Читать книгу Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten - John August - Страница 11
ОглавлениеTOMMYKNOCKERS
Zelten ohne Lagerfeuer war irgendwie komisch.
Es war fast acht Uhr abends, es war dunkel und die verbliebenen Mitglieder des Blauen Trupps saßen um drei elektrische Kerzen, die Indra von zu Hause mitgebracht hatte. Die orangenfarbenen LEDs flackerten einigermaßen überzeugend und dennoch …
»Das ist schrecklich«, stellte Julie fest. Niemand widersprach ihr.
So wie das vorgetäuschte Lagerfeuer war das vorgetäuschte Camp im Großen und Ganzen eine Pleite gewesen, angefangen mit dem Testlauf für den Kochwettbewerb. Die Butangas-Kocher waren gut, um das Wasser für die Spiralnudeln zum Kochen zu bringen, alles andere aber verkohlte oder blieb halb roh. Es war, als würde man auf einer Lötlampe kochen. Schließlich hatte der Trupp beschlossen, die Nudeln ohne alles zu essen und die halb gare Soße in einiger Entfernung unter einem abgestorbenen Baum zu vergraben.
»Umbringen kann ihn die Soße ja nicht mehr«, sagte Connor.
Sogar die Kekssandwiches mit Marshmallows und Schokostückchen hatten nicht richtig geschmeckt. »Der Rauch macht sie erst lecker«, meinte Jonas. »Ohne sind es bloß klebrige Schokoriegel.« Jeder hatte nur einen statt der üblichen drei oder vier gegessen.
Das Geschirr war abgewaschen. Die Lebensmittel hatten sie in einen Baum gehängt, damit keine Bären rankamen. Alle Pflichten waren erledigt, aber das im ganzen Staat verhängte Feuerverbot bedeutete, dass sie die nächsten Stunden nicht damit zubringen konnten, in einem richtigen Lagerfeuer zu stochern. Der Abend war nicht sonderlich kalt, aber ohne ein Feuer gab es nichts, worauf man seine Aufmerksamkeit richten konnte. Die Stille war unbehaglich.
Indra sah auf ihre Uhr. »Sie müssten jetzt in Fallbach sein«, sagte sie. »Vielleicht sogar schon auf dem Weg nach Guangzhou.« Für den Fall, dass jemand ins Lager kam, hatten sie bewusst nur selten über Arlo, Wu und Jaycee geredet.
»Sagen sie Bescheid, wenn sie in China sind?«, fragte Jonas.
»Nur falls es einen Notfall gibt«, sagte Connor. »Wu darf sein Handy eigentlich nicht mal einschalten.«
»Und was, wenn wir sie erreichen müssen?«, fragte Julie. »Was, wenn auf unserer Seite etwas schiefläuft? Sie hätten keine Ahnung.«
»Es gibt genug anderes, über das sie sich den Kopf zerbrechen müssen«, sagte Indra. »Sie sollen sich allein darauf konzentrieren, Arlos Dad zu finden und zurückzubringen.«
Eine Digitaluhr piepte. Connor stellte den Ton aus und zog ein Röhrchen Tabletten aus seiner Jackentasche.
»Wie lange musst du die noch nehmen?«, fragte Jonas.
»Weiß nicht«, sagte Connor. »Vielleicht für immer.«
Im Sommer war Connor aufgrund einer schwer entzündeten Milz, die operativ entfernt werden musste, mit einem Hubschrauber aus dem Camp abgeholt worden.
Obwohl er sich gut erholt hatte, musste er sich immer noch vor Keimen in Acht nehmen und durfte bis auf Weiteres keine schweren Gegenstände heben.
»Wie viel hat die Operation gekostet?«, fragte Jonas.
Indra war stellvertretend für Connor empört. »Das darf man nicht fragen. Das ist unhöflich.«
»Wieso ist das unhöflich? Ich bin einfach neugierig. Alleine der Hubschrauber! Mussten deine Eltern das bezahlen?«
Indra mischte sich wieder ein: »Wahrscheinlich weiß er es noch nicht mal!«
Connor spülte die Tablette mit einem Schluck aus seiner Wasserflasche runter. Es dauerte eine Sekunde, bis sie unten war. »Es hat viel gekostet. Die Versicherung hat einen Teil übernommen, aber ich weiß, dass meine Eltern auch zahlen mussten.«
»Gut, dass deine Eltern reich sind«, sagte Julie. Die Stille wurde noch stiller.
Über den Reichtum der Cunninghams wurde in Pine Mountain oft gesprochen, niemals jedoch in ihrer Gegenwart. Obwohl sie keine Angeber waren, trugen Connor und sein Bruder immer die neuesten Outdoor-Klamotten. Ihre Familie hatte jedes Jahr einen neuen SUV und machte Winterurlaub in Resorts, wo einem Hoteldiener in die Skischuhe halfen.
Darüber, wie die Cunninghams ihr Geld ausgaben, wurde allerdings viel weniger geredet als darüber, wo es herkam. Die Familie besaß mehr als hundert Morgen Land im Tal, aber jemand im Stadtrat hatte erzählt, dass sie zehn Jahre zuvor noch Steuerschulden gehabt hätten und beinahe bankrott gegangen wären.
Doch dann hatte sich das Schicksal auf dramatische Weise zu ihren Gunsten gewendet. Die einen behaupteten, die Cunninghams würden Atommüll in einer ihrer lange stillgelegten Minen lagern. Andere glaubten, sie wären auf eine neue Goldader gestoßen und schürften heimlich. Niemand allerdings hatte es je gewagt, einfach mal bei den Cunninghams nachzufragen, bis Julie Delgado kam: »Wie ist deine Familie eigentlich an das viele Geld gekommen?«
Indra wandte ein, dass dies niemanden etwas anginge, aber Connor wollte reden. Offenbar hatte er schon seit Längerem mit diesem Gedanken gespielt.
Einen Moment lang suchte er nach dem richtigen Anfang. »Ich habe euch doch erzählt, wie Katie und ich uns in den Long Woods verirrt haben, wisst ihr noch?«
Alle nickten. Als Connor noch ein kleiner Junge war, hatten sich er und seine Cousine Katie beim Campen vom Zelt ihrer Familie entfernt und waren in den Long Woods gelandet. Sie waren von der Druse dorthin gelockt worden – derselben Waldhexe, mit der der Trupp später im Tal des Feuers gekämpft hatte. Nach drei Wochen war der kleine Connor schließlich zu seiner Familie zurückgekehrt. Aber seine Cousine Katie war bei den Magus geblieben. Sie nannte sich jetzt Rielle. Zweimal im Jahr besuchte sie ihre Eltern in Pine Mountain, sonst aber lebte sie im Reich Eldritch.
»Wenn Rielle zu Besuch kommt, bringt sie Sachen mit«, sagte er.
»Was für Sachen?«, fragte Jonas.
»Meist Gold. Silber. Manchmal Diamanten.« Connor führte das nicht weiter aus. Er ließ die Worte so in der Dunkelheit stehen.
Indra wollte sichergehen, dass sie ihn auch richtig verstanden hatte.
»Deine Cousine bringt euch Gold aus dem Reich Eldritch?«
»Offensichtlich war das Teil der Abmachung, die sie mit den Magus geschlossen haben.«
Indra drängte weiter. »Die Abmachung, die wer mit den Magus geschlossen hat?«
»Ihre Eltern, meine Eltern. Alle.« Es war Connor offensichtlich unangenehm, das laut auszusprechen. Aber er schien auch erleichtert, sein Geheimnis endlich zu teilen.
»Deine Eltern haben die Magus also kennengelernt?«, fragte Indra. »Findest du nicht, dass du das Arlo hättest sagen sollen? Sie könnten Informationen darüber haben, hinter was die Magus eigentlich her sind.«
Connor verteidigte sich. »Ich glaube kaum, dass jemand aus meiner Familie den Magus tatsächlich begegnet ist. Außer Rielle natürlich, meine ich.«
»Und wer hat die Abmachung dann getroffen?«, fragte Jonas.
»Vergesst nicht, ich war noch echt klein. Ich hatte nichts damit zu tun. Aber soweit ich verstanden habe, gibt es Leute – Menschen wie wir –, die mit den Magus zusammenarbeiten. Sie sind so eine Art Unterhändler. Ich glaube, sie kommen von der Regierung.«
Diese Vorstellung faszinierte Jonas. »Eine geheime Regierungsbehörde, die mit Außerirdischen aus dem Reich Eldritch handelt.«
»Sie sind keine Außerirdischen«, sagte Connor.
Jonas war unbeirrt. »Sie sind buchstäblich nicht aus unserer Welt. Ich glaube, das zählt.«
Julie verdaute immer noch die Neuigkeiten.
»Dann lagert deine Familie gar keinen Atommüll in den Minen?«
Connor lächelte. »Nein.«
Indra wollte weiter über Rielle sprechen. »Damit ich das richtig verstehe, deine Familie wird von den Magus für deine Cousine bezahlt. Das ist verrückt.«
Connor spielte ihre Einwände herunter. »Es ist ja nicht so, dass sie gegen ihren Willen dort ist. Sie wollte bleiben.«
»Sie war vier! Woher konnte sie mit vier Jahren wissen, was sie wollte?«
»Du verstehst das nicht! Katie – Rielle –, sie war nicht normal. Sie war schon immer seltsam.«
Indra war so aufgebracht, dass sie aufsprang. »Und wennschon! Geben wir sie halt den Magus, sollen die sich doch um sie kümmern? Warum schicken wir den Magus nicht gleich alle Menschen, die ein bisschen anders sind?«
»Ich bin nicht dafür verantwortlich, Indra!«, fuhr Connor sie an. »Es war nicht meine Entscheidung!« Peinlich berührt darüber, dass er die Fassung verloren hatte, stellte er in einem ruhigeren Ton klar: »Schau, ich habe das nicht entschieden – das waren die Erwachsenen. Aber ich verstehe, warum sie es getan haben. Manchmal muss man zwischen zwei schlechten Entscheidungen wählen.«
»Was, zwischen Kind und Bankrott?«
»Zwischen ihr und mir, okay? Sie haben zwischen ihr und mir entschieden. Die Magus hatten uns beide und die einzige Möglichkeit, dass meine Familie mich zurückbekam, war, dass sie Katie dort ließen.« Connor wischte sich die Tränen vom Gesicht. »So ist es gewesen.«
Lange blieb es still. Wieder einmal wäre ein Lagerfeuer, in das sie alle hätten starren können, hilfreich gewesen.
»Es tut mir leid, Connor«, sagte Indra.
»Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Ich verstehe ja, was du gemeint hast. Es ist absurd, dass meine Familie reich ist, weil meine Cousine verschwunden ist. Es ist, als wäre jemand gestorben und die Versicherung hätte gezahlt. Es ist gleichzeitig gut und schlecht.«
Jonas hob die Hand und unterbrach die beiden. »Hört ihr das?«
Sie lauschten angestrengt. Irgendwo aus der Dunkelheit drang eine Art Pochen, gefolgt von einem Knarren. War es ein Wesen? Oder bloß der Wind in den Bäumen?
Dann hörten sie ein leises Kichern und wussten sofort …
»Tommyknockers«, stöhnte Julie.
Tommyknockers waren missgünstige Geister, die man oft in den Rockies antraf. Ein Jahrhundert zuvor hatten Minenarbeiter sie für schlimme Einstürze verantwortlich gemacht, aber dem Flurbuch der Ranger zufolge waren sie weitgehend harmlos. Bestenfalls gelang es ihnen, Werkzeuge zu stehlen und Seile aufzuknoten.
»Wir sind in Sicherheit«, sagte Connor. »Die Bannkreise sollten sie fernhalten.«
Wie zur Antwort ertönte ein Knall, gefolgt von einem weiteren Kichern. Alle vier begriffen gleichzeitig, was da los war: »Das Essen!«
Sie hatten, ganz nach den Richtlinien der Ranger, sämtliche Vorräte weit vom Zeltplatz entfernt in einen Baum gehängt. Damit befanden sie sich unglückseligerweise außerhalb der Bannkreise.
Alle vier Ranger stürmten los, um ihre Verpflegung zu schützen. Der Mond war fast voll, also war es nicht schwierig, die winzigen Wesen auszumachen. Sie sahen wie haarlose Affen mit spitzen Ohren aus und sprangen kichernd von Baum zu Baum. Einer von ihnen trug einen Kochtopf wie einen zu großen Helm. Da er so nichts sehen konnte, prallte er immer wieder gegen die Baumstämme. Zwei andere stopften sich mit Marshmallows voll.
Der Blaue Trupp warf mit Pinienzapfen und Schnipslichtern nach ihnen und konnte die Tommyknockers bald vertreiben, aber es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, die überall verstreuten Vorräte wieder einzusammeln. Aus den Äpfeln waren Stücke herausgebissen worden und die Eier für das Frühstück tropften aus der Packung.
»Sollen wir sie vielleicht einfach jetzt kochen?«, schlug Jonas vor.
»Ich könnte was zu essen vertragen«, sagte Indra. Nach den enttäuschenden Nudeln klang ein zweites Abendessen wie eine gute Idee. Sie trugen den Beutel zurück zum Zeltplatz.
Als sie dort ankamen, stand ein Mädchen in ihrem Alter im Kerzenlicht. Sie trug einen bestickten Seidenmantel, silberne Ohrringe und eine dünne, mit Edelsteinen besetzte Kopfbedeckung. Wie Arlo hatte sie verschiedenfarbige Augen: eins grün, eins braun.
Indra hatte dieses Mädchen noch nie gesehen, wusste aber gleich, wer sie war: »Du bist Rielle, nicht wahr?«
»Was machst du hier?«, fragte Connor. Wie eine Cousine oder gar eine Freundin begrüßte er sie nicht.
Rielle schien verwirrt, nur vier von ihnen zu sehen. »Wo ist Arlo?«
Die Mitglieder des Blauen Trupps tauschten unsichere Blicke. Sie hielten sich an Connor, der offenbar misstrauisch war. »Was willst du von ihm? Was ist los?«
»Er ist in Gefahr. Ich bin gekommen, um ihn zu warnen.« Rielle schien zu ahnen, dass Arlo nicht auf dem Zeltplatz war. »Könnt ihr ihm wenigstens eine Nachricht übermitteln?« »Was für eine Nachricht?«
»Es geht um Hadryn. Er ist geflohen.«