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Brot mit Bratenfett
ОглавлениеMit der durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen Notlage gewann der Alltag der Menschen jenseits von Hof und Elite an Schärfe. Berlin litt unter den Folgen der britischen Seeblockade, unter Hunger und Kälte und unter dem Wucher, der die Lebensmittelpreise in unvorstellbare Höhen trieb. Die Stadt wurde ein Zentrum wachsender und zunehmend politisierter Unruhe.18 Schon im Februar 1915 war Brot nur noch über Brotkarten erhältlich, später auch Lebensmittel wie Zucker, Butter, Eier, Fleisch und Kartoffeln. Die Missernte von 1916 führt in Berlin zum so genannten Kohlrübenwinter, so dass die Stadt sich gezwungen sah, öffentliche Volksspeisungen zu organisieren. Aber nicht nur Angebot und Beschaffungsbedingungen verschlechterten sich, auch die Mahlzeitenstruktur war Veränderungen unterworfen. Viele Frauen arbeiteten aufgrund des Arbeitskräftemangels in der Rüstungsindustrie und wurden in den Werkskantinen versorgt - private Mahlzeiten und gewachsene Traditionen traten mit der zentralen Lenkung des öffentlichen Lebens und der zunehmenden Unterversorgung der Bevölkerung vielfach in den Hintergrund. Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte für einen Großteil der Berliner Bevölkerung kaum Veränderung, breite Schichten lebten nach wie vor in Armut, Unterernährung von Schulkindern war keine Seltenheit. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 kam es erneut zu Engpässen in der Versorgung, zu Hamsterfahrten ins Umland und zu Warteschlangen in den Geschäften und auf den Märkten. 19
Der britisch-amerikanische Schriftsteller Christopher Isherwood beschrieb in seinem autobiografisch gefärbten, reportagehaften Roman ,Goodbye to Berlin‘ 20 ein Jahrzehnt später seine Eindrücke von Alltag einer Arbeiterfamilie in Berlin-Kreuzberg. Ein verarmter Sprachlehrer zieht im Roman vorübergehend bei der Familie Nowak ein, die mit fünf Personen in einer kleinen Dachgeschosswohnung in der Wassertorstraße wohnen. Die Küche der Wohnung ist so klein, dass kaum zwei Personen Platz haben und Isherwood beim Eintreten fast die Pfanne vom Herd stößt, in der Kartoffeln in billiger Margarine braten. Nachdem sein Einzug beschlossen ist, veranstaltet die Familie ein Willkommensessen für den neuen Kostgänger, bestehend aus Lungenhaschee, Schwarzbrot, Malzkaffee und gekochten Kartoffeln. Eine Mahlzeit, die nur möglich ist, weil der neue Mitbewohner seine wöchentliche Miete von zehn Mark bereits im Voraus bezahlt hat.
Die Zusammenstellung der Lebensmittel - preiswerte Innereien, günstige Vollkornprodukte, Kaffeeersatz und Kartoffeln gewähren (literarisch eingefärbt) einen Einblick in die Essgewohnheiten der Familie. Im Vordergrund steht ganz deutlich der Sättigungscharakter der zubereiteten Lebensmittel, die im Grundpreis nicht teuer sein dürfen. Allein die Menge ist entscheidend, was deutlich wird, als die Mutter und Köchin dem neuen Gast ungefragt mehrere Nachschlagportionen auf den Teller lädt. Der Geschmack des Gerichts bleibt außen vor und spielt in der Erzählung entsprechend auch keine Rolle. „Sie essen gar nichts” , kommentiert die Mutter die Bemühungen des Autors, seine Portion zu bewältigen. „Christoph mag unser Essen nicht” , sagt der Vater, „machen Sie sich keine Sorgen Christoph, Sie werden sich dran gewöhnen.”
Für Berlin typische Muster lassen sich in ,Goodbye to Berlin‘ nicht entdecken, vielmehr enthält der Roman die Schilderungen des alltäglichen Mangels, wie er am Vorabend der nationalsozialistischen Diktatur auch in anderen deutschen Städten zu finden ist.
Diese bedeutete ab 1933 neben einer politischen, spätestens mit den Vorbereitungen auf die Kriegswirtschaft gegen Ende der 1930er Jahre, auch eine Gleichschaltung‘ der Ernährung. Regionale und persönliche Präferenzen wurden den militärischen Belangen untergeordnet, unter anderem wurde der Nahrungsmittelverbrauch unter ökonomischen Gesichtspunkten gezielt beeinflusst. So versuchte das Regime die Essgewohnheiten der Menschen auf Produkte zu lenken, die in ausreichender Menge zur Verfügung standen, wie beispielsweise Brot, Gemüse und Rübenzucker statt Eiern, Fleisch und tierischem Fett.21 Für die Ernährungstraditionen bedeutete dies eine dauerhafte Schwächung, da die Bevölkerung eher nach den Prinzipien der modernen Agrarwissenschaften als nach den Grundlinien der bisherigen Ernährungslehre versorgt wurde. Damit war für eine ganze Generation der Ausnahmezustand auch beim Essen zur Normalität geworden. 22
Die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren nach wie vor geprägt von Mangel und Unterversorgung. In Berlin verstärkte sich die Ungewissheit durch die Aufteilung der Stadt unter den vier Besatzungsmächten und die Blockade des Westteils der Stadt durch die Sowjetunion. Die Ernährung wurde in Ost wie West wieder in den Dienst der herrschenden Ideologie gestellt; die Mahlzeit zum Politikum. Während im Ostteil der Stadt eine Grundversorgung der Bevölkerung nur durch unwirtschaftliche Subventionen und eine bis 1958 beibehaltene Rationierung von Lebensmitteln notdürftig aufrecht erhalten werden konnte, profitierte Westberlin vom raschen wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik.