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DIE STADT DER VERLORENEN DINGE


Die Long Woods führen überallhin. Das war eine der ersten Lektionen, die Arlo vor fast einem Jahr bei seiner Ankunft in Pine Mountain gelernt hatte.

Indra und Wu hatten ihm erklärt, dass die Long Woods nicht zur normalen Welt gehörten, sondern vielmehr an abertausend verschiedenen Orten rund um den Globus mit ihr verbunden waren. Arlo hatte erfahren, wie Connor und seine Cousine als Kinder in die Woods gelockt worden waren. Die Cousine – Rielle – war schließlich bei den geheimnisvollen Magus geblieben, während Connor Hunderte von Meilen entfernt in Kanada wieder aufgetaucht war. Die seltsame Geografie der Long Woods war der Grund, warum Entfernungen dort anders funktionierten. Man konnte nur ein paar Stunden wandern und dennoch am anderen Ende der Welt landen.

Das war es, worauf Arlo hoffte. Aber zuerst musste er herausfinden, wo genau es langging.

Als Arlo, Wu und Jaycee den Trupp am Flussufer zurückließen, stand ihm klar vor Augen, wohin sie sich zunächst wenden mussten: zur zerbrochenen Brücke. Von allen Orten, die er in den Woods besucht hatte, war dieser ihm der vertrauteste. Er hatte in diesem Sommer (und in einem anderen Sommer vor dreißig Jahren) viele Stunden dort verbracht.

Sie hatten sich den Zeltplatz in Old Pine Mountain unter anderem deshalb ausgesucht, weil er nur zehn Minuten entfernt von einem zuverlässigen Eingang in die Long Woods lag. Um dorthin zu gelangen, mussten sie zunächst einmal den Fluss überqueren – und ihn dann ein zweites Mal überqueren.

»Warum bleiben wir nicht einfach auf der einen Seite?«, fragte Jaycee. Sie schien genervt, weil ihre Wanderschuhe schon durchnässt waren.

»So funktioniert das nicht«, sagte Wu.

»Aber wir sind wieder da, wo wir losgelaufen sind!«

»Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Arlo. »Du musst mir einfach vertrauen.«

Obwohl die Long Woods überall waren, war es nicht leicht, sich in ihnen von A nach B zu bewegen. Orte in den Woods ließen sich nicht kartieren und ebenso wenig die Durchgänge, die hinein- und herausführten. Man musste sich von seinem Gefühl leiten lassen.

Ursprünglich hatte Arlo sich bei der Suche nach einem Weg auf die zarten Vibrationen seines Ranger-Kompasses verlassen, aber mit wachsender Erfahrung vertraute er auf seinen Instinkt. Arlo konnte sich, ganz egal, wo in den Long Woods er sich gerade befand, einen vertrauten Ort wie ihr Haus oder die Goldene Pfanne vorstellen und spüren, wo er war. Danach war es ein Leichtes, in diese Richtung zu gehen.

Nun ja, leicht für ihn. Tatsächlich war Arlos Gabe, Wege in den Long Woods zu finden und ihnen zu folgen, erstaunlich. Wie Rielle war er ein Tooble mit verschiedenfarbigen Augen und einem Geist, der in ihm gefangen war. Diese Doppelnatur machte es ihm möglich, sich wie kein anderer Ranger, den er kannte, in den Long Woods zurechtzufinden – abgesehen vom schurkischen Hadryn. Und Hadryn war nun ein Gefangener der Magus.

Vor ihnen ruhte ein gewaltiger Findling in der Sonne. Er sah aus wie ein steinerner, von Flechten überwucherter Wal. Arlo griff in einen Spalt auf Höhe seines Gesichts und zog sich, mit den Füßen nach Tritten suchend, an ihm hoch.

»Können wir nicht einfach drum herumgehen?«, fragte Jaycee.

»So funktioniert das n…« Wu brach im Satz ab, Jaycees Blick hatte ihn zum Schweigen gebracht.

Arlo verstand, warum Jaycee verwirrt und genervt war. Sie kam aus einer normalen Welt voller Orchesterauftritte und Standardtests. In den Long Woods machte nichts Sinn, bis man es mit eigenen Augen sah.

»Wir gehen hier hoch«, sagte er bloß.

Jaycee klemmte ihren Fuß in die Spalte und stemmte sich hoch. Arlo griff nach ihrer Hand und half ihr das letzte Stück. Als sie oben auf dem Findling standen, ließ seine Schwester ein leises Wow hören.

Wow traf es gut. Sie standen keineswegs auf einem Findling, sondern auf einem der herabgestürzten Steine unterhalb der zerbrochenen Brücke, eines riesigen Bauwerks, das sich zur Hälfte über einen steil abfallenden Abgrund erstreckte, den Arlo für bodenlos hielt.

Hinter ihnen kam Wu geklettert. Er war schon zuvor hier gewesen, doch der Anblick beeindruckte einen immer wieder neu.

»Du musst leise sprechen«, flüsterte Arlo Jaycee zu. »Unter der Brücke lebt ein Troll.«

»Und der ist nicht das einzige gefräßige Wesen hier«, sagte eine Stimme am Fuß des Steins. Sie sahen hinab und entdeckten einen kleinen Mann mit einem Zwirbelbart, der in einem Flecken Sonnenlicht saß und gerade den letzten Bissen Fleisch vom Kadaver eines frisch getöteten Vogels nagte.

Es war Fox.

»Dachte mir, ich sollte noch schnell was essen«, sagte er und leckte sich die Finger, »für den Fall, dass es das letzte Mal ist.«

Fox ging so schnell, dass sie Mühe hatten, ihm zu folgen – ihm und seinen komplizierten Sätzen, die immer irgendwo kehrtzumachen schienen.

»Nicht ein Geist in diesen Woods würde euch dorthin mitnehmen, wohin ich euch mitnehme, es sei denn, er würde auch mitgenommen«, sagte er. »Hier wimmelt es nur so von Fallenstellern, Händlern und Schlimmerem, was der Grund dafür ist, dass ich euch nur ein kleines bisschen zu weit mitnehme – aber nah genug, dass es für mich viel zu nah ist.«

Vor sechs Wochen, nachdem Jaycee von einem Besuch bei ihrem Vater zurückgekehrt war, hatte Arlo Fox gebeten, ihm zu helfen, einen Weg durch die Long Woods zu finden. Das Ziel: ein Wald mitten in Guangzhou, China.

Das war die Stadt, in der Arlos Vater die letzten Jahre gelebt hatte, nachdem ihn die Bundesbehörden wegen diverser Computerverbrechen angeklagt hatten und er aus den Vereinigten Staaten geflohen war. Jetzt war ihr Vater ein Flüchtling. Sollte er versuchen, per Flugzeug oder Schiff wieder ins Land zu kommen, würde er sofort verhaftet werden.

Aber Arlo vermutete, dass er seinen Vater durch die Long Woods schmuggeln konnte – immerhin waren die Long Woods überall. Das Problem bestand darin, dass Arlo noch nie in diesem Wald in Guangzhou gewesen war und deshalb keine Verbindung zu ihm hatte. Keine Verbindung, kein Gefühl. Kein Gefühl, kein Weg.

Fox hatte gesagt, dass auch er sie nicht nach Guangzhou bringen konnte – sein Wissen über die normale Welt war gering. »Aber ich kenne einen Ort, der alle Orte kennt. Ich höre, sie haben dort einen Atlas, der euch alle Wege weist, raus aus den Woods und rein.«

Das schien unmöglich. Arlo war sich sicher, dass die Long Woods nicht kartiert werden konnten. Fox wusste auch nicht, wie der Atlas funktionierte, war aber überzeugt, dass es ihn gab. »Irgendwie zeigt er den Fallenstellern und Händlern den richtigen Weg.«

Wenn es also einen Weg durch die Long Woods nach Guangzhou gab, dann war dieser Atlas ihre größte Hoffnung.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Wu, der ein bisschen aus der Puste war.

Fox blieb abrupt stehen, seine Nase zuckte. Dann warf er sich plötzlich flach auf den Boden und bedeutete ihnen, es ihm gleichzutun. Selbst in seiner menschlichen Gestalt bewegte Fox sich wie das Raubtier, das er in Wirklichkeit war.

Arlos Blick folgte Fox’ Zeigefinger zu den beiden Silhouetten in der Ferne, die sich parallel zu ihnen bewegten. Er sah zu Wu hinüber, der schon sein Fernglas hervorgeholt hatte.

»Es sind zwei Typen«, flüsterte Wu. »Jäger vielleicht?« Er gab Arlo das Fernglas.

Auf jeden Fall sahen sie menschlich aus – zwei stämmige Männer in Tarnfarben, jeder mit einem großen Rucksack. Sie unterhielten sich, waren aber zu weit entfernt, als dass Arlo sie hätte verstehen oder auch nur die Sprache hätte erkennen können, die sie benutzten.

»Sind das Fallensteller?«, raunte er Fox zu. Fallensteller fingen Waldgeister und verkauften sie für Gold und andere Schätze an die Magus.

»Wenn es Fallensteller wären, hätten sie Käfige bei sich«, flüsterte Fox. »Eher sind es Händler, die etwas schmuggeln – Drogen, Geld, Gold. Gefährliche Arbeit für gefährliche Männer. Der, den du Hadryn nennst, hat so was auch gemacht, da bin ich mir sicher. Wer das Risiko nicht scheut, kann damit ein Vermögen verdienen.«

Die zwei Männer waren mittlerweile fast außer Sichtweite. Arlo und seine Freunde waren unbemerkt geblieben. Sie krochen aus der Deckung und setzten ihren Weg fort.

»Sind wir eigentlich auch Schmuggler?«, fragte Wu. »Immerhin versuchen wir, euren Dad zurück ins Land zu schmuggeln.«

»Wir haben einen guten Grund«, sagte Arlo. »Das ist der Unterschied.«

Fox lächelte und schüttelte den Kopf. »Menschen! Immer sehen sie gute Gründe!«

Nach einer weiteren Wegstunde roch Arlo Rauch. Es war kein Lagerfeuer. Was der Wind herantrug, roch nach Öl und Schwefel, so wie der Dieselgenerator hinter Mitchs Garage.

»Wir sind dicht dran, oder?«, fragte Arlo Fox.

»Ich glaube«, sagte Fox. »An diesem Ort stellen sich mir die Haare auf. Als ich das letzte Mal hier war, war ich noch ein Welpe.«

»Du wurdest gefangen?«

Fox nickte. »Sie haben Eichhörnchen als Köder genommen. Die waren schon immer meine Schwäche.«

»Wie bist du entkommen?«, fragte Wu.

»Scharfe Zähne und fette Finger. Ich biss zu. Sie haben den Käfig fallen lassen. Er ging auf und ich bin gerannt. Hab mir geschworen, nie wieder herzukommen.«

Sie erreichten eine Anhöhe, fanden sich auf einem Felsvorsprung wieder und sahen die Quelle des Rauchs.

Im Tal zu ihren Füßen lag eine heruntergekommene Stadt, aus Hunderten Schloten stiegen Rauchsäulen auf. Diese Stadt war anders als alles, was Arlo bisher gesehen hatte, eine willkürliche Ansammlung von Häusern aus jeder erdenklichen Kultur und Epoche. Bröckelnde Pagoden lehnten sich gegen plumpe Backsteinhütten mit Dächern aus Wellblech. An einem gewaltigen schwarzen Obelisken vertäute Hanfseile stützten ein verschlissenes rot-weißes Zirkuszelt. Nicht weit vom Stadtzentrum stand ein komplettes Passagierflugzeug, dessen riesige Tragflächen zum Dach kleiner Gebäude umfunktioniert waren.

»Wo kommt das alles her?«, fragte Wu.

»Von überall«, sagte Fox. »Manchmal fallen Dinge durch die Risse in eurer Welt. Schlüssel und Socken, aber auch größere Sachen. Schiffe. Flugzeuge. Menschen. Bisweilen sind ganze Städte durchgerutscht. Und wenn das passiert, landen sie hier.«

Jaycee bückte sich und hob eine schwarze Fernbedienung auf. Sie war dreckig und feucht, wirkte aber einigermaßen modern. Die Dioden leuchteten noch, als sie die Tasten drückte. Arlo konnte sich vorstellen, wie der Eigentümer genervt zwischen den Sofakissen suchte, fest davon überzeugt, dass sie irgendwo sein musste.

Aber das war sie nicht. Sie war in den Long Woods.

»Das ist Fallbach«, sagte Fox. »Die Stadt der verlorenen Dinge.«

Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten

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