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DER ATLAS


In der Grundschule von Pine Mountain hatten Arlo und seine Freunde immer wieder Culmans Bestiarium Bemerkenswerter Kreaturen zurate gezogen, ein Buch über übernatürliche Wesen, das die Bibliothekarin in einem verschlossenen Schrank aufbewahrte.

So ähnlich stellte sich Arlo auch den Atlas vor: ein dicker Wälzer mit festem Einband, der Orte auf der ganzen Welt verzeichnete. Wahrscheinlich wäre er übergroß, vielleicht mit einem geprägten Ledereinband. Die Seiten wären vielleicht in Gold eingefasst.

Er hätte nicht falscher liegen können.

Am Ende eines kurzen Gangs öffnete Zhang eine schwere Eisentür. Sie streckte den Arm durch den Spalt, um einen Lichtschalter zu drücken.

Reihe für Reihe leuchteten staubbedeckte Glühbirnen auf und offenbarten die Riesenhaftigkeit des Raums. Er war größer als die Sporthalle von Arlos Schule. Vielleicht sogar größer als die Schule selbst.

Regale aus unbehandeltem Holz standen in labyrinthischen Reihen, jeder Fleck war mit einem Buchstaben und einer Zahl beschriftet. Die Beschriftung schien mit dem Objekt zusammenzuhängen, das dort gelagert war: ein verrostetes Fahrrad, eine zerbrochene Flasche, ein Friedhofsengel.

»Sieht wie die Lagerhalle im Ikea aus«, sagte Wu. »Nur in supergruselig.«

Arlo ging davon aus, dass dieser riesige Raum trotz allem in die Eule und die Schlange passte. In den Long Woods waren Entfernungen unberechenbar. Auf diese Weise konnten mächtige Zaubersprüche auch zusätzliche Fläche in ein Gebäude quetschen.

An einem Schrank mit Dutzenden kleiner Schubladen knipste Zhang eine Schreibtischlampe an. »Wohin genau versucht ihr zu kommen?«, fragte sie.

Arlo drehte sich zu seiner Schwester um. Sie kannte die Details.

»Es ist ein Park im Norden von Guangzhou«, sagte Jaycee.

Sie reichte Zhang einige Blätter. Sie hatte eine Karte der Stadt ausgedruckt und den Park mit einem roten Kreis markiert.

»Und bist du schon mal dort gewesen?«, fragte Zhang. »Ist das ein richtiger Wald? Nicht bloß ein oder zwei Bäume? Es muss ziemlich wild sein.«

»Ich war vor zwei Monaten dort. Und ja, wenn man vom Hauptweg abgeht, käme man nicht drauf, dass man überhaupt in der Stadt ist.«

Zhang schien zufrieden. Sie zog eine Schublade des Schranks auf und überflog die Karteikarten. Sie suchte etwas.

Unterdessen nahmen Arlo und Wu das Regal daneben in Augenschein: Jeder Gegenstand darauf hatte sein eigenes Schild, einen gelben Zettel, der mit einer Wachsschnur befestigt war. Arlo las die handgeschriebene Notiz für ein Kazoo aus Plastik:

20.01.87 nordwestlich einer zerbrochenen Steinmauer

Wu zeigte Arlo das Schild an einem modrigen Stoffdinosaurier:

04.08.70 eine Insel mitten im Fluss

»Was sind das für Sachen?«, flüsterte Wu.

Arlo hatte keinen Schimmer. Zwischen den beiden Gegenständen bestand offensichtlich keine Verbindung und keiner der beiden schien auch nur irgendwie wertvoll zu sein. Warum waren sie also beschildert? Warum war die Tür verschlossen?

»Vielleicht ist es ein Museum«, antwortete er im Flüsterton. »Oder sie ist so eine verrückte Sammlerin.«

Zhang sah zu ihnen rüber. »Nichts anfassen!«, brüllte sie »’tschuldigung!«, brüllten beide zurück.

Warum nur die Aufregung?, fragte sich Arlo. Warum will sie nicht, dass wir es anfassen? Fragen konnte nicht schaden. »Was sind das alles für Sachen?«

»Wow, ihr seid echt Touristen.« Zhang zog eine Karte aus der Schublade, offenkundig die, nach der sie gesucht hatte. Dann machte sie eine ausladende Bewegung mit der Hand. »Das ist der Atlas.« Sie meinte den ganzen Raum.

Arlo war genauso verwirrt wie Jaycee und Wu. »Ich habe gedacht, der Atlas sei ein Buch.«

»Wie könnte er ein Buch sein? Man kann keine Karte von den Long Woods zeichnen. Man kann sich nur zwischen bekannten Orten bewegen.«

Für Arlo ergab das keinen Sinn. »Aber wie kann man sich zu einem Ort bewegen, an dem man noch nie gewesen ist?«

Er wusste nicht, ob Zhang eher wütend oder amüsiert war. »Daniel, mein Freund. Deshalb bist du doch hier, oder?« Sie hielt die eben gefundene Karte in die Höhe. »Folgt mir.«

Zhang führte sie an den Regalen vorbei, schlängelte sich nach links und rechts bis in einen dunklen Bereich, in dem die Glühbirnen an der Decke durchgebrannt waren. Sie feuerte schnell hintereinander drei Schnipslichter ab, damit es hell genug war, um die Schilder zu lesen: »R17. R18. R19.«

Sie griff nach einem bunten Zauberwürfel aus Plastik. Er war verstellt und mindestens einer der farbigen Aufkleber abgepult worden. Zhang überprüfte das Schild und verglich es mit der Karteikarte. »Ja. Das ist euer Park.«

Sie reichte Arlo den Würfel. Er war verwirrt. »Muss ich ihn lösen?«

»Ich kann ihn lösen«, erbot sich Wu. »Ich schaff das in drei Minuten.«

»Nein. Damit hat das gar nichts zu tun.« Zhang nahm den Würfel wieder an sich. »Dieser Zauberwürfel ist eine Markierung. Aus irgendeinem Grund ist er in der Nähe von einem der Eingänge zu den Long Woods gelandet. Vielleicht hat ihn jemand fallen lassen – was auch immer. Und er lag dort lange genug, um einen Teil der Energie der Long Woods in sich aufzusaugen.«

Zhang feuerte drei weitere Schnipslichter in verschiedene Richtungen ab und tauchte die Regale in Licht. »Alles hier kommt von irgendeinem Ort auf dieser Welt. Und all diese Dinge tragen einen kleinen Teil der Welt in sich. Wenn ihr euch darauf konzentriert, könnte ihr spüren, wo ein jedes von ihnen hergekommen ist, und den Weg dorthin finden.«

Wieder gab sie Arlo den Würfel. Er versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren, starrte ihn an wie Superman mit seinem Hitzeblick.

»Nicht so. Wow. Das ist ja peinlich.« Sie hielt ihre Hände unter Arlos. »Denk nicht an den Gegenstand selbst. Denk an das, was drum herum ist. Wo möchte er sein?«

Arlo glaubte zu wissen, worauf sie hinauswollte. Wollte man seinen Weg in den Long Woods finden, musste man weniger probieren als vielmehr reagieren. Erzwingen konnte man nichts. Man musste dem Weg folgen, der bereits da war.

Als die Schnipslichter verglühten, verschwand Zhang in der Dunkelheit. Arlo hielt Augen und Verstand offen.

Er konnte das kalte Plastik des Zauberwürfels in seiner Hand spüren. Er hörte seinen Atem. Er spürte das Gewicht seines Körpers.

Die Luft bewegte sich. Es war kalt.

In der Ferne zwitscherte ein Vogel. Wasser tröpfelte.

Er spürte den Boden. Nur wenige Zentimeter tiefer fraßen sich Würmer durch die Erde.

Woher weiß ich das?

Einer seiner Aufkleber war lose. Tau glitt in die Lücke.

Es war Nacht. Über ihm ragten Bäume auf. Hinter ihnen der Mond. Alles war blau.

»Bist du dort?«, fragte Zhang. Er konnte sie nicht sehen, konnte aber ihre Hand spüren. Er merkte, dass er immer noch im Lager war. Dem Atlas.

»Ich bin hier«, flüsterte er. »Da. Ja.«

»Sieh genau hin. Vergewissere dich, dass du es wirklich kennst. Spür es. Du musst dich vertraut machen.«

Arlo lenkte seine Aufmerksamkeit auf den am nächsten stehenden Baum, studierte seine raue Rinde. Dann erkundete er die winzige Quelle, die ein paar Meter entfernt plätscherte, ein silbernes Band, das zurück in die Felsen glitt.

Er konnte die feuchte Erde und die faulenden Blätter und die Autoabgase in der Ferne schmecken. Er konnte das Gewicht der Vögel in den Ästen spüren.

»Hey!« Es war die Stimme seiner Schwester. Sie war nah, aber auch fern.

»Bist du okay?«

»Mir geht’s gut.«

»Du siehst nicht okay aus.« Da war ein Ton in ihrer Stimme, den er noch nie zuvor gehört hatte. »Was immer du da tust, hör auf damit.«

»Sie hat recht«, sagte Wu. »Du hast ganz kalte Haut.«

Wenn sie ihn berührten, spürte er es nicht. Stattdessen spürte er den kalten Erdboden unter sich und die niederprasselnden Regentropfen und die sengende Sonne, der er nicht entkommen konnte. Der Aufkleber löste sich immer weiter jeden Tag und jede Nacht und Tag und Nacht und Tag und

jetzt fiel er

fiel durch

fiel in

Er keuchte. Es war dunkel. Etwas nahm ihm die Luft zum Atmen. Er kämpfte verzweifelt und rang nach Sauerstoff. Sein Herz klopfte so sehr, dass seine Rippen schmerzten.

Er setzte sich auf, stützte sich auf den Ellenbogen ab. Jaycee und Wu hatten sich hingekniet. Seine Schwester weinte.

»Was macht ihr da?«, fragte er. Seine Stimme war heiser.

Jaycee packte ihn, umarmte ihn fest.

»Mann, du bist ohnmächtig geworden. Du hast die Augen verdreht. Die waren total weiß. Und dann hat dein Herz aufgehört zu schlagen. Wir haben dich ein paar Minuten wiederbelebt.«

Jaycee boxte ihn. »Ich dachte, du wärst tot!«

»Mir geht es gut«, sagte er. »Versprochen.« Wie seltsam, dass sich seine Schwester so um ihn sorgte. In dreizehn Jahren hatte er so etwas noch nie erlebt.

Arlo sah an Jaycee vorbei zu Zhang, die weder glücklich noch enttäuscht zu sein schien, dass er überlebt hatte. »Was ist passiert?«, fragte er.

»Ich habe gesagt, du sollst dir das Gebiet um den Gegenstand ansehen, nicht der Gegenstand werden.« Sie hielt den Zauberwürfel hoch. »Das ist nur Plastik. Es ist nicht lebendig. Wenn du dich hineinversetzt, wirst du nicht lange leben.«

Zhang legte den Würfel zurück ins Regal und vergewisserte sich, dass das Schild zu sehen war.

Wu und Jaycee halfen Arlo auf die Beine. Er war ein bisschen benommen, aber auch zuversichtlich.

»Leute, ich weiß, wo es langgeht.«

Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten

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