Читать книгу Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten - John August - Страница 14

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»Wir sind am falschen Ort!«, sagte Wu. »Das ist schlecht. Das ist echt schlecht.«

Er zog das ziegelsteinähnliche GPS-Gerät zurate, das er in seinem Rucksack mitgeschleppt hatte. Der Apparat war mindestens zwanzig Jahre alt. Wu hatte ihn am hintersten Ende eines Regals in der Garage seiner Eltern gefunden, die Batterien waren von einer salzigen Kruste überzogen. Im Gegensatz zu den Karten auf einem modernen Handy war es nicht auf eine Datenverbindung angewiesen, sodass es offline verwendet werden konnte.

Es war allerdings auch nicht selbsterklärend. Mit dabei war ein dickes Handbuch in winziger Schrift.

»Vielleicht benutzt du es nicht richtig«, sagte Arlo um Freundlichkeit bemüht.

Tatsächlich war Arlo sicher, dass Wu sich irrte. Dieser sonnige Fleck Wald war genau das, was Arlo im Atlas gesehen hatte. Jeder Baum und jeder Stein waren, wo sie sein sollten. Selbst das Vogelzwitschern stimmte. Es war aufregend – wie aus einem Traum zu erwachen und festzustellen, dass es gar kein Traum war.

Wu hielt Arlo den winzigen verpixelten Bildschirm hin. »Guck doch, wir sind hier.« Er zeigte auf einen blinkenden Punkt. »Und dort sollten wir sein.« Er zeigte auf ein rotes X.

»Wie weit ist das weg?«, fragte Jaycee. »Sind wir überhaupt in China?«

»Ja, wir sind nördlich von Guangzhou, aber es ist der falsche Park. Wir sind zehn Kilometer von der Stelle entfernt, an der wir sein wollten.«

Arlo musste ein Lachen unterdrücken. »Wir sind elftausend Kilometer unterwegs gewesen und du sorgst dich um zehn?«

»Wir hatten einen Plan! Wir wussten, welche Busse wir nehmen müssen. Ich weiß nicht, wie wir von hier zu dem Apartment eures Dads kommen.«

»Das finden wir raus«, sagte Arlo. »Wir kriegen das hin.«

Wu war nicht überzeugt. »Soll ich mein Handy einschalten? Damit können wir nach Karten und Wegbeschreibungen suchen.«

Sie alle kannten das Risiko. In dem Moment, in dem Wu oder Jaycee ihre Handys einschalteten, würden sie mit dem lokalen Netzwerk verbunden werden. Sie würden nicht mehr verbergen können, dass sie in China gewesen waren. Nur wenn sie offline blieben, konnten sie unentdeckt bleiben.

»Schalte dein Handy noch nicht ein«, sagte Arlo. »Es ist kein echter Notfall.«

Arlo Finch konnte ja nicht ahnen, dass er drei SMS bekommen hatte, die sehr wohl einen Notfall ankündigten. Zwanzig Minuten später fanden sie sich auf einem breiten Feldweg wieder, flankiert von hoch aufragenden Säulen aus grünem Bambus. Der Nachmittag war heiß und unglaublich schwül. Nach einem Jahr in Colorado war Arlo die erstickende Schwere hoher Luftfeuchtigkeit nicht mehr gewohnt. Die Rückseite seines T-Shirts war nass vor Schweiß.

»Wo lang?«, fragte er Wu. »Links oder rechts?«

Wu sah auf das GPS-Gerät. »Ich glaube, rechts? Ich bin mir nicht sicher.«

Dann hörte Arlo zwischen Wind und Vogelgezwitscher Stimmen. Jemand sang. Wu und Jaycee hörten es auch.

»Da«, sagte Jaycee und deutete auf den Weg. Eine Gruppe Fußgänger näherte sich, sie sang im Chor. Es waren Kinder – drei Mädchen und drei Jungen – und sie schienen zwischen zehn und vierzehn Jahre alt zu sein. Sie trugen Kaki-Uniformen und hellrote Halstücher.

»Ich glaube, das sind Ranger!«, sagte Wu.

Das schien ein gutes Omen zu sein. »Frag sie, wo wir sind«, sagte Arlo.

Sie erreichten die Gruppe mittwegs. Auf sich und Arlo deutend, sprach Wu das Mädchen, das die Truppführerin zu sein schien, in Mandarin an.

»Ranger!«, sagte sie mit einem breiten Lächeln. Der Trupp salutierte, Hand aufs Herz. Arlo und Wu salutierten ebenfalls.

Obwohl er kein Wort verstand, begriff Arlo das Wesentliche. Er beobachtete, wie die chinesischen Ranger Karten ausbreiteten und Routen besprachen. Ein Junge hielt Arlo seine Wasserflasche hin und fragte, ob er durstig sei.

»Kann ich meine auffüllen?«, fragte Arlo, indem er es pantomimisch darstellte. Der Junge nickte energisch. Der Trupp teilte außerdem seine Bohnenpastenbrötchen mit ihnen.

»Die sind gut«, sagte Jaycee. »Die habe ich schon mal gegessen.«

Wu erzählte, was er in Erfahrung gebracht hatte: »Mit dem Bus kommt man nur schlecht hin. Sie sagen, wir sollen ein Taxi nehmen.«

»Wie viel kostet das?«, fragte Jaycee. Sie hatten nur hundert Yuan dabei, in etwa zwanzig Dollar. Für den Bus wäre das reichlich gewesen, für mehr aber auch nicht.

Wu fragte den Trupp nach den Kosten für das Taxi. Die Antwort war wenig erfreulich. »Es wird uns alles kosten, was wir haben.«

»Das macht nichts«, sagte Arlo. »Wir haben keine Wahl.«

Nachdem sich alle die Hände gegeben hatten, setzten die chinesischen Ranger ihren Weg fort. Sie sangen das Lied von eben. Arlo beneidete sie um ihre nachmittägliche Wanderung. Er und der Blaue Trupp hatten seit langer Zeit keine Gelegenheit mehr gehabt, das zu tun, was Ranger normalerweise taten.

Nach einer Viertelstunde gelangten sie zu einem kleinen Hotel am Waldrand, vor dem ein einsames Taxi wartete. Der Fahrer rauchte im Schatten gerade eine Zigarette. Er war Ende vierzig und trug trotz der Hitze ein Hemd mit Kragen und eine schwarze Hose.

Nach einer kurzen Diskussion mit Wu drückte der Fahrer seine Zigarette aus und bedeutete ihnen, ins Taxi zu steigen. Als der Kleinste von ihnen nahm Arlo den Sitz in der Mitte und stellte den Rucksack auf seinen Schoß.

Jaycee beugte sich zu Wu hinüber und fragte: »Bist du dir sicher, dass er weiß, wo es langgeht?«

»Er schien zu wissen, in welchem Stadtteil es ist«, antwortete Wu. »Ich glaube nicht, dass er viel Mandarin spricht, aber wir haben es geklärt.« Wu hatte sie gewarnt, dass die Leute in diesem Teil des Landes hauptsächlich Kantonesisch sprachen, was sich sehr von der Sprache unterschied, mit der Wu aufgewachsen war.

Ein paar Kurven und sie verließen den Wald, die Straße führte nun talwärts. Arlo beugte sich zu seiner Schwester, um durch das Fenster einen ersten Blick auf Guangzhou zu erhaschen.

Er hatte noch nie eine Stadt solchen Ausmaßes gesehen. Wolkenkratzer wetteiferten um den Titel des höchsten Gebäudes, viele von ihnen einfache Vierecke aus Glas, manche aber waren auch auffällig geschwungen oder hatten kunstvolle Schrägen. Einer der Türme erinnerte ihn an das Geistermesser in seiner Tasche, einen dunklen Zylinder mit aufwendigen Verzierungen.

»Das ist doch verrückt, oder?«, sagte Jaycee. »Allein diese Stadt hat mehr Einwohner als die meisten Staaten der USA.«

Wu lehnte sich nach vorn, um dem Fahrer eine Frage zu stellen. »Er sagt, dass es eine Dreiviertelstunde dauert«, meldete er. »Wir müssen Geduld haben.«

Nachdem sie zwanzig Stunden in Bewegung gewesen waren, fühlte es sich seltsam an, einfach nur Passagier zu sein und sein Schicksal in die Hand eines anderen zu geben. Erschöpft, wie sie waren, fielen ihnen im steten Gebrumm des Wagens immer öfter die Augen zu.

Arlo rutschte plötzlich nach links und stieß gegen Wu. Das Taxi verließ eine Schnellstraße. Wann sind wir auf eine Schnellstraße abgebogen?, wunderte er sich. War er etwa eingeschlafen?

Wu und Jaycee schliefen tief und fest. Wu saß aufrecht, schnarchte aber – sein Markenzeichen – ziemlich laut. Arlo grinste. Jaycee lehnte mit dem Kopf an der Scheibe, ihr Mund stand halb offen.

Das Taxameter auf dem Armaturenbrett stand auf 86,95 Yuan und kletterte weiter. Arlo ertappte den Fahrer dabei, wie er ihn im Rückspiegel beobachtete. Es konnte bloße Neugierde sein, aber auch etwas Verdächtiges.

Arlo stupste Wu an, um ihn zu wecken. »Kannst du sagen, ob wir auf dem richtigen Weg sind?«, flüsterte er. Er deutete aus dem Fenster auf die Straßenschilder.

»Ich kann Chinesisch nicht lesen«, erinnerte ihn Wu. »Ich kann es nur sprechen.«

Wu sah auf das GPS-Gerät auf seinem Schoß. Da es nicht anging und er die Batterien überprüfen wollte, drehte er es um.

In der Zwischenzeit tippte Arlo Jaycee auf die Schulter – vorsichtig, weil er schon allzu oft Opfer ihrer schlechten Laune nach dem Aufwachen gewesen war. Zögernd hob sich ein Augenlid. Jaycee schaute ihn an.

»Glaubst du, dass wir hier richtig sind?«, fragte Arlo. »Kommt dir das bekannt vor?«

Jaycee richtete sich auf und schaute aus dem Fenster. An der Art, wie sie ihre Schultern hielt, sah Arlo, dass sie etwas wiedererkannte.

»Die Brücke! Die kenne ich!«, rief sie. »Wir sind ganz in der Nähe.«

Sie waren über einen Fluss auf eine Insel gelangt. Die Gebäude hier waren wesentlich niedriger – vielleicht sechs bis allenfalls zehn Stockwerke hoch. Inmitten der Autos und Lastwagen karrten dreirädrige Fahrräder verschnürte Bündel, die Fahrer hatten beim Strampeln das Handy am Ohr. Roller schossen über die Straßen zwischen den Häuserblocks. Ihre Fahrer machten ausgiebig Gebrauch von der Hupe.

Das Taxi wurde langsamer und bog dann auf eine viel schmalere Straße ab, winzige Läden zu beiden Seiten, quer über die Fahrbahn verliefen bündelweise elektrische Kabel. Es überraschte Arlo, dass hier nicht nur Chinesen zu sehen waren. Sein Blick fiel auf afrikanische Männer mit bunten Hemden und indische Frauen in Saris. Einige der handgemalten Schilder waren auf Englisch: T-SHIRTS! LADEGERÄTE! BESTER PREIS!

Plötzlich packte Jaycee Wus Arm. »Sag ihm, dass er halten soll. Ich weiß, wo wir sind!«

Nachdem sie dem Fahrer die ganzen hundert Yuan gezahlt hatten, schlängelten die drei sich durch ein schwindelerregendes Labyrinth aus schmalen Straßen und Gassen. Jaycee schien genau zu wissen, wohin sie gingen. Sie kamen an verräucherten Grillbuden, Handy-Reparatur-Ständen und Metzgereien vorbei, in denen man die Kadaver von Schweinen an den Hufen aufgehängt hatte.

Ihr Weg endete am Fuß eines sechsstöckigen Zylinderblockbaus. Die Stahltür war grün angestrichen. Jaycee drückte auf eine der bestimmt vierzig Klingeln neben der Tür. Es summte.

Und dann warteten sie. Aus fünf Sekunden wurden zehn Sekunden, Wu stellte die naheliegende Frage zuerst …

»Was, wenn er nicht zu Hause ist?«

In all den Wochen des Pläneschmiedens hatten sie sich auf diese Möglichkeit nicht vorbereitet. Sie hatten angenommen, Clark Finch sei in seinem Apartment, wo sonst sollte er denn auch sein? Er war ein arbeitsloser Flüchtling in China.

Jaycee klingelte noch einmal.

»Bist du dir sicher, dass es die richtige ist?«, fragte Arlo. »Die sehen nämlich alle gleich aus.« Auf keinem der Klingelschilder stand Finch.

Verärgert – vielleicht auch an sich zweifelnd – drückte Jaycee die Klingeln über und unter der ersten. Immer noch keine Reaktion.

»Wir könnten ihn anrufen«, sagte Wu. »Ich meine, ich weiß ja nicht, wie lange wir noch warten können. Es ist schon halb zwölf. Wir sind weit hinter der Zeit.«

Jaycee gab ihm recht. »Ich rufe am besten von meinem Handy aus an. Er wird die Nummer erkennen.« Sie öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks und kramte ihr Handy heraus.

Arlo unterbrach sie, als sie es gerade anschalten wollte.

»Warte«, sagte er. »Noch einen Moment.«

»Warum?«

Er konnte es nicht erklären, zumindest nicht auf vernünftige Art und Weise. Vielleicht war es die Erschöpfung. Vielleicht war es die Reizüberflutung aufgrund der vielen Farben und Menschen und Gerüche. Aber Arlo war überzeugt, dass es ein Fehler war, das Handy anzuschalten. Ein Eingeständnis. Ein Verrat.

Nachdem sie den ganzen langen Weg nach China gegangen waren, den ganzen Weg bis zum Apartment ihres Dads, fühlte es sich wie Betrug an, sich auf den letzten Metern auf die moderne Technik zu verlassen. Es war, als würde man bei einem Marathon mit dem Auto über die Ziellinie fahren. Es war wie aufgeben. Wie kapitulieren.

Sechs Wochen lang – drei Jahre lang – hatte Arlo Finch gehofft, dass er wieder mit seinem Vater vereint werden würde. Er hatte sogar eine ganz genaue Vorstellung von ihrem Wiedersehen gehabt. Ihr Dad machte die Tür auf und sah seine Tochter und seinen Sohn und sagte überrascht …

»Jaycee? Arlo?«

Moment. Diese Stimme war real.

Sie drehten sich um und sahen ihren Vater mitten auf der Straße stehen.

Clark Finch trug Cargo-Shorts, Sandalen und ein graues T-Shirt. Er hatte eine Tüte mit Lebensmitteln im Arm. Er war kleiner, als Arlo ihn in Erinnerung hatte, und dünner – die Art von Details, die man bei einem Videoanruf nicht sieht. Jaycee ließ ihren Rucksack fallen und hüpfte auf ihn zu.

Arlo hatte gar nicht gemerkt, dass seine Füße sich bewegten, kam aber trotzdem bei den beiden an. Jaycee machte Platz, sein Vater hob ihn hoch und umarmte ihn fest. Arlo erkannte seine knochigen Schultern wieder, das Kratzen seines Barts, den Geruch seiner Haut.

»Was macht ihr hier?«, flüsterte ihr Vater.

»Wir sind gekommen, um dich nach Hause zu holen.«

Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten

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