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DIE EULE UND DIE SCHLANGE


Wo findet man einen Atlas? Es war wie eines dieser sich um sich selbst drehenden Rätsel von Dad, so als würde man Wörterbuch in einem Wörterbuch nachschlagen.

Fox’ Quellen zufolge war der Atlas irgendwo in Fallbach. Darüber hinaus wusste Fox nur zu berichten, dass der Atlas angeblich von einer Eule und einer Schlange bewacht wurde. Aber handelte es sich dabei um Eule und Schlange im eigentlichen Sinn oder war damit eine Art Geist gemeint? Fox war sich nicht sicher.

»Vielleicht ist es eine Chimäre«, sagte Wu. »Ein Wesen, das halb Eule und halb Schlange ist.« Das brachte ihn auf eine Idee. »Die fressen beide Ratten, vielleicht können wir ihr also eine zu fressen geben und so an ihr vorbeikommen. Eine Ratte treiben wir schon irgendwo auf, wetten?«

Jaycee fehlte die Geduld für Wus Ideen. »Was redest du da? Wir fragen einfach. Irgendjemand wird schon wissen, wo er ist.«

»Und was, wenn sie es uns nicht verraten wollen?«, fragte Arlo.

Jaycee zuckte mit den Schultern. »Darum kümmern wir uns dann. Wir können nicht einfach rumstehen und uns über Sachen den Kopf zerbrechen, die noch gar nicht passiert sind.« Mit diesen Worten marschierte sie den Hügel hinab in Richtung Fallbach.

Bei der Planung dieser Expedition hatte sich Arlo gefragt, wie Jaycee wohl mit den Herausforderungen der Long Woods umgehen würde. Würden die Woods sie überwältigen? Würde sie durchhalten? Dabei hatte er nicht bedacht, wie gut seine Schwester auf solche Situationen vorbereitet war. Wie er war sie immer die Neue in der Schule gewesen, hatte sich immer schnell auf neue Regeln eingestellt. Sie war vielleicht noch nie in diesem verzauberten Wald gewesen, aber sie hatte sich in Philadelphia und Chicago zurechtgefunden. Sie war alleine nach China geflogen. Sie hatte mehr von der richtigen Welt gesehen als Arlo.

»Sie hat recht«, sagte Arlo zu Wu. »Das sehen wir dann.«

Arlo und Wu bedankten sich bei Fox und folgten dann Jaycee den Weg hinab in die Stadt. Als Arlo sich umdrehte, war Fox schon verschwunden.

Fallbachs Hauptstraße war nicht mehr als ein schmaler Streifen Matsch. Wackelige Häuser mit zwei oder drei Stockwerken beugten sich über die Straße, da und dort von Bohlenbrücken miteinander verbunden. Elektrische Kabel führten zu quietschenden Windrädern und zu mit Klebeband zusammengehaltenen Sonnenkollektoren auf den Dächern. Beidseits der Straße standen Karren und Tische, auf denen sich Essen, Waffen und Fundgut türmten. Arlo sah mechanische Schreibmaschinen, Eisenkreuze, Spanferkel, Zaubertrankgläser, mittelalterliche Lauten, ein Rechenbrett, Puppen, Handkreisel und ein Videospiel von Atari: E.T. – Das Spiel.

Die Anbieter und Käufer sahen allesamt menschlich aus, sämtliche Ethnien waren vertreten. Viele hatten Tiere bei sich: Hunde, Hühner, zweiköpfige Eidechsen an Leinen. Der größte Teil der Feilscherei fand auf Englisch statt, aber die Akzente ließen darauf schließen, dass nicht alle Muttersprachler waren.

»Wohnen diese Menschen hier?«, fragte Wu.

»Einige schon, denke ich«, sagte Arlo. Mithilfe der wenigen auffindbaren Schriftstücke über die Long Woods hatte er zwischen den Longborns – Leuten, die in den Long Woods geboren waren – und jenen unterscheiden gelernt, die erst später im Leben hergekommen waren, den Streichern. Fallbach war offensichtlich die einzige dauerhafte Niederlassung in den Long Woods, sodass es zu einem Zentrum für den Handel geworden war – dem legalen und dem anderen.

Allmählich wurde das Gedränge so groß, dass Arlo kaum noch seine Wanderschuhe sehen konnte.

»Hütet euch vor Taschendieben«, warnte Jaycee.

Arlo spürte, dass etwas an seinem Rucksack zerrte. Er wirbelte herum und sah eine weißhaarige Frau mit braunen Zähnen, die in neun Richtungen zeigten. Sie stürzte sich auf ihn und schnupperte an seiner Jacke.

»Du bist in der Nähe eines Geists gewesen!«, zischte sie. »Einem mit Pelz. Ich kann ihn an dir riechen.« Ihre Augen hatten unterschiedliche Farben, Grün und Braun, so wie seine. Sie ist auch ein Tooble, wurde Arlo klar.

Jaycee drängte sich zwischen sie. »Hau ab! Weg!«

Das alte Weib wich nicht zurück. »An dir ist er auch. Immer noch warm! Muss ganz nah sein. Wo ist er?«

Arlo sah schnell die Straße entlang zur Anhöhe hinauf, wo sie Fox zurückgelassen hatten. Die alte Frau folgte seinem Blick. Sie lächelte und pfiff dann durch die Zähne. Plötzlich waren zwei jüngere Frauen in schmuddeligen Kapuzenpullis bei ihr. Ihre Töchter?, fragte sich Arlo.

»Holt eure Käfige, Mädchen. Es gibt Beute.« Damit bahnten sich die drei Frauen ihren Weg durch die Menge aus der Stadt.

»Sollen wir Fox warnen?«, fragte Wu.

»Er hat gesagt, dass er nicht bleiben würde«, antwortete Arlo. »Er kommt klar.« Arlo sagte das mit einer Zuversicht, die er eigentlich nicht hatte. »Kommt schon. Wir müssen die Eule und die Schlange finden.«

»Ich kann euch hinbringen«, erklang es hinter ihnen mit schwacher Stimme. »Die Eule und die Schlange. Ich bringe euch hin.«

Die Stimme gehörte zu einem jungen Mädchen, das so winzig war, dass Arlo es zuerst gar nicht bemerkt hatte. Sie konnte nicht älter als fünf sein. Sie trug einen Schlafanzug mit Zeichentrickautos, rosafarbene Regenstiefel und eine Strickmütze der Cleveland Browns, die den größten Teil ihres glatten schwarzen Haares bedeckte.

»Du weißt, wo sie sind?«, fragte Arlo. »Die Eule und die Schlange?«

Bevor das Mädchen antworten konnte, fragte Wu: »Ist es eine Chimäre? Halb Eule und halb Schlange?«

Das Mädchen wirkte auf einmal verwirrt.

»Hör zu«, sagte Jaycee. »Du kriegst von uns einen Schokoriegel, wenn du uns zu ihnen bringst.« Die Augen des Mädchens leuchteten.

»Es ist mehr ein Protein- als ein Schokoriegel«, sagte Wu.


Jaycee warf ihm einen wütenden Blick zu und er fuhr eilig fort: »Aber sie sind gut. Sie schmecken echt wie Schokoriegel.«

Arlo richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf das Mädchen. »Kannst du uns zu der Eule und der Schlange bringen?«

Das Mädchen griff nach Arlos Hand und zog ihn voran. Sie war flink und schlängelte sich mühelos durch die Menge. Arlo sah sich mehrere Male um, um sicherzugehen, dass Jaycee und Wu auch Schritt hielten.

Sie verließen die Hauptstraße und tauchten in eine schmale Gasse ein. Es roch nach Kochfett und der Rauch brannte in seinen Augen. Plötzlich hielt das Mädchen vor einer schief in den Angeln hängenden Tür. Sie waren keine fünfzig Meter weit gegangen.

»Hier«, sagte sie und deutete auf die Tür.

»Hier wohnen die Eule und die Schlange?«, fragte Arlo. »Dadrin finden wir sie?«

Das konnte nicht stimmen. Selbst für Fallbach-Verhältnisse sah das Gebäude heruntergekommen aus. Ein stark tätowierter Mann mit Erbrochenem im Bart lehnte bewusstlos an der Wand, neben ihm lagen menschliche Zähne im Dreck. Hinter der Tür hörte Arlo Musik und Männer randalieren und streiten.

Er hatte erwartet, die Eule und die Schlange in einer Art Kultstätte oder Tempel oder einer geheimnisvollen Bibliothek zu finden, aber doch nicht in einer Hinterwäldlerkneipe. Als Wu und Jaycee aufgeschlossen hatten, teilte Arlo ihnen die schlechte Nachricht mit: »Ich fürchte, sie weiß nicht, was sie tut.«

»Das weiß sie sehr gut«, sagte Jaycee. Sie deutete auf ein handgemaltes Schild über der Tür:

DIE EULE UND DIE SCHLANGE

Keine Tiere oder Geister, dachte Arlo. Es ist der Name eines Orts.

Jaycee händigte den Energieriegel aus. Arlo erwartete, dass das Mädchen gleich die Verpackung aufreißen und ihn runterschlingen würde, doch stattdessen steckte sie ihn unter ihre Mütze. Dann schob sie die Tür auf und trat ein.

Arlo, Jaycee und Wu beugten sich ein Stück vor, um einen kurzen Blick zu erhaschen, bevor die Tür wieder zufiel. Es war definitiv eine Kneipe, komplett mit Zapfhähnen, Neonreklame und Sägemehl auf dem Boden. Eine Jukebox spielte die Art Country Rock, die Mitch, der Mechaniker, mochte.

»Warum sollte der Atlas in einer Kneipe sein?«, fragte Wu.

»Lasst es uns rausfinden«, sagte Jaycee und schob sich an ihnen vorbei. Arlo und Wu tauschten einen Blick und folgten ihr.

Obwohl es noch nicht einmal Mittagszeit war, hatten die Gäste der Eule und der Schlange offenbar schon seit Stunden getrunken und gespielt. Statt Geld oder Pokerchips schien ihr Einsatz etwas Wertvolleres zu sein: Geister. Arlo erkannte die laternengroßen Geräte wieder, die er die Magus hatte verwenden sehen, als sie über Sommerland hereingebrochen waren.

»Das sind Fallensteller«, flüsterte er Wu zu. »Diese Dinger da sind Käfige.«

Ein Mann zeigte seine Karten, offensichtlich hatte er mit seinem Blatt gewonnen. Als er seinen Gewinn einsammelte, stieß sein Gegenüber plötzlich den Tisch um. Arlo, Wu und Jaycee drückten sich gegen die Wand. Es kam zu einem handfesten Kampf, in den nicht nur die beiden Männer verwickelt waren, sondern die Hälfte der Kundschaft.

»Ihr da!«, brüllte eine weibliche Stimme durch den Laden. Arlo sah hinüber und bemerkte eine asiatische Frau in den Vierzigern, die eine Lederhose und eine militärgrüne Leinenjacke trug. Sie stand bei dem kleinen Mädchen und hielt den Energieriegel in der Hand. »Warum gebt ihr meinem Kind Süßigkeiten?«

Ohne die Kämpfenden groß zu beachten, kam sie auf sie zu. Als ein stämmiger Mann ihr vor die Füße stolperte, wirbelte sie ihn geschickt herum und schickte ihn zurück ins Handgemenge. Dann wandte sie sich wieder dem Trio zu.

»Eigentlich ist das ein Energieriegel«, sagte Wu.

Die Frau hatte sich unmittelbar vor ihnen aufgebaut. In ihren hochhackigen Stiefeln war sie kaum größer als Arlo, dafür unglaublich einschüchternd. »Meine Tochter hat eine Sojaallergie.«

»Habe ich auch«, sagte Arlo. »Da ist kein Soja drin. Sie können die Inhaltsstoffe überprüfen.«

Die Frau sah Arlo eindringlich an. So wie seine waren auch ihre Augen verschiedenfarbig: Das eine war blau, das andere braun. Dann prüfte sie den Energieriegel und fand die Liste mit den Inhaltsstoffen. Einer der betrunkenen Kämpfer knallte gegen die Jukebox. Sie zersplitterte und sprühte Funken. Die Musik hörte zu spielen auf. Jetzt schien der Frau der Geduldsfaden zu reißen.

»Genug!«, schrie sie. Dann wirbelte sie mit einem ausgestreckten Finger über ihrem Kopf herum. Mit einem Mal kam ein gewaltiger Wind in der Kneipe auf und hob alle Unruhestifter vom Boden. Die Tür öffnete sich und ein Raufbold nach dem anderen flog auf die Straße hinaus. Als der letzte aus der Tür war, ließ die Frau ihre Hand sinken. Der Wind flaute ab. In der Kneipe herrschte plötzlich eine gespenstische Stille.

Die Frau warf dem kleinen Mädchen, das auf der anderen Seite des Raumes gewartet hatte, den Energieriegel zu. Sie sagte etwas auf Chinesisch zu ihr. Arlo riet, es könnte eine Hälfte jetzt, eine nach dem Abendessen heißen.

Die Frau begutachtete den in der Kneipe angerichteten Schaden. Neben der zerstörten Jukebox waren Tische und Stühle umgestürzt, überall lagen zertrümmerte Bierkrüge.

»Sollen wir Ihnen beim Aufräumen helfen?«, fragte Arlo, der hoffte, sich so vielleicht beliebt machen zu können.

»Nein«, sagte sie abweisend. »Das passiert ständig.« Die Frau klopfte dreimal auf den Tresen. Arlo sah, wie die Tische und Stühle in Bewegung gerieten und sich selbst wieder aufzustellen begannen wie Tiere, die sich nach einem Sturz wieder erhoben. Unsichtbare Hände kehrten die Scherben der zerbrochenen Bierkrüge zusammen und die setzten sich mitten in der Luft einfach wieder zusammen. Dann schwebten die wiederhergestellten Krüge in ein Regal hinter dem Tresen und stellten sich ordentlich in einer Reihe auf. In weniger als dreißig Sekunden sah die Kneipe im Großen und Ganzen wieder aus wie zuvor.

Selbst Jaycee war beeindruckt von dieser Vorstellung praktischer Magie. »Kannst du das?«, fragte sie Arlo.

Arlo konnte es nicht, war sich aber ziemlich sicher, dass er wusste, was dahintersteckte. »Ist an alles ein Geist gebunden?«

»Nicht an alles«, antwortete die Frau und deutete auf die Jukebox. »Das wird ein ganz schöner Aufwand, das zu reparieren. Vielleicht muss ich sie ersetzen.« Dann sah sie Arlo neugierig an. »Ich bin Zhang. Wie heißt du?«

Vom ersten Planungsstadium an war im Trupp darüber diskutiert worden, ob Arlo seinen richtigen Namen verwenden sollte. Gut möglich, dass Hadryn und andere ihn erwähnt hatten. Du weißt nicht, wem du trauen kannst, hatte Indra gewarnt.

»Daniel«, sagte Arlo also. (Tatsächlich war Daniel sein zweiter Vorname.)

»Was bist du für einer, Daniel?«, fragte Zhang. »Du bist ein Tooble, aber eindeutig kein Longborn.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil dich Dinge verwundern, die du sonst schon dein ganzes Leben kennen würdest. Ihr seid ganz offensichtlich Touristen.«

Jaycee verlor die Geduld. »Wir suchen einen Atlas.«

Zhang gab vor, überrascht zu sein. »Und warum glaubt ihr, dass hier ein Atlas ist?«

»Ein Freund hat gesagt, dass Sie einen haben«, sagte Wu.

»Hat euer Freund auch gesagt, wie teuer es ist, den Atlas zu benutzen? Die Gebühr für Neulinge beträgt fünfzigtausend Dollar in bar.«

»Wir haben kein Geld«, sagte Arlo.

»Dann haben wir nichts weiter zu besprechen.« Zhang hakte einen Lappen von ihrem Gürtel und begann, die Tische zu wischen.

»Wir haben etwas, das besser ist als Geld«, sagte Wu.

»Sag nicht Bitcoin.«

Arlo nahm seinen Rucksack ab. »Es ist eine Hochschuppe. Eine große.«

Das weckte ihre Aufmerksamkeit. »Echt? Lass mal sehen.«

Arlo öffnete den Reißverschluss des Rucksacks und holte umständlich die mit Klebeband umwickelte Bowlingkugel hervor. Obwohl massiv, war sie bemerkenswert leicht, so als würde es sich lediglich um eine Plastikschale handeln. Arlo konnte sie locker mit einer Hand halten, während er das Klebeband abzog und den Rand einer glitzernden goldroten Coatl-Schuppe offenbarte. Sie riss am Klebeband und strebte unerbittlich nach oben.

Er zog noch ein bisschen mehr ab. Plötzlich stürzte die Kugel jäh zu Boden und verfehlte nur knapp Arlos Füße. Da Arlo immer noch das eine Ende des Klebebandes in der Hand hielt, wurde ihm fast der Arm ausgerissen, als die Schuppe nach oben schoss. Hochschuppen waren wie Heliumballons, nur viel stärker. Ihretwegen konnten Coatls fliegen.

»Wo habt ihr sie gefunden?«, fragte Zhang.

Fox hatte Arlo und dem Blauen Trupp die Richtung gewiesen, aber der Beschaffung der Coatl-Schuppe war eine anstrengende Wanderung durch die Long Woods vorausgegangen, bis zu einer Höhle auf halber Höhe eines zerklüfteten Berggipfels. Drinnen hatte es Stunden gebraucht, die Schuppe vom Dach der Höhle zu bergen, wobei Arlo auf eine menschliche Pyramide geklettert war. Nur ein paar Sekunden, bevor die riesige fliegende Schlange zurückgekehrt war, hatten sie das Coatl-Nest verlassen.

Arlo wollte nicht, dass Zhang davon erfuhr. »In einer Höhle«, sagte er bloß.

»Also, können wir den Atlas sehen?«, fragte Jaycee.

Zhang griff nach der Schuppe und bewunderte ihr perlmuttartiges Schillern. Anhand ihrer Reaktion war klar, dass die Hochschuppe mehr als die fünfzigtausend Dollar wert war, die sie gefordert hatte.

»Wir sind im Geschäft.«

Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten

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