insgesamt ein sehr ereignisreicher Tag gewesen.

Auf seiner kleinen Erkundungstour durch das Haus sah Lysias überall mittlerweile sehr ausgelassene Gäste, die mit steigendem Alkoholkonsum einen durchaus bemerkenswerten Geräuschpegel zustandebrachten. Musikanten trugen flöteblasend das ihrige dazu bei. Auch sah er zahlreiche wohlgekleidete und äußerst aparte Frauen, die offenbar wie Mike dem käuflichen Gewerbe nachgingen und den angeheiterten Männern mit ihrer Gesellschaft den Abend versüßten. Mike!, schoss es ihm durch den Kopf. Was für eine schöne Frau, die es zudem verstanden hatte, ihre von den Göttern gewährte Figur mit der geschickten Auswahl ihrer Kleider noch stärker zu betonen! Sofern das überhaupt noch möglich war. Er hatte sie den ganzen Abend nicht mehr gesehen. Wo war sie nur abgeblieben, nachdem sie gemeinsam das Haus betreten hatten? Mike wäre jetzt genau die richtige Person, mit der er sich gerne noch ein wenig unterhalten hätte. Sie hatte ihn davor bewahrt, von diesem Thymnes über den Haufen geritten zu werden, hatte bei ihm den Eindruck hinterlassen, dass sie überaus gebildet war, und ihr Lächeln, ja allein ihr Lächeln ließ sein Herz ein wenig schneller schlagen.

Den kurzen Anflug eines schlechten Gewissens, der ihn bei diesen Gedanken überkam, verdrängte er schnell mit einem Schulterzucken. Seine Verlobte Polyxena war weit weg in Athen, und nur mit einer Hetäre zu reden, ihr zudem wichtige Informationen für seinen Geheimauftrag zu entlocken, das war ja wohl schließlich nicht verboten und konnte auch nicht als unschickliches Verhalten bezeichnet werden.

Lysias

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