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EIN TOTAL NORMALER ZELTAUSFLUG


Eigentlich war es nicht einmal gelogen.

Der Blaue Trupp wollte wirklich die neuen Campingkocher testen. Ende des Monats fand der alljährliche Kochwettbewerb der Pine-Mountain-Kompanie statt. Die letzten drei Male hatte der Grüne Trupp den Goldenen Göffel gewonnen – wollte der Blaue Trupp sich also eine Siegchance wahren, musste er seine Rezepte schon mit der richtigen Ausrüstung ausprobieren.

»Aber wieso muss es ausgerechnet am Fluss sein?«, wollte Indra wissen. »Können wir es nicht einfach bei einem von uns im Garten machen? Das fragen sie uns bestimmt zuallererst.«

Mit sie waren ihre Eltern gemeint. Der Blaue Trupp brauchte eine Ausrede, warum er einen zusätzlichen Zeltausflug einschob – einen Zeltausflug ausschließlich für ihren Trupp, Erwachsene oder andere Ranger waren nicht eingeladen.

»Wir können doch sagen, dass wir für Wettkampfbedingungen sorgen müssen«, sagte Wu. »Das klingt plausibel.«

Connor stimmte ihm zu. »Und das Feuerverbot nicht vergessen. Das müssen wir auch erwähnen. Das erklärt, warum es dieses Jahr anders läuft als sonst.« Nach einem bemerkenswert trockenen Sommer hatte die Forstverwaltung offenes Feuer in den Bergen Colorados untersagt, was bedeutete, dass den Trupps nur winzige Butangas-Kocher zur Verfügung standen. Mit begrenztem Brennstoff und nur zwei Kochplatten wurde das Kochen viel komplizierter.

»Das erklärt aber immer noch nicht, warum es unbedingt der Zeltplatz am Fluss sein muss«, sagte Julie Delgado. »Unsere Eltern werden Fragen stellen.« Jonas, ihr Zwillingsbruder, teilte ihre Sorge.

»Der Fluss ist der einzige Zeltplatz, den wir von der Stadt aus zu Fuß erreichen können«, sagte Wu. »So muss uns niemand fahren. Und wenn etwas schiefgeht, können wir einfach nach Hause laufen.«

Arlo Finch schüttelte den Kopf. »Wir sollten gar nicht erst davon anfangen, dass etwas schiefgehen könnte. So was macht sie nur nervös. Es muss wie ein total normaler Zeltausflug rüberkommen.«

In Wirklichkeit war der Ausflug alles andere als normal.

In Wirklichkeit war es unglaublich riskant, was der Blaue Trupp an diesem ersten Samstag im September vorhatte. Der Plan sah Betrug, Feilscherei, geheimnisvolle Artefakte und eine elftausend Kilometer lange Reise vor. Zum Schiefgehen gab es hundertfach Gelegenheit.

Doch Arlo Finch war sich sicher: Sie hatten nur diesen einen Versuch.

Vor über einem Jahrhundert hatte ein Hochwasser das ursprüngliche Pine Mountain zerstört und dabei nichts als Schutt und Geistergeschichten hinterlassen. Als der Blaue Trupp an diesem Samstagmorgen seine Zelte am Big Stevens River aufschlug, schien allerdings kaum vorstellbar, dass ein so kleiner Bach einen derart furchtbaren Schaden anrichten könnte. Der Wasserstand war niedriger als je zuvor, getrockneter Schlamm klebte überall an den freigelegten Felsen. Wasserläufer huschten über flache, modrige Pfützen.

»Es stinkt«, stellte Julie fest, die sich nie zu schade war, das Offenkundige zu sagen. Sie und Jonas bauten ihr Zelt in größtmöglicher Entfernung vom Wasser auf. In den drei Monaten, die seit dem Sommer-Camp vergangen waren, hatten Arlo, Wu und Indra darauf geachtet, die Zwillinge in sämtliche Pläne einzubeziehen, damit sie nicht zu sehr erschraken, wenn schon wieder eine übernatürliche Gefahr über sie alle hereinbrach. Aktuell rechneten sie zwar weder mit der nächsten Druse noch mit einem Troll, aber so ganz genau konnte man das ja nie wissen.

Vorsichtshalber zogen Connor und Indra Bannkreise um ihr Lager. Indra hatte ihr Abzeichen für Elementare Magie fast schon in der Tasche, allerdings fehlte es ihr noch an der nötigen Erfahrung, die Steine richtig auszuwählen und so zu stapeln, dass sie das Lager verlässlich vor heimtückischen Geistern schützten.

Wenn es doch nur Bannkreise gäbe, um Menschen fernzuhalten, dachte Arlo. Das war das größte Fragezeichen hinter ihrem Plan: Was machen wir, wenn plötzlich jemand auftaucht und Fragen stellt?

Wegen des trockenen Sommers und des Feuerverbots kamen deutlich weniger Touristen als sonst, um das Herbstlaub der Espen zu bestaunen, Sorgen um neugierige Außenstehende musste sich der Blaue Trupp wenigstens keine machen. Die weit größere Gefahr bestand in elterlichen Spontanbesuchen – etwa zum Zweck einer überraschenden Kekslieferung. Diana Velasquez, Marshall der Kompanie, könnte womöglich auch auf die Idee kommen, einfach mal nach dem Trupp zu sehen.

Connor hatte gesagt, sie sollten sich keine Sorgen machen. Falls jemand auftauchte, würden sie einfach improvisieren. Arlo blieb also nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass seine Freunde das im Zweifel schon hinkriegen würden. Denn er selbst würde dann nicht da sein.

Er überprüfte noch ein letztes Mal seinen Rucksack, überzeugte sich, dass er wirklich zwei Wasserflaschen, vier Energieriegel, eine Schachtel wasserfester Streichhölzer und eine Rettungsdecke aus Aluminium enthielt – sowie eine mit Klebeband umwickelte Bowlingkugel. Dennoch war der Rucksack leichter als erwartet.

Seinen Ranger-Kompass und das Geistermesser hatte sich Arlo in die Taschen gesteckt. Ihm war klar, dass er sie nah am Körper tragen musste.

»Da kommt jemand!«, raunte Wu und deutete auf eine Gestalt, die von der Straße den Hügel runterlief. Alle hielten gespannt den Atem an, bis sie sich überzeugt hatten, dass es wirklich die Person war, die sie auch erwartet hatten.

Arlo sah auf seine Uhr. Neun Uhr neunzehn. Seine Schwester war früh dran. Sie war sonst nie früh dran.

Jaycee in Outdoor-Kleidung war ein komischer Anblick. Normalerweise trug sie Springerstiefel und einen schwarzen Pullover vom Highschool-Orchester, heute aber hatte sie die nötigen Wanderklamotten an, inklusive einer Fleecejacke.

»Was stehen wir hier noch rum?«, fragte Jaycee. »Lasst uns loslegen.«

Arlo hätte es nett gefunden, wenn sie sich dem Rest des Trupps wenigstens vorgestellt hätte, vermutete aber, dass seine Schwester genauso nervös war wie er.

»Schreib noch eine letzte Nachricht an Mom«, sagte Arlo. »Aber stell keine Frage. Du willst nicht, dass sie antwortet.«

»Wie wäre es mit einem Katzen-Meme?«, schlug Wu vor. »Alle mögen Katzen-Memes.«

Jaycee hatte die Augen zu Schlitzen verengt und starrte Wu an. Arlo hatte diesen vernichtenden Blick seiner Schwester schon Tausende Male gespürt und wusste ihn zu ignorieren, konnte aber sehen, wie er Wu verunsicherte. Ihm wurde klar, dass er sich auf Spannungen zwischen Wu und seiner Schwester einstellen musste. Vor ihnen lag eine lange Reise.

»Ich schreibe ihr, dass ich mein Ladekabel nicht finden kann«, sagte Jaycee. »Wenn ich nicht antworte, wird sie denken, mein Akku ist leer.«

Arlo musste zugeben, dass dies ein ganz schön cleverer Plan war. Seine Schwester hatte offenbar Übung in so was. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Jaycee ihrer Mutter weisgemacht hatte, dass sie wegen eines Klassenprojekts bei einer Freundin schlafen würde.

Wie viele solcher Märchen hat Jaycee über die Jahre wohl schon erzählt?, fragte er sich. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er seiner Mom nicht die Wahrheit über dieses Wochenende gesagt hatte. Technisch gesehen, war es keine Lüge gewesen, beruhigte er sich. Der Blaue Trupp würde ja wirklich am Fluss zelten und die neuen Kocher ausprobieren. Nur würde Arlo Finch eben nicht dabei sein, genauso wenig wie Henry Wu. Wenn alles nach Plan lief, würden sie zusammen mit seiner Schwester stattdessen die halbe Welt umrunden.

Sobald Jaycees Nachricht verschickt und angekommen war, schaltete sie das Handy aus. Arlo, Wu und Jaycee schulterten ihre Rucksäcke und verabschiedeten sich vom Trupp.

»Vergesst nicht, euch zu melden, wenn ihr wieder da seid«, sagte Indra.

»Und vergesst nicht, am Leben zu bleiben«, fügte Julie hinzu.

Arlo sah Wu an. »Du weißt, dass du nicht mitkommen musst.« Obwohl Wu bei der Planung eine entscheidende Rolle gespielt hatte, ging es bei der Mission nicht um ihn. Arlo hätte es ihm nicht übel genommen, wäre er lieber in Pine Mountain geblieben.

»Glaubst du ernsthaft, ich würde mir das entgehen lassen?« Wu wies mit seinem Wanderstock in den Wald. »Los geht’s.«

Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten

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