Читать книгу Lysias - Jochen Fornasier - Страница 12

Skythischer „Sturm“, Pantikapaion, April 439 v. Chr.

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Nach über einer Stunde erreichte er endlich den Marktplatz, an dessen südlichem Ende sich die Umrisse eines großen zweistöckigen Gebäudes vor dem sternenklaren Nachthimmel abzeichneten. Von wegen einfach zu finden! Nach den Beschreibungen der Hafeninspektoren musste dies das Haus des Dakos sein, sofern er sich wenigstens auf diese Information verlassen konnte. Mehrfach hatte er sich auf dem Weg hierher verlaufen. Die kleinen dunklen Gassen, von denen keine einzige auch nur annähernd gerade zu verlaufen schien, hatten ihn schon nach wenigen Minuten in die Irre geführt. Aus der Luft, dachte Lysias verächtlich, sah die Stadt sicherlich aus wie die Schlangen des Laokoon, die über- und untereinander umherschlängelten. Ein schöner Anblick für die allsehenden Götter, ha! Nirgends schien hier auch nur die Spur eines geordneten Straßensystems erkennbar zu sein. Zumindest bei Nacht nicht. Er war schon sehr gespannt darauf, wie sich ihm diese Stadt wohl bei Tageslicht präsentieren würde.

Durch nahezu alle Fensteröffnungen des Gebäudes fiel Licht auf den weiten rechteckigen Marktplatz, der mit unregelmäßig großen Steinplatten gepflastert war und um diese späte Tageszeit nur ansatzweise erahnen ließ, für welch ein hektisches Treiben er normalerweise die Kulisse bot. Rings um die Freifläche herum standen fast überall Gebäude, so dass die Agora wie ein in sich geschlossenes Ensemble wirkte. Selbst bei diesen schlechten Lichtverhältnissen aber war unmissverständlich klar: Rein an Größe und an imposanter Ausstrahlung war das Haus des Dakos schwer zu übertreffen.

Als Lysias sich dem Gebäude näherte, drangen von allen Seiten her gedämpfte Stimmen zu ihm herüber, die von einem regen Nachtleben zumindest in diesem Stadtteil Pantikapaions zeugten. Doch plötzlich war da noch etwas anderes: ein immer lauter werdendes Geräusch, das ihm als Anführer einer Reiterstaffel nur allzu gut bekannt war und das ihn schlagartig an sein früheres, unwirklich gewordenes Leben erinnerte. Galoppierende Pferde! Feste Hufschläge auf Steinplatten, deren Widerhall durch die engen Gassen zu einer fast schon greifbaren körperlichen Bedrohung wurde!

„Verschwinde da, du Idiot! Lauf zu einer Hauswand und bleib da stehen!“, rief eine weibliche Stimme unvermittelt aus der Dunkelheit. Auch ohne den Standort der Frau ausmachen zu können, war Lysias instinktiv klar, dass in diesem Moment nur er selbst gemeint sein konnte. Reflexartig sprang er zur Seite und lief so schnell er konnte auf das nächstgelegene, flache Gebäude zu, obwohl er überhaupt nicht wusste, wovor er da eigentlich gerade floh. Doch nur wenige Sekunden, nachdem er die rettende Hauswand erreicht hatte, erkannte er den Grund. Und obgleich sich das Geschehen so unglaublich schnell wie ein geschleuderter Blitz des Göttervaters selbst abspielte, erinnerte sich Lysias doch noch lange Zeit an folgende Szene: Wie aus dem Nichts schossen sechs Reiter aus einer Gasse, die im vollen Galopp über den Marktplatz ritten, auf niemanden Rücksicht zu nehmen schienen und am anderen Ende des freien Feldes wieder in der Dunkelheit verschwanden, aus der sie gekommen waren.

Alle Reiter trugen diese merkwürdigen Hosenanzüge, die an den Nähten und am Saum des jackenartigen Oberteils mit kleinen rechteckigen Metallplättchen verziert waren. In dem wenigen Licht, das aus den Fenstern auf den Marktplatz fiel, glaubte Lysias sogar, Gold als Material erkannt zu haben. Doch da war er sich nicht völlig sicher. An ihrer rechten Seite trugen die Reiter jedenfalls den für Steppennomaden typischen Köcher, in dem die Pfeile und der Bogen gemeinsam transportiert werden konnten. Die Männer waren zudem ausnahmslos bärtig und besaßen obendrein eine mützenartige Kopfbedeckung, wodurch ihr gewollt zur Schau gestellter, wilder Charakter nochmals unterstrichen wurde.

Skythen!, dachte Lysias. Genau so, wie Herodot sie ihm beschrieben und wie er sie in Athen bereits unzählige Male auf Vasenbildern gesehen hatte. Das hier waren ganz offensichtlich leibhaftige skythische Barbaren, die sich zudem benahmen, als wären sie die Herrscher der Nacht! Und das mitten im Zentrum einer griechischen Stadt! Was für eine Unverfrorenheit.

„Sag mal, Fremder. Bist du einfach nur dumm oder weißt du tatsächlich nichts Besseres mit deinem Leben anzufangen, als es auf diese Weise wegzuschmeißen?“

Die Frauenstimme, die ihn vor wenigen Augenblicken noch vor dem heranstürmenden Reitertrupp gewarnt hatte, erklang nun direkt hinter ihm. Lysias drehte sich hastig um und traute seinen Augen nicht. Vor ihm stand das Abbild der Aphrodite – oder zumindest eine Frau von so vollendeter Schönheit, wie es sich für die Göttin der Liebe geziemt hätte. Sie war nicht älter als 25 Jahre, hatte langes dunkelbraunes Haar und trug ein rotes Kleid, das an beiden Langseiten zugenäht und dessen Ausschnitt mit einer weißen Borte elegant abgesetzt war. Mit diesem vornehmen Kleid wäre ihre Trägerin in Athen mit Sicherheit der Blickfang einer jeden gehobenen Abendgesellschaft gewesen. Vollkommen ungriechisch aber waren demgegenüber die beiden langen röhrenförmigen Ärmel, die entweder einem lokalen Modetrend entsprachen, wie Lysias stark vermutete, oder möglicherweise auch nur ein Tribut an die klimatischen Bedingungen am Bosporos waren. Wie es auch immer sein mochte, auf jeden Fall verschlug ihm dieser Anblick schlichtweg die Sprache.

„Mein Name ist Mike. Ich komme aus Myrmekion, einer Stadt nur wenige Stadien südlich von hier“, sagte die Fremde und wartete nun ganz offensichtlich auf eine Erwiderung seinerseits. Doch Lysias war immer noch vom Anblick und der klaren, angenehm dunklen Stimme der Frau gefesselt, als dass er die unausgesprochene Aufforderung verstand.

„Verstehst du meine Sprache nicht, Fremder? Du bist griechisch gekleidet und scheinst irgendwo aus dem Süden zu kommen. Du musst Griechisch können, da bin ich mir sicher. Immerhin scheinst du ja meine Warnung verstanden zu haben. Also, wenn du nicht stumm bist, so rede mit mir. Oder sind da, wo du herkommst, alle so unfreundlich?“

Bei diesen Worten erwachte Lysias endlich aus seiner Starre und antwortete etwas verlegen: „Verzeih mir, Mike. Aber ich war noch ein wenig in Gedanken wegen dieses ungeheuerlichen Vorfalls. Hab jedenfalls Dank für deine Warnung, ohne die ich jetzt nicht vor dir stehen würde. Mitten in der Stadt eine skythische Reiterhorde. Bei Zeus, wie kann man so etwas nur dulden?“

Dann sah er seiner Retterin direkt in die Augen und fuhr fort: „Mein Name ist Lysias. Ich bin Kaufmann aus dem berühmten Athen im fernen Griechenland. Mein Vater schickt mich auf diese Reise, um mich mit Dakos zu treffen, der in der hiesigen Wirtschaftshierarchie eine bedeutende Rolle spielen soll. Du kennst diesen Dakos nicht zufällig und kannst mir vielleicht sogar sagen, wo er wohnt?“ Bei diesen Worten nickte er fragend in Richtung des beleuchteten Hauses, von dem er bislang ausgegangen war, dass sein zukünftiger Gastgeber dort wohnte.

Mikes Ärger verschwand augenblicklich. Sie lachte herzlich auf und sah ihn freundlich an: „Bei Artemis! Du bist also dieser Lysias, auf den sie hier schon seit Tagen warten?“, schnurrte sie. „Ein paar meiner Kunden hatten schon Wetten darauf abgeschlossen, ob du überhaupt noch kommen würdest. Wo hast du dich bloß herumgetrieben?“

Sie drehte ihn in Richtung des zweistöckigen Gebäudes. „Ja, du hast recht. Dies ist das Haus des Dakos. Und ja, ich kenne ihn. Heute Abend veranstaltet er ein großes Fest, zu dem er mich eingeladen hat. Ich habe gerade meine Sänfte zurück nach Hause geschickt. Man munkelt, Dakos habe ein besonders lukratives Geschäft mit den Skythen abgeschlossen, das er feiern möchte.“

Plötzlich sah sie ihn ernst an: „Apropos Skythen. Der heutige Vorfall sollte dir eine echte Lehre gewesen sein, mein fremder Freund aus dem fernen Athen! Stell dich bloß nicht in den Weg dieser Wilden, wenn sie auf ihren Pferden sitzen. Sie mögen ja die Steppen beherrschen und auch für viele von uns hier gute Handelspartner sein, wovon wir letztlich alle profitieren, Hermes sei Dank. Aber sie sind und bleiben doch ungezügelte Barbaren. Mit eigenen Gesetzen und eigenen, sehr merkwürdigen Moralvorstellungen, die so gar nichts mit unserer zivilisierten Kultur gemein haben.“

Mit diesen Worten wandte Mike sich unvermittelt ab und ging auf das Haus zu, in dem sich offenbar bereits eine größere Festgemeinschaft eingefunden hatte. Zumindest stieg der Lärmpegel mit jedem weiteren Schritt deutlich an, als Lysias ihr unaufgefordert und ein wenig zögernd folgte. Etwas an dieser kurzen Unterhaltung mit Mike hatte ihn gestört, hatte ihn beunruhigt, ohne dass er sagen konnte, was ihn eigentlich genau verunsicherte. Da war es wieder, dieses komische Gefühl, das er bereits am Hafen verspürt hatte und das sich wie ein feuchter Nebel auf sein Gemüt legte. Es war wie ein Schatten, der lauernd auf seine Gelegenheit wartete und der sich lange in seinem ganzen Schrecken nicht zu erkennen gab. Und warum sprach Mike eigentlich von ihren Kunden? Als Frau war sie sicherlich nicht im Kaufmannsgewerbe tätig, auch wenn Dakos sie zu seinem Fest eingeladen hatte. Nicht einmal hier in der Provinz, am Rande der griechischen Welt, war so etwas möglich. Eigentlich gab es daher nur eine Situation, in der eine gebildete und zugleich bildschöne Frau von ihren „Kunden“ sprechen konnte. Obwohl ihm diese Vorstellung missfiel: Mike war ganz offensichtlich eine Hetäre, die berufsmäßig ihre käufliche Liebe anbot.

Dabei war das Hetärentum in Griechenland ein durchaus geachtetes und sozial anerkanntes Gewerbe. Einige Hetären hatten es sogar zu großer Berühmtheit und beachtlichem Reichtum gebracht. Doch Lysias selbst konnte in seinem bisherigen Leben noch keine eigenen Erfahrungen in dieser Richtung vorweisen, so dass es ihm trotz allem zumindest ein wenig anrüchig erschien.

Noch bevor er sich weiter darüber Gedanken machen konnte, standen sie bereits vor dem Haus des Dakos und wurden, nachdem sie an der großen Holztür geklopft hatten, auch unverzüglich hineingelassen. Nun galt es, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen, ermahnte sich Lysias. Kein Blick mehr nach dieser Frau! Der Zeitpunkt war gekommen, seine in den letzten Monaten so intensiv einstudierte Rolle zu spielen. Und das diesmal bitte schön besser, als es ihm an Bord der Argo gelungen war! Nun begann der Geheimauftrag, wegen dem er überhaupt die ganzen Strapazen auf sich genommen hatte. Stolz, Aufregung und gespannte Erwartung machten sich in ihm breit.

Lysias betrat leichtfüßig das Haus – und veränderte damit den Lauf seines restlichen Lebens. Wäre er sich der Tragweite der kommenden Ereignisse bewusst gewesen, er wäre Mike niemals über diese Türschwelle gefolgt.

Lysias

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