Читать книгу Homilien über den ersten Brief an die Korinther - Johannes Chrysostomos - Страница 7
Zweite Homilie.
ОглавлениеI.
4. 5. Dank sage ich meinem Gotte immerdar euretwegen ob der Gnade Gottes, welche euch gegeben worden in Christus Jesus, weil ihr in Allem reich wurdet in ihm.
I. Was Paulus Andere zu thun ermahnt mit den Worten: „In Danksagung bringet euer Anliegen vor Gott,“23 Das thut er auch selbst und lehrt uns, stets mit der gleichen Rede zu beginnen und vor Allem Gott zu danken. Denn Nichts ist Gott so wohlgefällig, als dankbar sein und sowohl für sich als für Andere Dank sagen. Darum stellt er Dieses fast bei jedem Briefe an die Spitze; hier aber war es nothwendiger als in anderen Briefen. Denn wer dankt, thut es wegen empfangener Wohlthaten, er dankt für eine Gnade. Gnade ist aber nicht Schuldigkeit, nicht Lohn, nicht Erkenntlichkeit. Das gilt zwar nothwendig allerwärts, ganz vorzugsweise aber von den Korinthern, da sie Denjenigen, welche in der Kirche Spaltung stifteten, Beifall zollten. — „Meinem Gotte.“ Aus Übermaß von Liebe ergreift er, was gemeinschaftlich ist, und macht es zu seinem Eigenthume. So pflegen auch die Propheten immer zu sprechen: „Gott, mein Gott!“ Und so eifert er sie an, ein Gleiches zu thun; denn wer so spricht, reißt sich von allen irdischen Dingen los und er schwingt sich zu Demjenigen, den er mit großer Innigkeit anruft. So kann nämlich mit Recht Derjenige sprechen, der von dem Irdischen sich stets zu Gott erhebt, ihn allem Andern überall vorzieht und ihm unablässig Dank sagt, nicht nur für die schon empfangene Gnade, sondern ihn auch lobpreist für jegliches Gute, das ihm etwa später zu Theil wird. Daher sagt er nicht einfach: „ich danke,“ sondern: ich danke „unablässig euretwegen“, wodurch er sie belehrt, stets Dank zu sagen, und zwar keinem Andern, als nur Gott allein.
„Für die Gnade Gottes.“ Siehst du, wie er sie überall zurechtweiset? Denn wo Gnade ist, da ist kein Verdienst, und wo Verdienst ist, da ist nicht mehr Gnade. Wenn es nun Gnade ist, warum bildet ihr euch viel ein? Warum seid ihr aufgeblasen? „Welche euch gegeben worden.“ Und durch wen ist sie gegeben worden? Durch mich oder einen andern Apostel? Keineswegs, sondern „durch Jesum Christum“: denn Das bedeuten die Worte: „in Christo Jesu.“ Du siehst hier, daß das Wörtchen „in“ oft anstatt „durch“ steht; es bedeutet also ebenso viel als „durch“. — „Weil ihr in Allem reich wurdet in ihm.“ Durch wen? Wieder heißt es: „durch ihn“ ( in ihm ), und nicht einfach: reich seid ihr geworden, sondern: „reich in Allem.“ Da es also Reichthum ist und Gottes Reichthum und Reichthum in Allem und durch den Eingebornen, so erwäge, welch’ unaussprechlicher Schatz! „In jeglichem Worte24* und jeglicher Erkenntniß“* — im Worte, nicht in profaner Rede, sondern im Worte Gottes; denn es gibt eine Erkenntniß ohne Beredsamkeit, und eine Erkenntniß mit der Gabe des Ausdruckes. Es gibt nämlich Viele, die zwar Kenntniß, aber keine Geschicklichkeit zum Vortrage besitzen, wie die Unstudierten, welche Das, was sie im Sinne haben, nicht klar ausdrücken können. Ihr aber seid nicht also beschaffen, will er sagen; sondern ihr seid im Stande, zu verstehen und euch auszudrücken.
6. Wie denn das Zeugniß Christi befestiget worden in euch.
Unter dem Namen des Lobes und der Danksagung ertheilt er ihnen eine ernstliche Zurechtweisung. Denn nicht durch irdische Weisheit, sagt er, nicht durch weltliche Lehre, sondern durch die Gnade, durch den Reichthum Gottes und durch das Wort, das er euch mitgetheilt hat, konntet ihr die Lehre der Wahrheit erkennen, und das Zeugniß des Herrn d. h. die Predigt konnte in euch Wurzel fassen. Denn ihr habt viele Zeichen, viele Wunder und eine unaussprechliche Gnade empfangen zur Annahme der Lehre. Seid ihr nun durch Zeichen und Gnade gekräftiget worden, warum wanket ihr? Diese Worte enthalten Tadel und zuvorkommende Schonung.
7. So daß es euch an keiner Gnadengabe mangelt.
Hier entsteht die schwierige Frage: wie Diejenigen, welche in jeglichem Worte reich waren, so daß es ihnen an keiner Gnadengabe mangelte, fleischliche Menschen sind. Denn waren sie schon im Anfange so begabt, so müssen sie es jetzt um so mehr sein. Warum nennt er sie also fleischlich? Er sagt nämlich: „Ich konnte mit euch nicht wie mit geistigen Menschen reden, sondern wie mit fleischlichen.“25 Was soll man dazu sagen? Daß sie Anfangs den Glauben angenommen und mannigfache Gnadengaben empfangen haben (sie waren sogar eifersüchtig darauf), daß sie aber später nachlässiger geworden seien. Oder wenn Dieß nicht der Fall ist, so muß man annehmen, daß weder Dieses noch Jenes für Alle gesagt sei, sondern das Eine für Diejenigen, welche Tadel, das Andere für Solche, welche Lob verdienen. Denn daß sie noch die Wundergaben besaßen, ersieht man aus seinen Worten: „Hat Jemand von euch einen Lobgesang (Psalm), eine Offenbarung, einen Vortrag (in fremden Sprachen), eine Auslegung, so geschehe Alles zur Erbauung;“ und: „Weissagende aber mögen je zwei oder drei reden.“26 Man könnte auch noch etwas Anderes sagen, nämlich, daß er hier so geredet habe, wie es bei uns Sitte ist, anstatt des größern Theiles das Ganze zu nennen. Ferners glaube ich, daß er auch auf sich selbst anspielte, daß nämlich auch er Wunder gewirkt habe, wie er denn im zweiten Briefe zu ihnen spricht: „Die Beweise des Apostelamtes sind unter euch abgelegt worden durch Erduldung von Leiden aller Art;“27 und wieder: „Worin standet ihr den übrigen Kirchen wohl nach?“28 Entweder erinnert er sie, wie ich sagte, an seine Wunder, oder er spricht zu den dort befindlichen Frommen. Denn es gab unter ihnen viele Heilige, die sich dem Dienste der Heiligen widmeten und die Erstlinge in Achaia waren, wie er am Ende (des Briefes) zu verstehen gibt.29 — Mögen übrigens die Lobsprüche nicht so ganz verdient sein, so werden sie doch klug angewendet, indem sie die Herzen auf Dasjenige, was noch gesagt werden soll, vorbereiten. Denn wer gleich Anfangs Lästiges vorbringt, schrecket die Schwachen vom Anhören seiner weiteren Rede ab. Stehen die Zuhörer mit dem Redner auf gleicher Rangstufe, so werden sie unwillig; stehen sie aber tief unter ihm, so werden sie gekränkt. Damit nun Das nicht geschehe, beginnt er mit scheinbaren Lobsprüchen; denn das Lob galt nicht ihnen, sondern der Gnade Gottes. Daß sie nämlich Vergebung der Sünden erlangten und gerechtfertigt worden, war ein Geschenk von oben. Darum verweilt er auch bei dem Beweise der Liebe Gottes zu den Menschen, um ihre Krankheit desto leichter zu heilen. — „Indem ihr die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus erwartet.“ Was tobt ihr, sagt er, was empöret ihr euch, als ob Christus nicht gegenwärtig wäre? Allerdings ist er gegenwärtig, und der Tag seiner Ankunft ist vor der Thüre. Bewundere die Weisheit Pauli, wie er sie von den irdischen Dingen ablenkt und an jenes schreckliche Gericht erinnert und zeigt, daß man nicht nur gut anfangen, sondern auch gut enden müsse. Denn sowohl bei diesen Gnadengaben als auch bei andern Vorzügen soll man jenes Tages gedenken, und es bedarf großer Anstrengung, um zu dem Ziele zu gelangen.
II.
„Erscheinung" aber, sagt er, anzeigend, daß sie, wenn gleich nicht sichtbar vorhanden, doch jetzt schon vorhanden ist und einst sichtbar werden wird. Es braucht also Standhaftigkeit; denn darum habt ihr die Wundergabe erhalten, auf daß ihr standhaft bleibet.
8. Er wird euch bis an’s Ende auch standhaft erhalten, ohne daß ihr sträflich sein werdet.
Hier scheint er zwar ihnen zu schmeicheln, aber seine Worte entbehren jeglicher Schmeichelei; denn er versteht es, sie auch zu rügen, so z. B. wenn er spricht: „Zwar haben Einige die stolze Einbildung, als würde ich nicht zu euch kommen;“30 und wieder: „Was wollt ihr? Soll ich mit der Ruthe oder in Liebe und im Geiste der Milde zu euch kommen?“31 Und: „Fordert ihr einen Beweis des in mir redenden Christus?“32 Seine Worte enthalten einen verdeckten Tadel; denn durch die Worte: „Er wird standhaft erhalten“ und „unsträflich“ gibt er zu erkennen, daß sie noch wankten und sträflich seien. — Du aber betrachte, wie er sie fortwährend an den Namen Christi anschließt. Keines Menschen, keines Apostels, keines Lehrers erwähnt er, sondern immer des Geliebten, und sucht sie, da sie gleichsam von einem Rausche betäubt waren, wieder davon zu befreien. Denn in keinem andern Briefe erscheint so oft der Name Christi, hier aber oft und zwar in wenigen Versen, ja darin besteht fast der ganze Eingang desselben. Erwäge nur den Anfang: „Paulus, berufener Apostel Jesu Christi: an die GeHeiligten in Christo Jesu welche anrufen den Namen unseres Herrn Jesus Christus; Gnade euch und Friede von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus; Dank sage ich meinem Gotte ob der Gnade, welche euch gegeben worden in Christus Jesus; wie denn das Zeugniß Christi in euch befestiget worden; die ihr erwartet die Offenbarung unsers Herrn Jesus Christus, welcher euch auch festigen wird sonder Schuld am Tage der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.“
9. Getreu ist Gott, durch den ihr berufen worden zur Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn.
Siehst du, wie häusig der Name Christi vorkommt? Daraus ersehen wohl auch die Einfältigsten, daß Dieses nicht so geradehin und ohne Absicht geschieht, sondern daß Paulus durch die oftmalige Wiederholung dieses herrlichen Namens ihre Aufgeblasenheit niederschlagen und das krebsartige Übel vertilgen will.
„Getreu ist Gott, durch den ihr berufen worden zur Gemeinschaft seines Sohnes.“ Ha, wie Herrliches spricht er hier aus! Welch großes Geschenk stellt er ihnen vor Augen! Zur Gemeinschaft mit dem Eingebornen seid ihr berufen, und ihr schließt euch an Menschen an? Kann es etwas Erbärmlicheres geben? Und wie seid ihr berufen worden? Durch den Vater. Weil Paulus bei Erwähnung des Sohnes oft gefasst hatte: durch ihn und in ihm, so schreibt er Dieß dem Vater zu, damit sie denselben nicht für geringer halten sollten, nicht durch diesen oder jenen Menschen, sagt er, sondern durch den Vater seid ihr berufen; durch ihn seid ihr auch reich geworden. Und ihr seid berufen worden, nicht aus eigenem Antrieb gekommen. —Was heißt aber Das: „zur Gemeinschaft mit seinem Sohne?“ Höre, wie er Dasselbe anderswo deutlicher ausspricht: „Wenn wir dulden, werden wir auch mitherrschen; wenn wir mit ihm sterben, so werden wir mit ihm auch leben.“33 Weil er nun etwas Großes gesagt hatte, so führt er auch einen vollgültigen unwiderlegbaren Beweis an; denn er sagt: „Gott ist getreu“ d. h. wahrhaftig; ist er aber wahrhaftig, so wird er auch thun, was er versprochen hat: er hat aber versprochen, uns zu Mitgenossen des eingebornen Sohnes, zu machen; dazu hat er uns ja berufen; „denn unbereuet sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes.“34 Das setzt er aber hier absichtlich voraus, damit sie nach einer so harten Beschuldigung nicht verzagen sollten. Denn was Gott versprochen hat, wird ganz sicher geschehen, wenn wir nicht ganz verkehrt sind wie die Juden, welche die Güter, zu denen sie berufen waren, nicht annehmen wollten. Die Schuld lag also nicht an dem Rufenden, sondern an ihrer Undankbarkeit; denn er wollte geben, sie aber machten sich der Gabe verlustig, weil sie dieselbe nicht annehmen wollten. Hätte er sie zu mühseligen und beschwerlichen Dingen berufen, so wäre ihre Weigerung dennoch unverzeihlich gewesen, obgleich sie so die Schwierigkeit hätten vorschützen können. Da sie nun aber berufen worden sind zur Reinigung von den Sünden, Gerechtigkeit, Heiligung, Erlösung, zu Gnaden und Geschenken und bereitstebenden Gütern, die kein Auge gesehen, kein Obr gehört hat, und da Gott selber es ist, der sie ruft: welche Verzeihung sollten sie wohl verdienen, wenn sie nicht herbei eilen? Niemand gebe also Gott die Schuld; denn nicht der Rufende ist die Ursache des Unglaubens, sondern sie, die Widerspenstigen. — Aber er hätte sie, heißt es, auch gegen ihren Willen dazu nöthigen sollen. Mit nichten; denn er zwingt nicht und braucht nicht Gewalt. Wer schleppt wohl die Menschen, wenn er sie zu Ehrenstellen, zu Siegeskränzen, zu Gastmahlen und festlichen Versammlungen ladet, gebunden herbei? Gewiß Niemand; Das wäre ja eine Beschimpfung. Zur Hölle schickt Gott die Menschen wider ihren Willen, zum Himmel aber beruft er sie mit ihrer Einwilligung. In’s Feuer führt er sie gebunden und wehklagend, nicht also zur unaussprechlichen Seligkeit. Denn es wäre ja eine Erniedrigung dieser Güter, wenn sie nicht so beschaffen wären, daß man ihnen freiwillig entgegen eilte und sich dafür recht dankbar bezeigte.
III.
Aber warum, wirst du fragen, streben nicht Alle nach ihnen? Wegen ihrer eigenen Schwachheit. Und warum hebt Gott ihre Schwachheit nicht auf? Sage mir, warum und auf welche Weise sollte er dieselbe aufheben? Hat er nicht die Schöpfung vollbracht, welche seine Güte und Allmacht verkündet? „Die Himmel“, heißt es, „verkünden die Herrlichkeit Gottes.“35 Hat er nicht Propheten gesendet? Hat er nicht (die Juden) berufen und ausgezeichnet? Hat er nicht Wunder gewirkt? Hat er nicht ein natürliches und geschriebenes Gesetz gegeben? Hat er nicht seinen Sohn gesendet? Nicht die Apostel gesendet? Nicht Wunder gethan? Hat er nicht mit der Hölle gedroht? Hat er nicht den Himmel verheissen? Läßt er nicht täglich seine Sonne aufgehen? Ist nicht Alles, was er geboten, so thunlich und leicht, daß Viele durch die Kraft eigener Tugend sogar mehr leisten, als er geboten? „Was sollte ich meinem Weinberge thun, das ich nicht gethan habe?“36
Aber warum, sagst du, ließ er uns Kenntniß und Tugend nicht angeboren werden? Wer führt diese Sprache? Ein Heide oder ein Christ? Beide sprechen so, allein nicht aus einerlei Absicht: denn dem Einen ist es um die Kenntniß, dem Andern um den Wandel zu thun. Wir wollen also zuerst dem Unsrigen (dem Christen) antworten; denn die Auswärtigen gehen mich nicht so sehr an, als die eigenen Glieder. Was sagt also der Christ? Die Kenntniß der Tugend hätte uns angeboren werden sollen. Sie ist uns ja angeboren; denn hätte sie Gott nicht in uns gelegt, woher wüßten wir wohl, was wir thun und was wir nicht thun sollen? Woher denn die Gesetze und die Gerichte?
„Nicht die Kenntniß, sondern die Ausübung selber.“ Wofür solltest du aber belohnt werden, wenn Gott Alles thäte? Denn, sage mir, straft Gott dich und den Heiden, wenn ihr sündigt, auf gleiche Weise? Keineswegs; denn du hast wenigstens die Gewißheit der Erkenntniß. Wie nun, wenn Jemand behauptete, du würdest wegen der Erkenntniß dieselbe Belohnung empfangen wie der Heide, müßtest du darüber nicht unwillig werden? Ich denke wohl! Du würdest nämlich antworten, daß der Heide die Erkenntniß, die er aus sich selber finden konnte, nicht habe finden wollen. Wenn nun dieser behauptete, Gott hätte uns die Kenntniß anerschaffen sollen, würdest du ihn nicht verlachen und ihm antworten: Warum hast du sie nicht gesucht, warum nicht nachgeforscht, wie ich? Du würdest dich mit großer Freimüthigkeit erheben und sagen, es sei die höchste Thorheit, Gott zu beschuldigen, daß er uns die Kenntniß nicht anerschaffen habe. So redest du, weil es um deine Erkenntniß gut steht. Stände es um deinen Lebenswandel ebenso gut, so würdest du diese Frage nicht gestellt haben; weil du aber bezüglich der Tugend träge bist, so führst du dergleichen thörichte Reden. Warum sollte es denn auch nöthig sein, daß das Gute zwangsweise geschehe? Dann würden die unvernünftigen Thiere mit uns in der Tugend wetteifern, da ja einige derselben mässiger sind als wir.
Aber, sagst du, ich möchte doch lieber aus Nothwendigkeit tugendhaft sein und aller Belohnung entbehren, als lasterhaft durch freien Willen und so der Strafe und Züchtigung verfallen. Allein man ist ja nie gezwungen, tugendhaft zu sein. Weißt du nun nicht, was du zu thun habest, so zeig’ es uns an, und wir werden darauf die geziemende Antwort ertheilen. Weißt du aber, daß die Wollust sündhaft ist, warum fliehst du die Sünde nicht? Ich kann nicht, sagst du. Da stehen dir aber Andere gegenüber, die größere Tugenden ausgeübt haben, und diese werden dir kräftigst den Mund stopfen. Denn du lebst vielleicht, obwohl verheirathet, nicht keusch; ein Anderer hingegen bewahrt auch in ehelosem Stande seine Reinheit unbefleckt. Wie kannst du dich denn entschuldigen, wenn du nicht innerhalb der Schranken bleibst, während ein Anderer derselben gar nicht bedarf? Ja, sagst du, die Natur meines Körpers und die Neigung meines Willens sind nicht also beschaffen. Weil du nicht willst, nicht weil du nicht kannst: denn ich beweise dir, daß zur Tugend Alle fähig sind. Wenn nämlich Jemand Etwas nicht thun kann, so kann er es auch nicht in dringender Noth. Wenn er aber in dringender Noth Etwas thun kann und es nicht.thut, so handelt er ja nicht ohne freien Willen. Ich gebe ein Beispiel. Es ist ganz und gar unmöglich, mit einem schwerfälligen Körper in die Höbe zu fliegen und sich gen Himmel zu schwingen. Wie nun, wenn der Kaiser Dieses zu thun geböte und mit dem Tode drohete, indem er spräche: Diejenigen, welche nicht fliegen, lasse ich köpfen, verbrennen oder auf andere Weise bestrafen; würde da Jemand gehorchen? Mit nichten; denn Das ist gegen die Natur des Menschen. Wenn nun Das in Bezug auf die Keuschheit geschähe und der Befehl erginge, daß der Unzüchtige gestraft, verbannt, gegeißelt und durch unzählige Qualen gezüchtigt werden sollte; würden dann nicht Viele dem Befehle nachkommen? Nein, sagst du; denn es besteht ja wirklich ein Gesetz, welches den Ehebruch verbietet, und doch gehorchen nicht Alle; nicht weil die Furcht sie einschüchtert, sondern weil die Meisten hoffen, verborgen zu bleiben. Stände der Gesetzgeber und der Richter vor ihnen, wenn sie im Begriffe sind, der Wollust zu fröhnen, so vermöchte wohl die Furcht alle Lust zu verbannen. Ich will einen Zwang annehmen, der weniger hart ist; z. B. ich entführe einen Mann seiner geliebten Gattin, lasse ihn fesseln und einsperren: er wird es ertragen und es auch nicht allzu sehr empfinden. — Lasset uns also nicht sagen: Dieser ist von Natur gut, Jener von Natur böse; denn ist Jener von Natur gut, so kann er nicht böse werden; und ist Dieser von Natur böse, so kann er nicht gut werden. Nun sehen wir aber die plötzlichsten Umwandlungen, wie man von Diesem zu Jenem und von Jenem zu Diesem Übergeht. Und Das ersteht man nicht nur aus der Heiligen Schrift und zwar des neuen und alten Bundes, wie nämlich Zöllner zu Aposteln, Jünger zu Verräthern, Huren zu züchtigen Weibern werden, wie Mörder zu Ehren kommen, Magier Gott anbeten und Gottlose fromm werden: sondern täglich kann man viel Derartiges sehen. Wäre es nun den Menschen angeboren,37 so könnten sie sich nicht ändern. Da wir von Natur aus den Leiden unterworfen sind, so können wir es durch Anstrengung niemals dahin bringen, davon frei zu bleiben. Denn was von Natur einmal da ist, wird nie aufhören, an der Natur zu haften. Niemand verändert sich so, daß er früher schlief und jetzt nicht mehr schläft; Niemand geht von dem Zustand der Verweslichkeit in den der Unverweslickkeit über; Niemand bringt es dahin, daß er früher hungerte und jetzt davon frei ist. Darum sind auch Das keine Fehler, und wir machen einander darüber keine Vorwürfe. Niemand sagt zu seinem Nebenmenschen, den er beschimpfen will: Du Verweslicher! Du Leidender! sondern wir verklagen Diejenigen, die sich des Ehebruchs, der Hurerei und ähnlicher Verbrechen schuldig machen; Diese führen wir vor die Richter, welche sie zurechtweisen und strafen, in entgegengesetztem Falle aber ehren. Aus unserm Benehmen gegen Andere, aus unsern Erlebnissen vor Gericht; daraus, daß wir Gesetze geben und uns selbst verurtheilen, wenn uns auch Niemand verklagt; daraus, daß wir durch die Trägheit schlechter, durch die Furcht aber besser werden; und endlich daraus, daß wir Andere bei ihrem tugendhaften Wandel zu hoher Vollkommenheit gelangen sehen: — erhellet doch klar, daß es in unserer Macht steht, tugendhaft zu sein. Warum täuschen wir uns denn selbst mit kahlen Ausflüchten und mit Entschuldigungen, die nicht nur keine Verzeihung, sondern die härteste Strafe nach sich ziehen? Wir sollten vielmehr jenen furchtbaren Gerichtstag vor Augen haben und nach der Tugend streben, um nach einer kurzen Anstrengung die unvergängliche Krone zu erlangen. Denn jene Ausflüchte werden uns Nichts nützen, sondern die Mitknechte, welche die entgegengesetzten Tugenden geübt haben, welden alle Sünder verdammen, — der Mitleidige den Hartherzigen, der Gute den Bösen, der Bescheidene den Frechen, der Wohlwollende den Neidigen, der Weise den Thoren, der Emsige den Trägen, der Keusche den Unkeuschen. So wird Gott über uns das Urtheil fällen und uns zu beiden Seiten reihen, die Einen belohnen, die Andern strafen.
Möge Gott verhüten, daß auch nur Einer der Gegenwärtigen unter Diejenigen gezählt werde, denen Strafe und Schande zu Theil wird! Die Kronen und der Himmel werde ihr Antheil! Möge dieser uns allen zu Theil werden durch die Gnade und Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater und zugleich dem heiligen Geiste sei Ruhm, Herrschaft und Ehre jetzt und allezeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.