Читать книгу Lysias - Jochen Fornasier - Страница 8

Neun Monate zuvor, Athen, August 440 v. Chr.

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Es war ein unglaublich heißer Tag gewesen, damals im Monat Hekatombaion, so als hätte der Schmiedegott Hephaistos kurzerhand seine Werkstatt ins Stadtzentrum verlegt. Die Luft flimmerte derart heftig über den festlich geschmückten Gebäuden rund um den Marktplatz, dass es nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien, bis die ersten Flammen aus einem der umliegenden Dächer emporsteigen würden. Und trotzdem waren alle auf den Beinen, die Großen wie die Kleinen. Sie alle säumten den Weg, der mitten über den Platz verlief, dann weiter Richtung Süden am Areshügel vorbeiführte, wo in grauer Vorzeit die Amazonen bei ihrem Überfall auf die Stadt gehaust hatten, bis hinauf zur Akropolis, dem uneinnehmbaren Burgberg und weltbekannten Wahrzeichen Athens.

Die Zuschauer entlang des Weges waren in ihren schönsten und festlichsten Gewändern gekommen, um einen letzten Blick auf die große Abschlussprozession zu werfen. Allerdings drückte die kaum noch zu ertragende Hitze ein wenig die Stimmung, so dass mancherorts vereinzeltes Gemurmel zu hören war wie: „Können die nicht ein wenig schneller gehen? Mir läuft der Schweiß schon im Stehen überall runter. Ich will endlich wieder in den Schatten zurück, einen kühlen Wein trinken!“, oder: „Seht euch die an, die da, ganz vorne in der zweiten Reihe. Deren Blumenschmuck ist ja schon total verdorrt, und ihr Kleid ist schon so durchgeschwitzt, dass man oben alles durchsieht. Und das bei einer Prozession!“ Der ein oder andere Mann drehte bei diesen Worten ruckartig den Kopf und hatte auf einmal wieder – zumindest für einen kleinen Moment – ungemein großes Interesse an den Vorbeiziehenden.

Jedes Jahr gab es dieses herrliche Fest zu Ehren der Göttin Athena, der städtischen Schutzpatronin, und meistens war das Wetter im Gegensatz zu heute auch erträglich. Alle vier Jahre wurde es sogar als die Großen Panathenäen besonders prächtig gefeiert. Doch auch die Kleinen Panathenäen verwandelten die Metropole für einen kurzen Moment in eine zauberhaft glitzernde Perle, die einer Göttin wahrhaft würdig war. Man brachte Opfer dar, führte würdevoll althergebrachte Riten durch, zeigte lang einstudierte Tanzvorführungen und versicherte sich auf diese Weise auch weiterhin der göttlichen Gunst für sich selbst und die ganze Gemeinschaft. Daneben gab es viele weitere Veranstaltungen, vor allem abends, die für die Allgemeinheit offen waren und bei denen man sich bis zum frühen Morgen prächtig amüsieren konnte. Gerade diese letzten Feiern waren besonders beliebt, weil man am nächsten Morgen ja nicht unbedingt fit sein musste. Hier konnte man sich noch mal so richtig austoben, was aber auch immer wieder einige Halbstarke zum Anlass nahmen, in ihrer Trunkenheit die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten. Sehr zur Freude der Ordnungskräfte.

Aus alter Gewohnheit heraus war Lysias selbst mit seinen Eltern schon früh von zu Hause aufgebrochen, um entlang des Festweges einen guten Platz zu ergattern. Auch sie hatten sich herausgeputzt. Sein Vater Androklos trug einen langen Chiton, der bis zu den Füßen reichte und den er mit einem Gürtel über den Hüften kunstvoll drapiert hatte. Diese Art von Gewand war eigentlich schon längst aus der Mode gekommen und war auch ziemlich unpraktisch, wie Lysias fand. Doch es gehörte zum guten Ton, dass die hohen Würdenträger der Stadt diese traditionelle Tracht bei offiziellen Anlässen mit Stolz und Würde trugen, ob nun praktisch oder nicht. Und Androklos war nun mal lange Zeit im Priesterkollegium der Stadtgöttin tätig gewesen, bevor er aus gesundheitlichen Gründen auf die Ausübung seiner Pflichten verzichten musste. Lysias’ Mutter Theano hingegen hatte sich trotz der großen Hitze für ihr schönstes Kleid aus feinster, himmelblau gefärbter Wolle entschieden, das auf den Schultern elegant mit kleinen Schmucknadeln befestigt war und durch eine geschickte Trageweise auf der rechten Körperseite offen blieb. Ihr langes dunkles Haar war kunstvoll zu einem Schopf drapiert, und ihre feine Haut schützte ein Schleier vor der sengenden Sonne. An den Armen trug sie sehr fein ziselierte, geschlossene Ringe, und ihr gesamter Anblick war so schön, dass Lysias beinahe vergaß, dass er seiner 45-jährigen Mutter gegenüberstand.

Lysias selbst aber sah aus, als wäre er soeben einer Erzählung des großen Dichters Homer entsprungen, wie seine Mutter beim Verlassen des Hauses ein wenig scherzhaft bemerkte: „Sag mal Lysias, willst du eigentlich dem großen Achilleus vor Troja Konkurrenz machen, weil du deinen Brustpanzer derart auf Hochglanz poliert hast? Pass nur auf, dass all die hübschen Mädchen bei deinem Anblick nicht sofort erblinden!“

„Sollen ihnen doch ruhig die Augen tränen“, erwiderte Lysias gut gelaunt, „solange meine Polyxena mir nicht erblindet. Hatte ich in diesem Zusammenhang eigentlich schon erwähnt, dass wir bald heiraten werden?“

Androklos konnte sich ein leichtes väterliches Grinsen nicht verkneifen, als er dem hoffnungslos Verliebten erwiderte: „Ja, ich glaube, so zwei- bis dreihundertmal dürften wir das in letzter Zeit nun doch schon gehört haben.“

„Lass ihn“, sagte seine Frau, „er ist ein Soldat, der immerzu neuen Gefahren ausgesetzt ist. Da tut es ihm gut, wenn er neben dem Gräuel, das er in seinen jungen Jahren auf dem Schlachtfeld sehen muss, auch mal an etwas Schönes denken kann.“

Theano hakte sich überschwänglich bei ihrem Mann ein und flüsterte ihm zu: „Ach, die Liebe ist doch das schönste Geschenk der Götter, nicht wahr, mein stattlicher Gemahl?“

Lysias war Offizier aus Leidenschaft. Er war vor kurzem zum Anführer einer berühmten und von den Feinden landauf, landab gefürchteten Reiterabteilung ernannt worden, die zu den schlagkräftigsten Truppenteilen des gesamten attischen Heeres zählte. Erst vor zwei Tagen war er von einem großen Manöver zurückgekehrt, das unter ungewöhnlich strenger Geheimhaltung durchgeführt worden war. Der Sinn dieser Kriegsübung war ihm nicht ganz klar, und es wurmte ihn maßlos, dass sich seine Vorgesetzten auf Nachfrage ebenfalls ahnungslos gaben. Aber so war das nun mal beim Militär: Auf eine berechtigte Frage bekam man ja zumeist doch nur eine unbefriedigende, mitunter dämliche Antwort, vor allem als Neuling unter den Offizieren. Doch das Manöver war nun vorbei, er selbst wieder in Athen und mit seinen Eltern auf dem Weg zum Festzug.

Und heute Abend, da würde er endlich seine Verlobte wiedersehen. Polyxena war für einen Monat nach Laurion auf das Landgut ihres Onkels gezogen und sollte eigentlich schon seit Beginn der Panathenäen zurück sein. Doch aus irgendeinem Grund hatte sich ihre Abreise verspätet, weshalb sie erst heute Abend zurückerwartet wurde. Lysias war gespannt auf die Neuigkeiten, die sie ihm in ihrem letzten Brief als große Überraschung angekündigt hatte. Typisch Frauen, dachte Lysias, wenn es eine Überraschung sein soll, warum kündigte man diese dann vorher an?

Ohne es zu merken, waren sie bereits an der Heiligen Straße angekommen, über die der Festzug führte. Sie hatten es sogar geschafft, bis zu den Schranken des Zwölfgötteraltars am nördlichen Rand des Marktplatzes vorzudringen, mit einer der besten Stellen überhaupt, sofern man die pralle Sonne ertrug. Allerdings hatten sie das nicht der imposanten Gestalt oder gar Initiative von Lysias, sondern vielmehr der Starrköpfigkeit und der Redegewandtheit seines Vaters Androklos zu verdanken. Androklos hatte so lange und derart penetrant auf die bereits hier anwesenden jüngeren Athener eingeredet, oder besser gesagt, sie schlichtweg niedergeredet, bis diese schließlich freiwillig das Feld räumten. Und nun standen sie hier und sahen der Prozession zu, die sich trotz der Hitze ehrwürdig Richtung Süden bewegte.

Lysias war dabei so in Gedanken vertieft, dass er beinahe einen Sprung mitten in die Festreihen gemacht hätte, als plötzlich neben ihm eine tiefe und fast schon bedrohlich wirkende Stimme erklang: „Bist du Lysias, Sohn des Androklos aus dem Demos Athen, Anführer der dritten Kavallerieabteilung?“

Leicht verärgert drehte er sich um, bereit, dem Störenfried seine ganze neu erworbene Autorität entgegenzuwerfen, als ihm der Atem stockte. Wenn seine eigene Mutter ihn schon als Konkurrenz zum legendären Achilleus vor Troja sah, so musste das hier direkt vor ihm die Inkarnation des Kriegsgottes Ares selbst sein. Wenn er mit seinen 1,83 Meter Körperwuchs bereits als großer und gut durchtrainierter junger Mann galt, so gehörte dieser Person vor ihm eindeutig ein Platz unter den legendären Titanen. Lysias wusste augenblicklich, wen er da vor sich hatte: Kallonides, Kommandant der städtischen Polizeitruppen und einer der höchstdekorierten Soldaten in ganz Attika.

Kallonides war fast 15 Jahre älter als Lysias, doch verriet er mit jeder geschmeidigen Bewegung seines Körpers, dass dies keine Rolle spielte. Er war immer noch mindestens genauso durchtrainiert und kräftig wie sein jüngeres Gegenüber.

Lysias straffte sich und erwiderte: „Ja, Hauptmann, das bin ich. Was kann ich für dich tun?“

„Für mich? Nichts. Ich will nichts von dir. Und wenn es doch so wäre, dann käme ich wohl kaum zu dir, sondern du zu mir.“

Die beiden Polizisten, die hinter Kallonides standen, grinsten breit vor sich hin. „Man hat mich gebeten, dir eine Einladung unseres geschätzten Perikles zu übermitteln, der zurzeit leider zu beschäftigt ist, um dies selbst zu tun.“ Allein sein säuerlicher Tonfall machte deutlich, was Kallonides von seiner derzeitigen Aufgabe als Botenjunge hielt.

„Von Perikles?“ Lysias sah ihn mit großen Augen an. „Meinst du etwa den Perikles, den Strategen und berühmten Wohltäter Athens?“

Kallonides rang immer stärker um seine Fassung und presste zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor: „Welchen denn sonst? Kennst du etwa sonst noch einen?“

Lysias’ Gedanken rasten. In der Tat kannte er noch einen Perikles, einen netten jungen Mann unten im Hafen von Piräus, mit dem er in der Vergangenheit des Öfteren zusammen getrunken hatte. Doch irgendwie hielt er es nicht für sonderlich klug, das Kallonides gerade jetzt zu sagen. Vermutlich wäre es der berühmte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte. Kallonides war zwar nicht sein direkter Vorgesetzter, doch man erzählte sich viele Geschichten über ihn. Die meisten schienen übertrieben, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Mit diesem Mann war nicht gut Oliven essen.

„Unser geschätzter Stratege Perikles, ja eben dieser Perikles, lädt dich ein, heute Abend bei ihm zu Hause sein Gast zu sein. Er bittet dich allerdings höflichst, allein zu kommen, da es unter anderem auch um berufliche Dinge geht, die ja bei einem Offizier wie dir der Geheimhaltung unterliegen.“ Bei diesen Worten, die wie auswendig gelernt klangen, sah Kallonides ihn beinahe schon feindselig an. „Ich gehe davon aus, dass du weißt, wo Perikles wohnt. Immerhin ist er einer unserer wichtigsten städtischen Repräsentanten. Heute Abend, bei Sonnenuntergang.“

Damit schien für Kallonides das Gespräch beendet zu sein, und er wies seinen Zweimanntrupp an, sich zu entfernen, als er sich selbst noch einmal umdrehte: „Nur damit wir uns recht verstehen, Soldat. Das war nicht wirklich nur eine Bitte von Perikles. Wehe dir, wenn du nicht hingehst.“

Als Kallonides mit seinen beiden Untergebenen bereits in der Menge verschwunden war, stand Lysias immer noch wie versteinert da, verzweifelt bemüht, das eben Geschehene zu verdauen. Hatte er sich vor fünf Minuten noch auf ein Wiedersehen mit Polyxena gefreut, so sah er sich urplötzlich in Gedanken einem Militärgericht gegenüberstehen, das ihn kalt lächelnd zum sofortigen Tode verurteilte. Dabei wusste er doch noch nicht einmal, was er eigentlich getan hatte!

Sein Vater, der die ganze Szene mitbekommen hatte, erriet die Gedanken seines Sohnes: „Mach dir keine Sorgen, Junge. Im Gegenteil, fühle dich geehrt! Immerhin bist du der Erste aus unserer Familie, der an einem dieser legendären Symposien im Hause des Perikles teilnehmen darf.“

Irrte sich Lysias, oder klang da in der Stimme seines Vaters etwa ein klein wenig Verbitterung mit?

„Das ist die Chance deines Lebens, um ein für alle Mal deine Karriere abzusichern“, fuhr Androklos fort, „Nutze sie! Und mach dir keine Sorgen wegen Polyxena. Ich werde ihr alles erzählen, sobald sie wieder da ist. Sei wirklich unbesorgt. So, wie ich deine Verlobte kenne, wird es ihr nicht wirklich unangenehm sein, heute Abend ihren Freundinnen erklären zu müssen, dass du sie versetzt hast, weil du bei Perikles, dem Strategen Perikles, bist. Aber nun geh nach Hause, nimm ein Bad und zieh dir neue Sachen an. Deine Kleider sind ja schon völlig verschwitzt.“

Als Lysias sich von seinen Eltern verabschiedet hatte und nach Hause aufgebrochen war, nahm Theano die Hand ihres Mannes, die trotz der gewaltigen Hitze ebenso kalt wie die ihre war. Auch in seinen Augen las sie die gleiche ungläubige Angst, die sie selbst beinahe lähmte.

„Was geschieht hier? Was wollen die von meinem Sohn? Androklos, was wollen diese Männer von unserem Kind?“

„Theano, sei vorsichtig. So spricht man nicht von unseren gewählten Volksvertretern. Lass uns irgendwo einen Platz zum Reden suchen, wo nicht so viele Ohren zuhören können.“ Er zog seine Frau mit sich, bis sie etwas weiter entfernt vom Prozessionsweg waren.

„Ich weiß auch nicht, was das soll, Theano. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat unser Sohn in jüngster Vergangenheit mächtig großen Mist gebaut, bewusst oder unbewusst, und man will ihn nun bei einem Empfang offiziell dafür zur Rechenschaft ziehen. Oder man will etwas von größter Wichtigkeit mit ihm erörtern, das nicht in der Volksversammlung besprochen werden darf.“

Er hielt inne, als einige Passanten gut gelaunt an ihnen vorbeigingen. Dann wisperte er: „Beide Varianten sind auf jeden Fall schlecht. Ich befürchte sehr stark, dass das Leben unseres Sohnes, und aller Wahrscheinlichkeit auch unser eigenes, morgen ein anderes sein wird, als es heute noch ist.“

Lysias

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