Читать книгу Lysias - Jochen Fornasier - Страница 9

Im Zentrum der Macht, Athen, August 440 v. Chr.

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Als die Abenddämmerung angebrochen war, stand Lysias vor dem Haus des Perikles. Er zögerte, hatte schon zwei Anläufe unternommen, selbstbewusst und mit erhobenem Haupt an die Eingangstür zu klopfen. Doch beide Male hatte ihn im entscheidenden Augenblick der Mut verlassen.

„Wenn du noch lange hier herumstehst“, ertönte plötzlich hinter ihm die spöttisch klingende Stimme von Kallonides, „dann ist das Fest vorbei und dein Gastgeber enttäuscht, dass du nicht gekommen bist.“ Kallonides trat aus dem Schatten der gegenüberliegenden Hauswand heraus und klopfte an die Tür, ohne dabei auch nur ein weiteres Wort zu verlieren.

Täuschte sich Lysias, oder hatte der Kommandant tatsächlich auf ihn gewartet? Und warum ging Kallonides nun selbst zum Haus des Perikles, so als wäre er auch eingeladen?

Noch bevor er sich weiter darüber wundern konnte, öffnete ein Diener die Haustür, bat sie beide herein und führte sie zielstrebig über den zentralen Lichthof in den rückwärtig gelegenen Andron. Dieser Salon, repräsentativ und in fast jedem griechischen Haus reich ausgeschmückt, diente dem Besitzer für offizielle Anlässe, Besprechungen oder auch für Festlichkeiten, wobei die Grenzen sehr fließend waren. Sie selbst hatten zu Hause selbstverständlich auch ein Andron, der gehörte nun einfach dazu, doch was er jetzt zu sehen bekam, unterschied sich qualitativ doch deutlich von ihrem eigenen.

Das Erste, was Lysias sah, nachdem sie den Raum betreten hatten, war das große, unglaublich kleinteilige und daher mit Sicherheit wahnsinnig teure Fußbodenmosaik. Er erkannte sofort, dass es sich um die Darstellung des berühmten athenischen Helden Theseus im Kampf gegen den Minotauros handelte, eine der wichtigsten mythischen Schlüsselszenen aus der Frühzeit ihrer Heimatstadt, die deshalb auch in keinem Haus der gehobenen Gesellschaft fehlen durfte. Ganz nach dem momentan gängigen Kunstgeschmack war der Mythos auf den Höhepunkt der Handlung reduziert: links stand Theseus, der außer einer Haarbinde und einem Schwert in seiner rechten Hand nackt war, rechts sah man im Eingang des Labyrinths das in die Knie gebrochene Ungetüm, das Theseus als Zeichen seines nahenden Sieges bereits mit seiner linken Hand an einem der Hörner gepackt hatte. Die Botschaft war für jeden Besucher unmissverständlich, oder zumindest für diejenigen, die es gewohnt waren, mit Bildersprache umzugehen: Was immer du auch meinst zu wissen, so schien das Bild zu sagen, Athen siegt immer, sei es damals in Gestalt seines Urkönigs Theseus oder heute in der eines modernen Stadtrepräsentanten. Also sei vorsichtig bei deinen Forderungen gegenüber Athen! Was passiert, wenn du den Bogen überspannst, kannst du dir hier auf dem Boden beispielhaft anschauen.

Um das Mosaik herum standen Klinen aus kostbarem Holz mit zahlreichen kunstvoll geschnitzten Elfenbeinplättchen. An den Wänden hingen zudem kostbare farbenfrohe Teppiche mit den Darstellungen weiterer berühmter Taten griechischer Helden. Zwei große Kandelaber in den hinteren Raumecken spendeten zusammen mit kleinen, tragbaren, überall verteilten Tonlampen ein angenehmes warmes Licht, weshalb Lysias trotz all seiner Anspannung eine wohlige Atmosphäre wahrnahm.

Auf den Klinen lagen bereits mehrere Personen und ließen sich den Wein und die dargereichten Köstlichkeiten schmecken. Überall standen kleine Schälchen mit Oliven, Gemüse, leckeren Pastetchen und Käse. Und da war auch Perikles, dem Lysias noch nie in seinem Leben so nahe gekommen war wie jetzt.

„Ah, Lysias!“, rief Perikles gut gelaunt. „Ich freue mich, dass du meine Einladung angenommen hast. Bitte, nimm doch Platz. Hier neben meinem alten Freund und Mentor Anaxagoras haben wir extra eine Kline für dich freigelassen. Fühl dich wie zu Hause! Genieße diesen köstlichen Wein und all das Essen, das meine Aspasia für uns hat zubereiten lassen.“

Lysias sah sich vorsichtshalber rasch um, ob er die Herrin des Hauses irgendwo erblickte, um ihr seine Aufwartung zu machen. Als er Aspasia aber nirgends im Andron entdeckte, ging er zu der Kline, die man ihm zugewiesen hatte, während sich Kallonides ungefragt auf dem noch freien Möbel im Eingangsbereich niederließ. Mit jeder Faser seines Körpers ein Wachsoldat, schoss es Lysias durch den Kopf, als er aus dem Augenwinkel Kallonides dabei beobachtete, wie er an der Tür Position bezog.

„Darf ich dir die übrigen Anwesenden kurz vorstellen. Zu deiner Linken sitzt, wie gesagt, Anaxagoras, mein Mentor, dem ich sehr viel verdanke und der mir trotz seiner 63 Jahre bis heute in allen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite steht.“ Anaxagoras schenkte Lysias ein aufmunterndes Lächeln, sagte aber nichts.

„Dort drüben sitzen Morychides, seines Zeichens Archon unserer schönen Stadt, und Timokles, der die Ehre dieses hohen städtischen Amtes im letzten Jahr innehatte.“ Beide nickten Lysias zu, sagten aber ebenfalls nichts.

„Zu meiner Rechten sitzen Protagoras, mein Freund und Kampfgefährte seit den frühesten Jugendtagen. Daneben Nikias, den du sicherlich als wortgewandten Politiker aus unseren Volksversammlungen kennst und mit dem ich die schönsten Streitgespräche führe. Neben ihm sitzt Herodot aus Harlikarnassos, der dabei ist, ein höchst spannendes Buch über Geschichte zu schreiben. Ich persönlich kenne tatsächlich niemanden sonst, der so viel und so weit gereist ist wie er. Und schließlich Kallonides, aber den muss ich dir sicher nicht mehr vorstellen.“

Kallonides sah auf und brummte leise vor sich hin: „Wir hatten heute schon das Vergnügen.“

Lysias blickte in die Runde der ihm soeben vorgestellten Männer und bemühte sich, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Was für eine illustre Runde, dachte er: ein Stratege, zwei Archonten, ein Philosoph und Mentor, ein Jugendfreund und Weggefährte, der Hauptmann der Stadtwache sowie dieser Herodot aus Harlikarnassos, Literat und Weltreisender. Und zu allem Überfluss schließlich er selbst, ein erst vor kurzem zum Offizier ernannter Anführer einer Reiterabteilung, die zwar durchaus berühmt war, dies aber auch schon lange, bevor er selbst das Kommando bekommen hatte. Wo war hier die Verbindung, der wollene Faden der Ariadne, der genau diesen Personenkreis an diesem Augustabend im Haus des Perikles zusammengeführt hatte?

Lysias’ Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Lange Zeit unterhielten sie sich über scheinbar völlig unverfängliche Themen, wie etwa die gerade zu Ende gegangenen Panathenäen, das Wetter allgemein, die jüngsten Beschlüsse der Volksversammlung über neue Abgaben oder die umfangreichen Bautätigkeiten auf der Akropolis. Wäre Lysias im Hause seines Vaters gewesen, so hätte er dieses Beisammensein als sehr gemütlichen und angenehm zwanglosen Abend zu schätzen gewusst – eben so, wie ein normales Symposion nun einmal sein sollte.

Doch er war nicht zu Hause. Als guter Gastgeber war Perikles zwar darauf bedacht, Lysias immer wieder in die Gespräche einzubinden, ohne dass dieser das Gefühl hatte, ausgehorcht zu werden. Aber seine Anspannung blieb. Bloß nichts Falsches sagen, dachte er bei sich und achtete gleichzeitig auf Anzeichen bei seinen Gesprächspartnern, die vielleicht etwas mehr Licht in die Angelegenheit brachten. Ein verstohlener Blickkontakt, eine Geste oder irgendetwas Vergleichbares. Er konnte jedoch die ganze Zeit über nichts dergleichen ausmachen, denn hier hatte er es mit ausgebufften Politkern zu tun. Trotzdem bekam er im Laufe des Abends immer stärker das Gefühl, dass man ihn irgendwie doch prüfte.

„Wie schmeckt dir eigentlich unser Wein, Lysias? Kannst du erraten, aus welcher Region er kommt?“, fragte Perikles plötzlich, so als wollte er Lysias’ letzten Gedanken persönlich untermauern. Obwohl dieser aus reiner Vorsicht bislang nur sehr wenig Wein getrunken hatte, wusste er doch schon nach dem ersten Nippen, um was für eine Sorte es sich dabei handelte.

„Einen guten Wein muss man einfach mögen“, antwortete er und fügte dann nach einer kurzen Pause hinzu: „Die Qualität und der Geschmack sind einfach unnachahmlich. Ich bin mir sicher, dieser edle Tropfen kommt von der Insel Samos.“

„Redegewandt, kampferprobt, gute Manieren und nun auch noch ein Weinkenner“, resümierte Anaxagoras lachend, ohne sich mit diesen Worten an einen bestimmten Gesprächspartner zu wenden. Dann fuhr er aber gezielter fort: „Wie der heutige Abend bislang gezeigt hat, Perikles, scheint mir, dass deine Wahl durchaus ihre Vorteile birgt. Sollte er jetzt noch ein philosophisches Streitgespräch unbeschadet überstehen, dann hast du zumindest mich überzeugt.“

Perikles lachte ebenfalls herzlich auf. „Mein lieber Mentor, ein Kaufmannssohn braucht in Dingen der Philosophie nun wirklich nicht bewandert zu sein. In allen anderen Punkten stimme ich dir aber zu. Auch ich bin bislang sehr zufrieden.“

Lysias war nun vollends verwirrt. Kaufmannssohn, was für ein Kaufmannssohn? Perikles wusste ja wohl noch, wen er zu sich eingeladen hatte? Natürlich war er selbst kein Kallonides, dafür war er einfach noch zu jung. Aber er hatte durchaus gesunde Ambitionen, was seine weitere Karriere beim Militär betraf.

Doch noch bevor er das Gespräch auf den „Kaufmannssohn“ lenken konnte, mischte sich Nikias in die Diskussion ein: „Auch wenn ich eher selten mit dir einer Meinung bin, Perikles, so glaube auch ich, dass Lysias trotz seines geringen Alters dieser Aufgabe gewachsen ist. Vermutlich brauchen wir tatsächlich einen durchtrainierten Mann, der sich im Notfall selbst verteidigen kann.“

Schließlich stimmten auch Timokles, Morychides und Protagoras wortgewandt dem bisher gefällten Urteil über Lysias zu, der sich allmählich wie ein Schlachtvieh auf dem Tiermarkt vorkam, über dessen Kopf hinweg soeben der Verkaufspreis verhandelt wurde.

Nur Herodot und Kallonides schwiegen beharrlich. Während der Literat den Eindruck vermittelte, dass er in der Diskussion nur wenig mehr Sinn sah als Lysias selbst, so war der Hauptmann ganz offensichtlich mehr als nur verstimmt.

„Mein Freund und Beschützer!“, sagte der Hausherr schmunzelnd, „wie steht es mit dir? Wie ist deine Meinung über unseren Gast?“

Kallonides sah Perikles lange schweigend an und sagte dann: „Abgesehen davon, dass ich immer noch der festen Überzeugung bin, dass ich selbst der Richtige für diese Mission bin?“ Er räusperte sich und wartete darauf, dass jemand in der Runde diesen Gesprächsfaden aufnahm, was zu seinem Leidwesen aber nicht geschah. „Nun gut, unser Kandidat ist zwar immer noch grün hinter den Ohren, aber ich muss zugeben, er hat Qualitäten, die für ihn sprechen. Seine militärische Karriere ist bislang vorbildlich, seine Auszeichnungen sind allesamt ehrlich auf dem Schlachtfeld verdient und sein Bildungsgrad ist sehr hoch, wovon wir uns alle heute Abend überzeugen konnten.“

Er legte eine kleine Pause ein, blickte zu Lysias hinüber und fuhr fort: „Klare Frage, Perikles, klare Antwort. Ich halte ihn durchaus für fähig, die Aufgabe zu bewältigen.“

Nachdem Kallonides geendet hatte, stand Perikles auf, ging zu dem großen metallenen Mischgefäß in der rechten Raumecke, füllte seine Trinkschale mit Wein und blieb einige Sekunden lang andächtig stehen. Bevor er sich an Lysias direkt wandte, nickte er einmal kurz mit dem Kopf nach hinten und wartete demonstrativ ab. Sogleich verließen die drei im Hintergrund stehenden Diener, die bislang nahezu unsichtbar für einen stetigen Nachschub an Getränken und Essen gesorgt hatten, den Raum.

Als die Gemeinschaft allein war, schloss Kallonides die Tür, während Perikles das Wort ergriff: „Da sich die Anwesenden offensichtlich einig sind, was ich sehr begrüße, halte ich es nun doch für angemessen, unseren jungen Gastfreund in unsere Pläne einzuweihen. Immerhin haben wir uns auf seine Kosten heute Abend den einen oder anderen Scherz geleistet, den er mangels Hintergrundinformationen nicht verstehen konnte. Was aber natürlich noch viel wesentlicher ist: Er wird, ohne es bislang zu wissen, die Hauptfigur in einem neuen Spiel sein, dessen Ausgang nicht wirklich vorhersehbar ist und das durchaus noch sehr gefährlich werden kann.“

Nun verstummten alle im Raum, und die ernsten Mienen auf den Gesichtern aller Anwesenden machten Lysias unmissverständlich klar, dass der fröhliche Teil des Abends nun vorbei war. Jetzt war der Moment gekommen, vor dem er sich die ganze Zeit über gefürchtet hatte.

„Was weißt du über die momentane Situation auf Samos?“, fragte ihn Protagoras unvermittelt. „Und dabei meine ich jetzt nichts, was mit Wein zu tun hat, zumindest nicht direkt.“

Lysias dachte angestrengt nach, was er auf diese Frage antworten sollte. Natürlich hatte er innerhalb seiner Truppe die Gerüchte gehört, dass Samos aus dem Attischen Seebund, der politischen Organisation griechischer Stadtstaaten unter Führung der Seemacht Athen, ausscheren wollte. Oder es seit kurzem bereits schon war. Während des Manövers hatte ein Mannschaftsführer der Fußtruppen sogar laut den Verdacht geäußert, dass dieses von Seiten der Stadt so geheim gehaltene Kriegsspiel zur Vorbereitung einer Invasion auf Samos dienen sollte – mit dem Ergebnis, dass er unmittelbar darauf seines Kommandos enthoben und interniert worden war. Keiner hatte ihn bis zum Manöverende wieder gesehen.

Daher weht hier also der Wind, dachte Lysias und antwortete mit möglichst fester Stimme: „Ich habe von politischen Differenzen gehört. Davon, dass die Machthaber auf Samos Kritik am Seebund äußerten. Aber mir scheint an diesen Gerüchten nichts dran zu sein.“

Er blickte Protagoras einen Moment lang direkt in die Augen und drehte sich dann zu Perikles um, der noch immer bei dem großen Weinkrater stand.

„Die Gerüchte sind leider nur zu wahr, mein lieber Lysias“, sagte der Stratege, „und wenn wir auch im nächsten Jahr noch diesen köstlichen samischen Wein unbeschwert genießen wollen, dann müssen wir jetzt schleunigst handeln. Das vergangene Manöver ist einer der Schritte, die wir zur Überwindung dieses Konfliktes bereits getan haben.“

Plötzlich ging er auf Lysias zu, blieb unmittelbar vor ihm stehen und sprach mit drohendem Unterton: „Aber bevor wir nun weiterreden, möchte ich dich darauf hinweisen, dass du über all das hier zu niemandem ein Wort verlieren wirst, ist das klar? Das nun folgende Gespräch wird niemals stattgefunden haben. Sollten wir herausfinden, dass du dich nicht daran gehalten hast, dann wirst du den Zorn der Nemesis in voller Härte zu spüren bekommen. Und deine Verwandten ebenso.“

Da war er also endlich, der Staatsmann Perikles. Lysias war fast schon erleichtert, dass das bisherige Schauspiel endlich beendet war. Nun sah er sich einem Strategen gegenüber, der zur Durchsetzung seiner Ziele alle Register zog, was offensichtlich auch Drohungen mit einschloss.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich zumindest Kallonides ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Freund und Beschützer, hatte Perikles gesagt, ha! Wachhund käme mir da eher in den Sinn, dachte Lysias und konzentrierte sich wieder auf ihren Gastgeber, der nun in der Raumitte Position bezogen hatte.

Lysias

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