Читать книгу Der Nationalsozialismus und die Antike - Johann Chapoutot - Страница 32
„Wozu die ganze Welt ständig daran erinnern, dass wir
keine Vergangenheit haben?“ Ein kultureller Minderwertigkeitskomplex
gegenüber dem Rom Mussolinis
ОглавлениеDa die überwältigende kulturelle Überlegenheit der griechisch-lateinischen Kultur für ihn unbezweifelbar feststand, wandte sich Hitler gegen die reaktionären Intentionen der SS und ihres Führers, der germanische Traditionen, Sitten und Kulte wiedereinführen wollte. Diese seien von vergleichbarem kulturellen Wert wie die Fetische der Maoris. Obendrein sei diese Mythologie auf natürlichem Weg untergegangen, weil sie zum Sterben bestimmt war:
„Es erschiene mir unsäglich töricht, einen Wotanskult wieder erstehen zu lassen. Unsere alte Götter-Mythologie war überholt, war nicht mehr lebensfähig, als das Christentum kam. Es verschwindet immer nur, was reif ist unterzugehen! […] Es ist nun aber auch nicht wünschenswert, daß die ganze Menschheit verblödet.“132
Hitler verurteilte in aller Schärfe die Ideologen, die ganz auf das Wiederaufleben des alten Germanentums setzten. Ein Beispiel dafür führt Hermann Rauschning an:
„Diese Professoren und Dunkelmänner, die ihre nordischen Religionen stiften, verderben mir nur das Ganze. Warum ich es dann dulde? Sie helfen zersetzen, das ist es, was wir zur Zeit allein machen können. Sie stiften Unruhe. Und alle Unruhe ist schöpferisch. An sich hat das Getue keinen Wert.“133
Nicht besser erging es der Germanen-Obsession der SS und allen Fanatikern des Wikingerhelms mit seinen Hörnern.
Albert Speer berichtet in seinem Memoiren von einer Äußerung, in der Hitler sich unmittelbar und mit Namensnennung gegen Himmler wendet, dessen Deutschtümelei ihm erheblich auf die Nerven ging. Für Hitler bewiesen die archäologischen Forschungen und Untersuchungen der SS nur eines, nämlich, dass die Deutschen so lange keine Vergangenheit vorweisen können, die diesen Namen verdient, wie sie sich lediglich auf das Germanentum beziehen. Es ist unerlässlich, das griechisch-römische Erbe zu beanspruchen und sich anzueignen, wenn Deutschland sich in eine lange und ruhmreiche Genealogie einschreiben will:
„,Warum stoßen wir die ganze Welt darauf, daß wir keine Vergangenheit haben? Nicht genug, daß die Römer schon große Bauten errichteten, als unsere Vorfahren noch in Lehmhütten hausten, fängt Himmler nun an, diese Lehmdörfer auszugraben und gerät in Begeisterung über jeden Tonscherben und jede Steinaxt, die er findet. Wir beweisen damit nur, daß wir noch mit Steinbeilen warfen und um offene Feuerstellen hockten, als sich Griechenland und Rom schon auf höchster Kulturstufe befanden. Wir hätten eigentlich allen Grund, über diese Vergangenheit stille zu sein. Statt dessen hängt Himmler das alles an die große Glocke. Wie müssen die heutigen Römer verächtlich über diese Enthüllungen lachen.‘“134
Eine dermaßen von Barbarei und Rückständigkeit gekennzeichnete Vergangenheit auszugraben, sei eher eine Erniedrigung als eine Erhöhung Deutschlands. Die Ziele und Forschungen der SS seien demzufolge dümmlich und völlig kontraproduktiv. Jegliche weitere Entdeckung einer Tonscherbe sei eine Ohrfeige mehr, die Deutschland aus der Höhe des Parthenons oder des Kolosseums verpasst bekomme.
Als bedingungsloser Anhänger des römischen Altertums war Hitler besonders empfänglich für jeglichen Vergleich mit Italien. Das galt umso mehr, als er einen gewissen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Mussolini, seinen Meister in Sachen Faschismus, verspürte: Dieser hatte 1922 erfolgreich seinen Marsch auf Rom durchgeführt, während er, Hitler, 1923 mit seinem Putsch gescheitert war und zehn weitere Jahre warten musste, bis er an die Macht kam. Das Porträt des Duce schmückte das Führerbüro in München. Der erste Besuch des nationalsozialistischen Schülers beim Faschismus-Meister im Juni 1934 in Venedig, in Zusammenhang mit den Spannungen um Österreich und den Brenner, endete für Hitler in einer Image-Katastrophe.
Bevor er sich ab 1936 ins Schlepptau des „Dritten Reichs“ begab, spielte Mussolini gerne den Mentor, der oft daran erinnerte, was der Nationalsozialismus und Deutschland dem Faschismus und Rom schuldeten. Man denke beispielsweise an die Rede, die er am 6. September 1934 in Bari hielt, wobei er den Rassismus der Nationalsozialisten und den Begriff Herrenrasse beißend unbarmherzig geißelte:
„Angesichts unserer dreitausendjährigen Geschichte können wir eine Lehre, die von jenseits der Alpen zu uns dringt, in aller Souveränität und voller Mitleid betrachten. Deren Vertreter sind die Nachkommen eines Volkes, das zu einer Zeit, in der in Rom Cäsar, Vergil und Augustus wirkten, noch nicht einmal über die Schrift verfügte und daher keinerlei Zeugnisse seines eigenen Lebens überliefern konnte.“135
Mit der gleichen Verachtung überzog er die architektonischen Leistungen des „Dritten Reichs“, die er herablassend betrachtete,136 was Hitler ihm später heimzahlen sollte, als er den römischen Stadtteil EUR (errichtet im Hinblick auf die für 1942 geplante Esposizione Universale di Roma) als „uninteressante und ausdrucksschwache Kopie“137 seiner eigenen Monumentalarchitektur bezeichnete.
Hitler im Kolosseum beim Staatsbesuch in Rom am 6. Mai 1938
Ein Ursprungsdiskurs der nordischen Rasse konnte sich also nicht damit begnügen, sich nur auf das Germanentum zu beziehen. Er wäre sonst Gefahr gelaufen, seine Aufgabe der Verherrlichung der germanischen und deutschen Identität zu verfehlen. Die nationalsozialistische Geschichtsbetrachtung konnte sich sehr wohl auf ein ruhmreiches Mittelalter beziehen und auf eine Modernität, die Friedrich II. ihren Adelstitel verdankt; dem germanischen Altertum mangelte es aber an Kultur und Strahlkraft. Es war also von vitalem Interesse, die nordische Identität dadurch zu preisen, dass man sie mit dem Prestige der antiken Kulturen, des alten Roms und Griechenlands, ausstattete.
Bei Hitler ist zu beobachten, in welch hohem Maß er gegenüber dem Duce diesen „historischen Minderwertigkeitskomplex“138 an den Tag legte, der den Deutschen zu eigen ist, die sich ihrer frühen Vorvergangenheit schämen, sobald sie diese mit der griechisch-römischen Antike vergleichen. Dieser Komplex ist offensichtlich, er wurde ständig wiedergekäut, zum Zweck der Erinnerung, aber auch als Herausforderung. Hitler sprach ihn aus, nicht aus rassistischem Masochismus, sondern um zur Rivalität anzustacheln: Er wollte diesen Komplex überwinden, zum einen in räumlicher Hinsicht mit Hilfe einer neoklassischen Architektur von gigantisch-imperialen Dimensionen und durch Errichtung eines Reichs, das es mit seinem römischen Vorläufer aufnehmen können sollte. Zum anderen in zeitlicher Hinsicht, indem er die indogermanische Rasse mit ruhmreichen Vorfahren versah – jenen Eroberern aus dem Norden und Schöpfern jeglicher Kultur, die es vermochten, den Stolz ihrer Nachkommen zu begründen und zu bestärken.
Hitler in der Villa Borghese beim Staatsbesuch in Rom am 6. Mai 1938
Somit wird deutlich, wie eng die Einbindung der griechischen und römischen Antike in die Geschichte der indogermanischen Rasse verbunden war mit dem Willen, ebendiese Rasse dadurch zu rehabilitieren, dass man sie mit allen Tugenden der Erbauer des Kolosseums schmückte, wie das bei dem erwähnten ideologischen Schulungsheft der SS der Fall ist. Der Text erinnert daran, dass man die Germanen zu Unrecht als zurückgeblieben dargestellt hat:
„Heute aber wissen wir: alle entscheidenden kulturellen Fortschritte und Entwicklungen sind von unserem nordischen Kernraum ausgegangen. Darüber hinaus sind auch die Vorfahren der Griechen und Römer, die einst im Mittelmeerraum gewaltige Kulturen und Reiche errichteten, aus unserem nordischen Kernraum abgewandert. Dem Satz ‚Aus dem Süden stammt das Licht‘ stellen wir also den Satz gegenüber: der Norden ist die Wiege der arischen Menschheit, die das Antlitz dieser Erde gestaltete.“139