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1.4Flexicurity – Herausforderung und Chance
ОглавлениеEine Studie zur Bedeutung der Gemeindekultur für Evangelisation erscheint mir als dringend nötig. Noch nie standen die Chancen für Evangelisation in unserem Land günstiger als heute. Noch nie waren Menschen so orientierungslos und verwirrt wie heute. Noch nie war unsere Gesellschaft so krank wie heute. Noch nie war das Evangelium vom Heil so gefragt wie heute.
Zugleich aber liegt den Menschen die Welt zu Füßen. Die Menschen unserer modernen Gesellschaft sind überaus flexibel und mobil, und die Welt um sie herum ist zunehmend zu einem Dorf geworden, durch das man innerhalb weniger Stunden jettet. Mühelos holt man sich Orientierung und Lebensführung von nebenan. Im Internet kann jede Frage in wenigen Sekunden mit einer Antwort versehen werden. Auch und gerade dann, wenn es um religiöse Orientierung geht. Man könnte annehmen, wir Menschen haben bereits alles, was zu unserem Lebensglück nötig wäre. Mobilmachung galt lange als das Allheilmittel, mit dem man der wachsenden Flexibilität des Lebens und vor allem der Ökonomie zu begegnen suchte. Heute weiß man, dass die dadurch gewonnene Freiheit der Entscheidung wesentlich zur Entwurzelung der Menschen beigetragen hat und in der Konsequenz eine Reihe sozialer Übel mit sich brachte.14 Der Verlust der „Heimat“ resultierte nicht selten im Verlust sozialer Identität – mit all den vorhersehbaren psychosozialen Folgen. Mobilität und Flexibilität förderte und forderte Individualität, doch daraus ist nur zu oft Einsamkeit geworden. Der Mensch, auf sich allein geworfen, weiß bald nichts mehr mit sich selbst anzufangen.
Flexibilität allein scheint daher nicht die erhoffte Antwort auf die Herausforderungen einer mobil gewordenen Welt zu sein. Der Mensch braucht Schutz, Geborgenheit, erschlossene soziale Räume, um gesund leben zu können. Diese Erkenntnisse führten dazu, neben der Flexibilität der Bevölkerung auch nach sozialen Sicherungsmechanismen für die Menschen zu fragen. Der Ruf nach einer „vorsorglichen Sozialpolitik“ ist nicht mehr zu überhören.15 Daraus ist das Modell der Flexicurity entstanden. Flexicurity, zusammengesetzt aus Flexibility und Security, beschreibt einen Lebensraum, der beides leistet – globale Beweglichkeit und lokale Verwurzelung.16 Es ist faszinierend zu sehen, wie man heute bemüht ist, ein solches Konzept städteplanerisch umzusetzen. In Berlin werden zum Beispiel Hochhaussiedlungen nicht nur mit einem dazugehörenden Parkhaus, sondern auch mit einem Gemeinschaftshaus im Hof gebaut. Die Bewohner einer solchen Anlage sollen nicht nur gut wohnen, sondern auch Gemeinschaft haben. Wohnraum in der Stadt soll Dorfcharakter erhalten. Nur auf diese Weise, so die Städteplaner, kann der Vereinsamung und dem sozialen Verfall Einhalt geboten werden.
In der sozialen Arbeit hat man längst erkannt, dass man die soziale Verwurzelung der Menschen am gegebenen Ort nur schafft, wenn man diese zur Partizipation an der Entwicklung sinnvoller Lebensräume ermutigt. Dabei gilt das Prinzip „Teilgabe wächst mit der Teilnahme“.17 Menschen, die am Leben des Gemeinwesens teilnehmen, werden sich letztlich auch bei den Herausforderungen des Gemeinwesens mit einbringen. So entstehen jene inklusiven Netzwerke, die den Einzelnen abholen, wo er ist, und zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben vor Ort ermutigen. Jerg und Goeke beschreiben das anschaulich am Beispiel der Integration von Behinderten in Projekte der Gemeinwesenarbeit (GWA).18
Wo sonst, wenn nicht hier, kann und sollte die Gemeinde Jesu ihre Kraft und Energie einsetzen? Als Ekklesia Gottes ist sie die zur Verantwortung für den Ort zusammengerufene Gemeinschaft.19 Sie ist lokal verortet und zugleich global aufgestellt. Wie kein anderes Institut der modernen Gesellschaft verkörpert sie die Flexicurity-Ideale. Hier finden Menschen sowohl soziale Wurzeln wie auch Innovation und Flexibilität des Geistes Gottes. Denn Er weht, wo Er will. Er lässt sich nicht in das Korsett einer menschlichen Kultur und Ideologie fassen. Und die von ihm angeführte Gemeinde (2Kor 3,17) ebenso nicht. Sie kann den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide sein, ohne dabei in absoluter Anpassung zu ersticken (1Kor 9,19ff). Ja, noch mehr, sie muss und sie wird, falls sie missionarisch interessiert ist, eine solche Kontextualisierung suchen. Nur so kann sie Menschen zum Glauben führen.
Was aber wäre nötig, um Evangelisation in den Rahmen einer solchen Suche der Menschen nach Heimat und lokaler Verwurzelung zu verorten? Seit Gerhard Schulzes Forschung in den 70er- und 80er-Jahren zur deutschen Erlebnisgesellschaft20, leben wir in unserem Land in einer Welt, die viel Wert auf Freizeit- und Kulturerfahrung jenseits des normalen Alltags legt.21 „Der Erlebnismarkt hat sich zu einem beherrschenden Bereich des täglichen Lebens entwickelt. Er bündelt enorme Mengen an Produktionskapazität, Nachfragepotential, politischer Energie, gedanklicher Aktivität und Lebenszeit. Längst sind Publikum und Erlebnisanbieter aufeinander eingespielt.“22 Wenn Menschen nach Erleben suchen, wie müsste sich da Evangelisation gestalten?