Читать книгу Lysias - Jochen Fornasier - Страница 15

Der Disput, Pantikapaion, April 439 v. Chr.

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„Ich bin kein Mitarbeiter von Sanon, dieses Emporkömmlings aus dem Geschlecht der Archaianaktiden“, sagte Spartokos ein wenig zu gelassen für Lysias’ Geschmack, wobei er sich aber zugleich hektisch umsah, ob sich der Besagte möglicherweise gerade ebenfalls im Andron aufhielt.

„Seine sogenannte Macht basiert auf einem Ereignis, das sich vor Jahrzehnten zugetragen hat und über das es zudem die unterschiedlichsten Erzählungen gibt.“ Er sah Lysias direkt in die Augen: „Das wäre in etwa so, als ob eurer Perikles nur deshalb das Sagen in Athen hätte, weil er der Sohn oder meinetwegen auch der Enkel eines der siegreichen Befehlshaber während der Perserkriege ist.“

Lysias verschluckte sich fast an seinem Wein, mit dem er sich im Laufe des Abends mangels Alternativen immer stärker angefreundet hatte. Bei allen Göttern, woher wusste dieser Spartokos denn etwas über die Geschichte und die aktuelle Politik seiner Heimatstadt? Mit einem Mal wurde ihm klar, dass Spartokos zwar alles andere als ein guter Redner war, doch dumm schien er nicht zu sein, trotz des ersten Eindrucks, den er von ihm hatte. Er musste hier offenbar doch ein wenig mehr Vorsicht walten lassen, wenn er seinen erhofften Spaß bei diesem Disput haben wollte.

In seinen Gedanken ging er nochmals in Sekundenschnelle den bisherigen Wortwechsel durch und stellte lakonisch fest, dass er bislang eigentlich noch keine brauchbaren Informationen von seinem Gegenüber in Erfahrung gebracht hatte. Spartokos selbst hatte außer seinem Namen, den Lysias ja bereits vorher schon kannte, eigentlich nur gesagt, was er nicht ist. Sicher, mittlerweile war ihm wieder eingefallen, wen er da vor sich hatte, zumindest in der Theorie. Spätestens als Spartokos den Namen Perikles erwähnte, hatte er endgültig Gewissheit erlangt. Doch hatte er seine Informationen eben gerade nicht hier vor Ort erhalten, sondern zehrte von seinen Erinnerungen aus einer anderen Welt. Wie war das noch gewesen? Was hatte man ihm während seines Aufenthaltes in Perikles’ Haus einem stetigen Wasserfall gleich unentwegt eingebläut? Sei auf der Hut, hatte man ihm gesagt. Obwohl das Geschlecht der Archaianaktiden einigermaßen stabil die aktuellen Tagesgeschäfte bestimmte, gärte es den Gerüchten nach unter der Oberfläche gewaltig. Ein gewisser Spartokos agitiere sehr geschickt im Hintergrund und warte nur auf eine Gelegenheit, selbst an die Macht zu gelangen. Man munkelte, dass er sogar zu einem gewaltsamen Umsturz bereit sei, sobald seine Anhängerschar groß genug wäre. Finde so viel wie möglich über ihn heraus, hieß es. Bringe in Erfahrung, ob er Athen freundschaftlich oder eher feindlich gegenübersteht. Aber mische dich im Namen der Götter nicht in die inneren Angelegenheiten der Stadt ein! Bereite im Hintergrund alles vor, aber überlass die aktive Rolle uns!

Wie es schien, war dies der Moment, wo er mit eben jenem Auftrag beginnen konnte. Die Moiren selbst, die Schicksalsgöttinnen, denen niemand entkam, hatten es offenbar für sinnvoll erachtet, dass er gleich am ersten Abend in Pantikapaion mit Spartokos zusammentreffen sollte. Eine Chance, die man nutzen sollte, ohne allerdings dabei heute Nacht auf seinen Spaß verzichten zu müssen.

„Wenn du kein Mitglied der derzeitigen Regierung in dieser Stadt bist, lieber Spartokos, wer bitte bist du dann und in welchen wirtschaftlichen oder organisatorischen Belangen darf ich dich zukünftig bemühen?“ Erneut zeigte Lysias ein beinahe schon unschuldiges Lächeln, als er sich wieder direkt an Spartokos wandte.

„Ich stamme aus einem alteingesessenen, angesehenen Geschlecht, dessen Wurzeln im ruhmreichen Thrakien liegen, dort, wo König Sitalkes aus dem mächtigen Odrysengeschlecht seit kurzem alle Fäden in der Hand hält. Er und seine Vorgänger haben dort tatsächlich das geschafft, wovor andere Weichlinge hierzulande zurückschrecken.“

Mit stolzgeschwellter Brust saß Spartokos auf seiner Kline und ignorierte für einen kurzen Moment sein gesamtes Umfeld, während sein Blick ins Leere zu gehen schien. Lysias verstand sofort. Diesen Blick kannte er zur Genüge, hatte ihn schon häufig bei seinen Vorgesetzten in Athen gesehen, die unverhohlen von einer Glanzkarriere als oberstem Befehlshaber Griechenlands schwärmten. Hier in Dakos’ Haus saß ihm nun ein Mann gegenüber, der noch größere Ambitionen verfolgte, indem er offenbar von einem mächtigen Reich träumte – unter seiner Führung, versteht sich.

„Ich bin einer der führenden Händler dieser Stadt, Lysias. Da meine Familie aber auch sonst sehr reich ist, kann ich es mir zudem leisten, mich sehr ausgiebig um das Wohlergehen unserer Stadt zu kümmern und mich dabei ganz den Errungenschaften unserer eigenen Kultur zu widmen.“

In den nächsten Minuten hielt Spartokos einen Monolog und ließ sich dabei von niemandem unterbrechen. Er sprach vom Entwicklungspotential der Stadt, den vertanen Chancen, gegenüber den umliegenden Barbaren und vor allem den Skythen selbstbewusster aufzutreten, redete von Kampfbündnissen und vereinigten Machtstrukturen aller griechischer Städte am Bosporos und entwickelte die Vision eines Territorialreiches, das schon bald Wirklichkeit werden könne. Während Spartokos auf nervtötende Weise immer weiter von einer besseren Zukunft schwadronierte, beobachtete Lysias die übrigen Anwesenden im Andron. Die meisten von ihnen schienen diesen nicht enden wollenden Vortrag schon mehr als einmal gehört zu haben. Sie wendeten sich wieder ihren Gesprächen zu, ohne Spartokos noch weiter ernsthaft zu beachten.

Doch da waren auch andere Gäste, die ganz offensichtlich mit ihm gleicher Meinung waren und seinen Ausführungen ein wenig verstohlen, aber dafür umso aufmerksamer lauschten. Und dabei handelte es sich nicht nur um seine engeren Parteigänger! Spartokos’ Saat schien also zumindest teilweise auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein, schien langsam, aber stetig aufzugehen, so viel war sicher. Allein die Tatsache, dass niemand den Raum verließ oder Spartokos erfolgreich das Wort abschnitt, war ein deutliches Anzeichen für eine breiter werdende Akzeptanz seiner Ideen.

Lysias sah zu Mike hinüber, die sich ein wenig von Spartokos abgewandt hatte, aber offenbar dennoch seine Ausführungen sehr aufmerksam verfolgte. Und urplötzlich verstand er, erkannte, was ihm da die ganze Zeit im Kopf herumspukte, ohne einen konkreten Gedanken zu formen. Nun wusste er endlich, was ihn an der Atmosphäre im Hafenviertel gestört hatte und warum ihm das erste Gespräch mit Mike nach dem Beinaheunfall auf dem Marktplatz so seltsam vorgekommen war. Was hatte sie noch gesagt? Die Skythen seien letztlich bloß Barbaren mit merkwürdigen Gesetzen und Moralvorstellungen? Das klang vom Wortlaut her wie ein kleiner Auszug aus all dem Unfug, den er sich hier gerade anhören musste. Mike war eine Anhängerin des Spartokos! Nicht nur seine Gespielin für angenehme Stunden, sondern tatsächlich eine Befürworterin seiner Ansichten! Und dann diese seltsam angespannte Atmosphäre im Hafen mit all dem Stimmengewirr aus den Lokalen. Die politische Situation in Pantikapaion war offensichtlich wesentlich prekärer, als Lysias nach all den Gesprächen heute Abend zunächst vermutet hatte. Alle Würdenträger, sein Gastgeber Dakos mit eingeschlossen, hatten ihm eine heile, nahezu perfekte Welt vorgegaukelt. Doch diese heile Welt erhielt in diesem Moment tiefe Risse, und das trotz all des Weines, den er heute zu sich genommen hatte.

Der von Perikles und seinen Mitverschwörern befürchtete Umsturz stand zwar offensichtlich noch nicht unmittelbar bevor, und ob er gewaltsam vonstattengehen würde oder nicht, das konnte man auch noch nicht sagen. Doch Veränderung lag in der Luft wie ein Geruch, der selbst den wohlriechenden Duft des Weines überlagerte. Jemand, der ihn tagtäglich einatmete, nahm ihn vielleicht gar nicht mehr wirklich wahr. Doch er selbst war erst wenige Stunden in Pantikapaion. Für ihn war alles noch neu und sehr lebendig, vielleicht sogar lebendiger, als ihm lieb sein konnte.

In diesem Moment schoss ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf, der ihn frohlocken ließ und zugleich ungemein amüsierte. Hier wurde ihm der Schlüssel zur Eröffnung seiner Mission ja förmlich auf einem silbernen Tablett serviert. Wenn es ihm jetzt gelang, über die zwar interessanten, aber belanglosen Gespräche an diesem Abend hinaus das Wohlwollen und die Aufmerksamkeit der derzeitigen Führungsschicht auf sich zu ziehen, dann wäre er seinem eigentlichen Ziel einen enormen Schritt näher gekommen. Besser noch: Sanon und das Geschlecht der Archaianaktiden waren offensichtlich angeschlagen, standen aber zumindest momentan noch halbwegs fest am Ruder. Wenn man ihnen nun die Vorzüge besonderer Handelsabkommen mit Athen schmackhaft machen könnte, dann schlug man möglicherweise zwei Fliegen mit einer Klappe. Wenn man Sanon und seine Gefolgsleute in ihrer weiteren Handlungsfähigkeit stärkte, indem man ihnen die ideelle und materielle Unterstützung Athens in Aussicht stellte, bekam man sicherlich einen verlässlichen und sehr entgegenkommenden Handelspartner. Vielleicht gelang es Lysias ja sogar, den Weg für einen Beitritt der Stadt zum Seebund vorzubereiten.

Für einen Moment entstand vor seinem geistigen Auge eine strahlende Zukunft: Perikles trifft in Pantikapaion ein, wird stürmisch empfangen und erhält nicht nur die gewünschten Konditionen für den Getreidehandel, sondern auch die Bitte um einen Seebundbeitritt. Und wem wäre dieser riesige, dieser unglaubliche Erfolg zu verdanken? Ihm, Lysias, dem hochdekorierten Offizier des attischen Heeres, der sich zukünftig überhaupt keine Sorgen mehr über seinen weiteren beruflichen und gesellschaftlichen Weg machen müsste. Was für eine wunderbare Vorstellung!

Lysias kehrte mit seinen Gedanken zurück in die Gegenwart. Man hatte ihm aufgetragen, sich nicht aktiv einzumischen. Alles klar. Doch so eine geniale Möglichkeit konnte man bei aller umsichtigen Planung ja auch nicht vorhersehen. Hier war jetzt spontanes Handeln gefragt, um diesen Vorteil für sich zu nutzen. Auch schloss diese Weisung aus Athen ja wohl kaum ein, diesem Möchtegern-Herrscher mit seinen Großmachtphantasien zumindest eine kleine verbale Lektion zu erteilen, völlig losgelöst von jeder Politik. Immerhin war dies eine ausgelassene, seit Stunden andauernde Feier mit viel Alkoholkonsum, da konnte man einem so etwas doch nicht übelnehmen.

Lysias nahm einen weiteren, kräftigeren Schluck aus seiner Trinkschale. „Halt ein, Spartokos, halt ein!“, rief er laut in den Raum, womit er erneut die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Glaubst du nicht auch, dass du genug über Politik gesprochen hast? Mike sitzt seit über einer Stunde direkt neben dir, und du hast sie nicht einmal angesehen. Wäre ich an deiner Stelle, ich hätte ihr sanft über die Schenkel gestreichelt, hätte ihren Busen liebkost und mich anschließend unter irgendeinem albernen Vorwand aus dem Zimmer geschlichen, nur um mit ihr das Nachtlager zu teilen!“

Er stand auf und sah, wie Spartokos unvermittelt verstummte, während im die Zornesröte ins Gesicht stieg. So hatte man ihn offenbar bislang noch nicht bei seinen Reden unterbrochen, was hier und da im Andron auch ein leises, verstohlenes Lachen hervorbrachte. Gut so!

„Was muss dieses göttergleiche Geschöpf denn nur von dir denken? Dass dir deine Machtphantasien, die, wie du zugeben musst, doch sehr unrealistisch klingen, wichtiger sind als eine Nacht in ihren Armen?“

Lysias ging weiter in die Raummitte und stand nun direkt auf dem Amazonenmosaik. Als er wie beiläufig versuchte, mit einem Blick nach unten weitere Details zu erkennen, merkte er zu seinem Leidwesen, dass er mindestens eine Schale Wein zu viel getrunken hatte. Ha, zechen auf skythische Art, was für ein Unsinn!

Lysias richtete erneut den Blick auf seinen Kontrahenten, sah aber gerade noch im Augenwinkel, dass Sanon direkt in der Türöffnung stand. Wie lange er schon da war, wusste Lysias nicht. Das war aber auch nicht wichtig, Hauptsache, er war überhaupt da. Perfekt!, dachte er. Besser konnte es hier ja gar nicht laufen.

„Ich bin ein Kaufmann aus Athen, Spartokos, und gerade erst in eurer schönen und berühmten Stadt angekommen. Ich kenne daher eure Gepflogenheiten nicht, vor allem was die politische Streitkultur betrifft.“ Lysias setzte sein breitestes Lächeln auf und fuhr fort: „Sei mir daher nicht böse, Spartokos, wenn ich mich nicht weiter für deine Zukunftsphantasien interessiere. Ich bin nach Pantikapaion gekommen, um für meinen Vater die realen Möglichkeiten von Handelsabkommen auszuloten. Handelsabkommen, von denen nebenbei bemerkt beide Seiten immens profitieren könnten.“

Bei diesen Worten ging das von Lysias erhoffte Raunen durch den Andron, und er holte zum verbalen Todesstoß aus. „Und da wir in Athen immer sagen, das nur dem Tüchtigen das Glück hold ist, werde ich mich deshalb an den hart arbeitenden Sanon aus dem Geschlecht der Archaianaktiden halten, den rechtmäßigen Machthaber in dieser Stadt. Doch wie versprochen werde ich mich natürlich auch an deinen Namen erinnern, Spartokos, und zwar immer dann, wenn mir die zarte und liebreizende Mike in den Sinn kommt.“

Bei diesen letzten Worten war Spartokos aufgesprungen und sah Lysias nun voller Hass an, was dieser jedoch gar nicht mehr bemerkte, da er sich am Gelächter der Umstehenden labte.

„Wenn du mit dem Kapitän eines untergehenden Schiffes Geschäfte machen möchtest, so lass dich nicht aufhalten. Doch solltest du mir irgendwie in die Quere kommen, sei es auf politischer Ebene oder auch im privaten Bereich“, Spartokos sah Mike eindringlich an, „so bete zu den Göttern, dass wir uns niemals wieder persönlich treffen.“

Mit einem kurzen Kopfnicken zu seinen Gefährten hin verließ er das Andron, ohne eine Antwort abzuwarten. Lysias rief ihm zwar noch gut gelaunt hinterher, er sei ein schlechter Verlierer in diesem kleinen Wortgefecht und er möge doch wenigstens einen weiteren Wein mit ihm trinken. Doch Spartokos reagierte nicht mehr auf diese Einladung und ging, ohne sich von Dakos als Gastgeber offiziell zu verabschieden, aus dem Haus.

Lysias

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