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DIE MAUER


Es führte einfach kein Weg weiter. Nachdem sie viele Stunden durch die Long Woods gewandert waren – in schmalen Schluchten, bis zu den Knien im Wasser, und über Wiesen voller Blumen, die nach Traubensaft rochen –, hatte Arlo das Trio in eine Sackgasse geführt. Sie standen am Fuße einer steilen, viele Meter hohen Klippe aus weißem Kalkstein. Der Fels leuchtete im Mondlicht.

Wie eine schier endlose Mauer erstreckte sich die weiße Barriere zu beiden Seiten bis zum Horizont.

»Vielleicht sollten wir umdrehen und uns einen anderen Weg suchen«, schlug Wu vor.

»Wie weit zurück sollen wir denn?«, fragte Jaycee. »Wir gehen auf keinen Fall wieder in diese Stadt.«

Es war nicht allein eine Frage der Erschöpfung – erschöpft waren sie alle drei –, sondern eine Frage der Zeit. Ihrem Plan zufolge hätten sie jetzt schon in China sein sollen. In weniger als zwölf Stunden erwartete sie der Blaue Trupp zurück in Pine Mountain. Wichtiger noch, nach dem Zelten erwarteten ihre Familien sie zurück.

»Ich weiß, dass wir nah dran sind«, sagte Arlo. »Ich kann es spüren. Es ist direkt vor uns.«

»Aber wir können da nicht drüberklettern«, sagte Wu und zeigte auf die Kalksteinklippe. »Vielleicht wenn wir die richtige Ausrüstung hätten, aber selbst da bin ich mir nicht sicher.«

Arlo wollte nicht aufgeben, ohne sich ein genaues Bild von der Situation verschafft zu haben. Er setzte seinen Rucksack ab und ging geradewegs zur Wand der Klippe. Sie war so weiß wie Kreide und genauso weich. Er kratzte mit dem Fingernagel daran. Der weiße Stein bröckelte.

Wu hatte recht; hochklettern konnte man nicht. Jeder Griff würde einfach abbrechen.

Enttäuscht lehnte sich Arlo rücklings an die Klippenwand. Er musste nachdenken. Wu und Jaycee verschnauften auch, tranken aus ihren Wasserflaschen und aßen Energieriegel. Sie brauchten alle eine Pause, vom langen Tag, von den Long Woods und voneinander.

Arlo starrte die Klippe hoch. Wenn wir doch nur die Hochschuppe noch hätten, dachte er. Dann könnten wir auf die Klippe schweben.

Sein Dad nannte dieses Hätte-Denken »kontrafaktisch«. Clark Finch lehnte es ab. Man kann die Vergangenheit nicht ändern. Man kann nur ändern, was man als Nächstes tut.

Aber Arlo Finch hatte leider keinen blassen Schimmer, was er als Nächstes tun sollte. Die beste Wahl schien, den Plan aufzugeben und einfach nach Pine Mountain zurückzugehen. Jaycee würde das verstehen. Von ihnen dreien wäre Wu wahrscheinlich am schwersten enttäuscht. Er hatte so dafür gekämpft, an der Expedition teilnehmen zu dürfen, hatte argumentiert, dass sie seine Chinesischkenntnisse brauchen würden, wenn sie erst einmal angekommen wären.

Arlo fragte sich, ob das der wahre Grund war, warum Wu hatte mitkommen wollen. Im Sommerlager war es Indra und nicht Wu gewesen, die Arlo bei den meisten seiner Abenteuer begleitet hatte. Wu könnte die Expedition als Chance begriffen haben, Indra wieder den Rang abzulaufen.

Arlo fiel ein leuchtend violetter Fleck an seinen Schuhen auf. Die Blumen auf der Wiese hatten ihn dort hinterlassen. Ob man ihn abreiben konnte?

Er hob das Bein und machte zu seiner völligen Verblüffung unversehens einen Salto rückwärts. Er landete unsanft, kam aber schnell auf die Füße. Seltsamerweise befand sich der Himmel plötzlich an der falschen Stelle: hinter ihm, nicht über ihm. Er stand auf der Klippenwand. Die Gravitation hatte sich irgendwie verlagert, hatte »seitwärts« in »unten« verwandelt.

Er machte ein paar Schritte. Der weiße Kalkstein unter ihm verhielt sich völlig unauffällig. Wenn er die Augen schloss, war es nicht anders, als auf ebener Erde zu laufen.

»Das ist so cool!«, schrie Wu, der auf die Klippe zurannte und ungeschickt gegen die senkrechte Kalksteinwand sprangrutschte-fiel.

Da hockte er eine Weile, bevor er wieder aufstand. Er klopfte sich den weißen Staub von der Jacke.

»Bring meinen Rucksack!«, rief Arlo Jaycee zu.

Jaycee stöhnte, holte ihn aber. Vor der Klippenwand blieb sie stehen, da sie nicht so unbeholfen fallen wollte wie Arlo oder Wu. Sie setzte ihren rechten Schuh auf die Wand und verlagerte langsam ihr Gewicht, bis sie waagerecht stand.

Sie versuchte, es runterzuspielen, als ob es keine große Sache sei. »So. Und wo lang gehen wir jetzt?«

Arlo zeigte nach rechts. »Es ist nicht mehr weit.« Er ging voran, froh, sich geirrt zu haben.

Es gab einen Weg. Er verlief nur seitwärts.

Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten

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