Читать книгу Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten - John August - Страница 16
ОглавлениеDAFUSHAN
Nachdem sie den Wagen auf einem Parkplatz in der Nähe abgestellt und sorgfältig ihre Fingerabdrücke entfernt hatten, mischten sie sich unter eine Busladung amerikanischer Touristen und strömten mit ihnen zum Eingang des Naturparks von Dafushan. Die Tour wurde von einer jungen Chinesin geführt, die fließend Englisch sprach. Damit ihre Gruppe sie nie aus den Augen verlor, trug sie einen Stab mit einem orangefarbenen Puschel.
»In diesem Park werden Sie einen Fisch sehen, der für die Chinesen etwas sehr Besonderes ist«, sagte sie. »Wer kann mir sagen, was ein Koi ist?«
Ein dickbäuchiger Mann mit einer teuren Kamera rief: »So eine Art riesiger Goldfisch!«
»Genau! Und kennt jemand die Geschichte des Kois?« Diesmal meldete sich niemand, also fuhr die junge Frau fort: »Eine alte Geschichte erzählt von einem Schwarm goldener Kois. Sie schwammen den großen Gelben Fluss hinauf, bis sie einen Wasserfall erreichten und nicht weiterkamen. Aber ein Fisch hielt nicht an. Er versuchte, den Wasserfall hinaufzuschwimmen, bis ganz nach oben. Wieder und wieder fiel er zurück. Hundert Jahre lang versuchte er, springend und schwimmend den Wasserfall zu erklimmen. Bis es ihm eines Tages gelang. Er erreichte die Spitze. Die Götter sahen es und belohnten den Fisch für seine Beharrlichkeit, indem sie ihn in einen großen Drachen verwandelten. Der Koi ist ein Symbol für harte Arbeit und dafür, dass das Unmögliche erreichbar ist.«
Wu wandte sich Arlo zu. »Und?«
Arlo schüttelte den Kopf. Er spürte die Long Woods nicht. Aber das war auch kein Wunder in so einem belebten Bereich mit betonierten Wegen und Parkbänken. »Wir müssen irgendwohin gehen, wo weniger Leute sind.«
Die vier entfernten sich von der Gruppe und studierten eine große Karte des Parks. Der Wald von Dafushan hatte die Form eines Herzens – er ähnelte allerdings dem klumpigen Organ in der Brust, nicht dem Herzen auf einer Valentinskarte. Radwege verbanden eine Reihe kleiner grüner Seen, überall waren Schreine und Denkmäler verstreut.
Clark deutete auf einen Bereich am südlichen Rand des Parks. »Hier waren wir im Sommer wandern. Es ist ziemlich abgelegen, aber verstecken können wir uns dort draußen nicht, wenn du das meinst.« Arlo wurde klar, dass sein Dad immer noch nicht verstanden hatte, was sie mit den Long Woods meinten und was sie planten.
Jaycee sagte mit gesenkter Stimme: »Seht nicht hin, aber ich glaube, dieser Typ da hat uns im Blick.«
Arlo sah sich vorsichtig zu dem uniformierten Mann um, der in sein Funkgerät sprach. Er war alt und stämmig, eher ein Wachmann als ein Polizist. Doch offenbar beobachtete er sie. Das war nicht gut.
»Sollen wir rennen?«, fragte Wu. »Er sieht nicht so aus, als wäre er schnell.«
»Damit würden wir uns ja auch kein bisschen verdächtig machen«, sagte Jaycee höhnisch.
»Er hat Zweifel«, sagte Clark. »Er ist sich nicht sicher, ob wir es sind. Schaut einfach weiter auf die Karte.«
Rechts von sich bemerkte Arlo einen zweiten Wachmann, der sein Handy hochhielt, um sie zu fotografieren. Er war jünger als der erste und zweifelslos auch schneller. Vor ihm würden sie nicht so leicht davonlaufen können. »Wir müssen etwas tun.«
»Entschuldigung! Familie?«, sagte die Reiseführerin und winkte ihnen zu. »Lassen Sie uns bitte zusammenbleiben.« Während sie die Karte studiert hatten, war die Reisegruppe an einem Stand ganz in der Nähe mit hellgrünen Leihfahrrädern ausgestattet worden. Nun warteten alle darauf, dass die vier sich zu ihnen gesellten.
Clark lächelte. »Entschuldigung! Kommt, Kinder!«
Bei der Vorbereitung ihrer Chinareise hätte Arlo sich niemals träumen lassen, dort einmal mit einer Gruppe schwitzender amerikanischer Touristen auf einem Drei-Gang-Fahrrad unterwegs zu sein, aber genauso war es. Nach den endlosen Kilometern, die sie gelaufen waren, fühlte es sich wie der pure Luxus an, auf Asphaltwegen in die Pedale zu treten. Er hätte das stundenlang tun können.
Aber das hier war keine Vergnügungsreise. Sie mussten an einen weniger belebten Ort, um dort einen Eingang in die Long Woods zu finden. Und sie mussten immer noch fürchten, dass die Wachmänner die Behörden alarmiert hatten.
Clark bedeutete ihnen, an der nächsten Kreuzung rechts abzubiegen. Sie fuhren am Ende der Gruppe, die Chancen standen also gut, dass niemandem auffallen würde, dass sie sich absetzten. Sie traten kräftig in die Pedale, bis sie außer Sichtweite waren.
Der Weg wurde schmaler und führte in einen älteren Teil des Waldes. Die Bäume waren nicht so majestätisch, ihre knorrigen, gewundenen Äste kratzten am grauen Himmel.
»Kannst du einen Eingang finden … während wir auf dem Rad sitzen?«, keuchte Wu.
»Weiß nicht«, sagte Arlo, ebenfalls aus der Puste. »Nie versucht.« Als er damit angefangen hatte, in die Long Woods zu gehen, hatte er absolute Stille und Konzentration gebraucht, um einen Weg zu finden. Aber mit der Zeit war es ihm auch im Gehen gelungen – und sogar auf der Flucht vor einem riesigen Troll.
Jaycee hielt an. Sie neigte den Kopf und lauschte. »Hört ihr das?«
Arlo hörte es. Es war ein Hubschrauber. Und er kam näher. Schnell.
»Runter vom Weg!«, rief Arlo und fuhr voraus. Ihre Räder waren nicht für unbefestigtes Gelände gemacht, aber der Waldboden war halbwegs flach. Die Räder würden schon halten.
Der Hubschrauber kam näher. Immer näher.
Er dröhnte direkt über ihnen. Die bebenden Rotoren klangen wie Regen. Der Hubschrauber flog auf gerader Linie über sie hinweg.
»Sie haben uns nicht gesehen!«, rief Wu schadenfroh.
Oder sie waren zu schnell, dachte Arlo. Sie können jederzeit wiederkommen. Er bog nach rechts ab, dann nach links, einen Abhang hinunter. Ohne tatsächlich eine Richtung im Kopf zu haben, wollte er einfach nur so tief wie möglich in den Wald. Er bewegte sich rein instinktiv, schrammte dicht an Baumstämmen vorbei und wich Felsen aus. Alles ging viel zu schnell, um Angst zu haben.
Er warf einen Blick über die Schulter, um sich zu überzeugen, dass die anderen dranblieben. Und dann …
PLONNNNNK!
Arlo flog über den Lenker. Wie in Zeitlupe segelte er durch die Luft. Er riss die Hände vor das Gesicht und rollte sich im trockenen Laub ab. Das alles war so überraschend, so unerwartet gekommen, dass er den Aufprall kaum spürte. Mit einem Satz sprang er wieder auf die Füße, starrte das Fahrrad an, das drei Meter entfernt von ihm lag – das Vorderrad war übel verbogen. Er war gegen einen im Laub verborgenen Baumstumpf geprallt.
Arlo starrte auf seine Handflächen. Sie waren aufgeschürft und fingen gerade zu bluten an. Er hatte nicht das Gefühl, als würden sie zu seinem Körper gehören.
Dann setzte der Schmerz ein. Er traf ihn wie eine Welle. Hände, Gesicht, Knie. Alles brannte.
»Arlo!« Sein Dad schmiss das Rad hin und lief auf ihn zu, Wu und Jaycee folgten dicht dahinter.
Arlo blinzelte im Sonnenlicht. Warum war es plötzlich so hell?
Sein Dad kniete vor ihm und untersuchte sein Gesicht.
»Bist du okay? Ist dir schwindelig? Ist etwas gebrochen?«
»Ich glaube nicht. Mir geht’s gut.« Arlo heulte los.
Es war nicht wegen der Schmerzen. Die Tränen flossen, weil sein Vater da war, um sich um ihn zu kümmern. Er legte den Kopf gegen die Schulter seines Dads. Für diesen einen Moment fühlte er sich sicher und beschützt.
Wu stieg vom Rad und schleuderte es zur Seite. »Die werden uns hier kein bisschen weiterbringen.«
Arlo fragte sich, was er meinte, bis er sich umdrehte und eine gewaltige Wüste sah. Gewaltige Dünen aus schwarzem Sand erstreckten sich wie ein gefrorener Ozean bis zum Horizont. Sie waren nicht mehr in China.
»Du hast es geschafft«, sagte Jaycee und zauste ihm das Haar.
Clark Finch, der erst jetzt bemerkte, dass etwas nicht stimmte, stand auf. Er sah in den Wald zurück, der jetzt hinter ihnen lag, und dann zu den endlosen Dünen, die sie nun vor sich hatten. »Wo sind wir?«, fragte er.
Arlo lächelte. »In den Long Woods.«